Literatur: Gefangen in der eigenen Lüge

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In Ayelet Gundar-Goshens neuem Roman setzt ein unüberlegtes Ja der siebzehnjährigen Nuphar eine Dynamik in Gang, die sie selbst nicht mehr stoppen kann.

Die Autorin Ayelet Gundar-Goshen verwischt in ihrem neuen Buch «Lügnerin» die Grenze zwischen Gut und Böse bis ins Unkenntliche. Foto: Katharina Lüscher

Nuphar Schalev ist ein unscheinbarer Teenager. Die siebzehnjährige Protagonistin von Ayelet Gundar-Goshens neuem Roman «Lügnerin» ist eine Aussenseiterin, die sich danach sehnt, wahrgenommen zu werden, aber nur auf Desinteresse stösst. Dies wird ihr umso mehr bewusst, als sie einen Sommer lang in einer Eisdiele in Tel Aviv arbeitet und ihre MitschülerInnen sie dort behandeln, als wäre sie eine unbedeutende Fremde. Doch ein Ereignis im Hinterhof ebendieser Eisdiele katapultiert Nuphar blitzschnell ins Zentrum der nationalen Aufmerksamkeit: «Versuchte Vergewaltigung einer Minderjährigen – Ex-Star verdächtigt» – unter dieser Schlagzeile berichten israelische Medien am Folgetag über den Vorfall, der Nuphars Leben von Grund auf verändern wird.

Dabei ist eigentlich etwas anderes passiert zwischen Nuphar und einem ihrer Kunden, dem früheren Filmstar Avischai Milner, der mindestens ebenso sehr nach Aufmerksamkeit dürstet wie die Protagonistin: Sie bedient ihn nicht sofort, er beschimpft sie, sie rennt in den Hinterhof, er folgt ihr, sie schreit. Und plötzlich ist sie umringt von Leuten, die ihr Fragen stellen, sie aufmuntern, sie in den Arm nehmen. Instinktiv entscheidet Nuphar sich für ein Nicken, als sie gefragt wird, ob Milner, der sie in der Eisdiele gnadenlos beleidigte, begrapscht habe. Von diesem Zeitpunkt an hält sie an dieser Lüge fest und erhält im Austausch für ihre Gewissensbisse endlich die Zuwendung, deren sie so lange entbehrte.

Innere Erdbeben

Doch immer wieder bricht die Lüge fast aus ihr heraus. Einmal macht sie der Kommissarin, die ihren Fall untersucht, ein stummes Geständnis. Gegenüber einem Jungen aus dem Hinterhof, der die ganze Szene beobachtet hat, räumt sie unter Tränen ein: «Ich muss es erzählen, aber ich bringe es nicht fertig.» Dann wieder ändert sie in ihrem Tagebuch Passagen ab, die auf ihre Lüge hinweisen könnten – letztlich wäre die Schmach für Nuphar zu gross, wenn durchsickern würde, was damals wirklich geschah. Gundar-Goshen zeichnet ein detailliertes Porträt ihrer jugendlichen Protagonistin, die zwischen Zufriedenheit und Angst, zwischen einer Lust an der Macht, die aus ihrer Lüge entsteht, und Selbstzweifeln schwankt. Das feine Gespür für Nuphars innere Erdbeben resultiert wohl nicht zuletzt aus der zweiten Tätigkeit der bekannten israelischen Schriftstellerin: Gundar-Goshen ist praktizierende Psychologin.

Neben dem Jungen aus dem Hinterhof zweifeln auch andere Figuren Nuphars Version der Geschichte an – und auch deren innerer Zwiespalt wird überzeugend geschildert. Da ist etwa die skeptische Mutter, die im Tagebuch der Tochter nach Hinweisen sucht, sich aber gleichzeitig schützend vor ihre Tochter stellen möchte; oder die eifersüchtige jüngere Schwester, die den Platz im Rampenlicht räumen muss, Nuphar aber trotzdem in tiefer Zuneigung verbunden bleibt. Die zahlreichen Momente, in denen die Lüge fast aufgedeckt wird, lassen Spannung entstehen und konfrontieren die Leserin unweigerlich mit der Frage, wie man selber handeln würde, wäre man in derselben Situation.

Moralische Dilemmas

Mit ihrem Roman formuliert Gundar-Goshen auch eine Gesellschaftskritik: Wie soll eine junge Frau ihren Platz in der Gemeinschaft finden, wenn sie – wie die Protagonistin selbst konstatiert – weder besonders hübsch aussieht, noch überragende schulische Erfolge vorweisen kann, noch mit anderen Qualitäten die Beachtung und Wertschätzung ihres Umfelds zu gewinnen vermag? Gewalterfahrungen provozieren dagegen fast automatisch wenn schon nicht echte Anerkennung, so doch zumindest Mitleid. Gundar-Goshen suchte als Mädchen selbst mit zweifelhaften Mitteln nach Akzeptanz: Umgeben von Nachkommen von Schoahüberlebenden erfand sie sich eine Grossmutter mit Auschwitzvergangenheit, obwohl alle ihre Vorfahren rechtzeitig nach Israel ausgewandert waren und so der Vernichtung entkamen.

Es ist nicht der erste Roman von Gundar-Goshen, bei dem eine Lüge im Mittelpunkt steht. Auch ihr vorheriges Buch, «Löwen wecken», beginnt mit einer Lüge und dreht sich um das Leiden an dieser: um die innere Zerrissenheit aufgrund der Frage, ob sie eingestanden werden soll oder nicht. Gundar-Goshen katapultiert ihre ProtagonistInnen in Grenzsituationen und zeichnet dann akribisch ihre Verhaltensweisen und Gefühle auf. Das gekonnte Aufzeigen moralischer Dilemmas verhindert, dass wir die LügnerInnen allzu leichtfertig verurteilen. In ihrem neuen Roman beweist Gundar-Goshen einmal mehr ihre bestechende Fähigkeit, die Grenze zwischen Gut und Böse bis ins Unkenntliche zu verwischen und so den LeserInnen eine Offenheit gegenüber menschlichen Makeln mitzugeben.

Leider geht «Lügnerin» der starke Vorwärtsdrang von «Löwen wecken» ab, Gundar-Goshen bleibt weitgehend im Erzählstrang rund um Nuphars Lüge stecken. Zudem krankt ihre grundsätzlich stilvolle Sprache mitunter an überladenen Metaphern. Doch im Grossen und Ganzen überzeugt sie einmal mehr mit ihrer Fähigkeit, in die tiefsten Schichten der menschlichen Psyche vorzudringen.

Ayelet Gundar-Goshen: Lügnerin. Aus dem Hebräischen von Helene Seidler. Kein & Aber. Zürich 2017. 352 Seiten. 27 Franken