Von oben herab: Helvetia will nicht

Nr. 1 –

Stefan Gärtner zum EU-Gejammer

Mich interessiert ja so gut wie alles an der Schweiz: wie sie riecht und schmeckt, wie sie spricht, isst und tönt. Das womöglich Einzige, was mich überhaupt nicht kümmert, ist ihr (und wie von selbst setzen sich hier die Gänsefüsschen) «Verhältnis zur EU».

Denn das will sie freilich nicht haben, einerseits. Andererseits will sie aber auch nicht darunter leiden, keines zu haben. Deswegen müssen alle naslang irgendwelche Spezialabkommen ausgehandelt werden, für Marktzugänge und gegen technische Hemmnisse, und wenn es dann einmal «Verstimmungen» gibt, denkt sich Brüssel sofort «Zollschikanen» aus oder sistiert «das Forschungsprogramm Horizon 2020 nach dem Ja zur Zuwanderungsinitiative» (tagesanzeiger.ch). Gerade geht es wieder um irgendwas Hochnotwichtiges, Börse oder was, und schon ist Zirkus und Tamtam, und alles nur, damit die Leitartikel voll werden: «Diese Talfahrt ist rasant. Eben noch schien das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU nach Jahren der Verstimmung normalisiert. Und nun das. Bundespräsidentin Doris Leuthard wirft der EU ‹inakzeptable Diskriminierung› vor. Aus Brüssel wiederum vernimmt man, die EU sei mit ihrer Geduld am Ende. Jedenfalls ist die beim Besuch von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im November gespielte Harmonie dahin» usw. usw. Irgendwer hat irgendwen noch als aussenpolitischen «Praktikanten» beschimpft, und da ist dann meine Geduld am Ende.

Denn abseits der spezifisch helvetischen Bergvolksfolklore gibt es doch überhaupt keinen Grund mehr, sich der Europäischen Union zu verweigern. Die Europafeinde Polen, Tschechien und Ungarn sind ja auch drin und machen, was sie wollen, sparen sich aber die Streitereien um Hemmnisse, Zugänge und Börsenäquivalenzen. Sogar ausländerfeindlich dürfen sie sein in einem Masse, das selbst die Schweiz wie einen Schmelztiegel wirken lässt, und wegen so etwas Läppischem wie einer erfolgreichen Zuwanderungsinitiative würde kein Forschungsprogramm mehr sistiert, weil es nämlich ein binneneuropäisches wäre und die innerfamiliären Strafen erstens kodifiziert sind und zweitens so lange brauchen, dass sie schliesslich ausbleiben.

Es mag ja sein, dass dieses deutschregierte Konzerneuropa nicht das allersympathischste ist. Aber auch die wunderbar freie Schweiz ist ja bloss eine, die, sub specie der blöden Verhältnisse, Geld verdienen und also mittun muss. Nicht dabei sein wollen, doch dabei sein müssen: Heraus kommt Gequengel. «Diskriminierung!», ruft die so schöne wie spröde Helvetia, wenn der Türsteher «Nur für Mitglieder» sagt, obwohl der Club, vor dem beide stehen, ein so hübsches, solventes Ding tausendmal lieber aufnähme als die Gestalten aus dem osteuropäisch-balkanischen Zwielicht. Ohne deren Kärrner- und Konsumdienste liefe der Laden zwar viel schlechter, aber die Damen und Herren kommen nun einmal aus einem Kulturkreis, der von Mitteleuropa noch etwas weiter entfernt ist als selbst das Emmental. Doch Helvetia will in keinen Club, sondern lieber begehrt und nicht zu kriegen sein, es sei denn ausnahmsweise.

Ich bin ja selbst kein Vereinsmeier und kann das alles verstehen, wie Woody Allens Maxime immer war, keinem Club angehören zu wollen, der einen als Mitglied aufnähme. Dann aber doch, bitte sehr, das Greinen lassen. Die britische Vorstellung ist schon würdelos genug, und diese Leitartikel-Talfahrten braucht auch im neuen Jahr kein Mensch.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.