Unia: Der ungemütliche Angeschuldigte

Nr. 2 –

Der Unia droht erneut Ungemach: Nach einem Korruptionsfall entliess sie zwei Angestellte fristlos – trotz Unschuldsvermutung. Nun wirft einer der beiden der Gewerkschaft vor, sie habe Persönlichkeitsrechte verletzt. Die Unia erachtet ihr Vorgehen als korrekt.

Ein Freund hat ihm das Büro zur Verfügung gestellt, in einem flachen Bürobau in Bern-Bethlehem, zwischen Autogeschäften, Kebabläden und Brautkleidgeschäften. Das Bürozimmer gehört zu einem Kleinkreditunternehmen mit einer düsteren Rezeption.

Das also ist nun die Realität von Kerim Haziri*: Vorstadtmief statt schicker Altstadtbüros. Haziri hat Ansehen und Anerkennung verloren. «Das Schlimmste», sagt er, «sind die Leute, die mich auf der Strasse beäugen. Ich bin hier ziemlich bekannt. Und nun fragen sich alle, was ich getan habe.»

Haziri war bis im Frühling 2017 Gewerkschaftssekretär bei der Unia-Sektion Oberaargau-Emmental. Seine Karriere bei der Unia endete am 25. April nach fünfzehn Jahren mit seiner Festnahme. Neben Haziri setzte die Waadtländer Kantonspolizei dreizehn weitere Personen fest: Sie werden beschuldigt, einen Sozialversicherungsbetrug im grossen Stil begangen zu haben. Laut der Staatsanwaltschaft meldeten die mutmasslichen Betrüger der Arbeitslosenkasse des Kantons Waadt fiktive Angestellte. So kamen sie bei einem späteren Konkurs der Firmen auf missbräuchliche Art an Insolvenzentschädigungen. Drei bis fünf Millionen Franken soll das Netzwerk so erbeutet und unter sich aufgeteilt haben. Die Waadtländer Polizei hat zwölf Firmenchefs aus der Baubranche verhaftet – und zwei Unia-Angestellte. Einer von ihnen ist Haziri. Der zweite Verdächtige war für die Unia-Sektion Region Waadt tätig. Er steht im Verdacht, Drahtzieher des Finanzbetrugs gewesen zu sein. Auch hier gilt die Unschuldsvermutung.

Haziri geriet ins Visier der ErmittlerInnen, weil er Dossiers von drei der achtzehn involvierten Firmen betreut und schliesslich bei der Arbeitslosenkasse in Lausanne eingereicht hatte. Die Staatsanwaltschaft hat gegen ihn ein Untersuchungsverfahren wegen Betrug und Urkundenfälschung eröffnet. Hat er vorsätzlich gehandelt? Mitkassiert? War er Teil des Betrügerrings?

Haziri erzählt die Geschichte seiner Festsetzung so: «Es war ein ganz normaler Dienstag, als die Polizei bei mir zu Hause auftauchte. Sie fragten mich nach einem bestimmten Dossier und fuhren mich anschliessend in mein Büro, wo ich es ihnen übergab. Ich verstand überhaupt nicht, was da vor sich ging.» Die Waadtländer Polizei brachte Haziri schliesslich auf einen Lausanner Polizeiposten. Nach einer Nacht in der Zelle des Postens wurde er dem zuständigen Staatsanwalt überstellt. «Er stellte mir zwei, drei Fragen», sagt Haziri. «Dann teilte man mir mit, dass ich in Untersuchungshaft müsse.»

Bis im September, rund fünf Monate, blieb Haziri wegen «Verdunkelungsgefahr» im Gefängnis Croisée in Orbe inhaftiert. Sein Büro hat er seit seiner Verhaftung nie mehr betreten. Die Unia hat ihn am 28. April freigestellt, Ende Juni folgte die fristlose Entlassung.

«Mein Klient ist unschuldig»

Haziris Anwalt residiert in einem feudalen Büro in Vevey, unweit des Genfersees. Ludovic Tirelli trägt eine runde Brille zu Sakko und längerem Haar, er sieht aus wie der Prototyp des erfolgreichen Junganwalts. Tirelli sagt: «Kerim Haziri ist unschuldig.» Der Anwalt kennt alle Einvernahmeprotokolle des laufenden Untersuchungsverfahrens. «Keiner der Befragten belastet meinen Klienten», sagt er. «Niemand beschuldigt ihn, Geld kassiert zu haben.» Er verteidigt deshalb die Version von Haziri, er sei naiv in die ganze Betrugsgeschichte hineingeraten. «Er wurde von dem Netzwerk eingespannt», sagt Tirelli. «Schliesslich war Haziri als ein sehr engagierter und hartnäckiger Gewerkschafter bekannt, der sich für die Leute einsetzte und sich beim Thema Sans-Papiers auskannte. Also hat man einzelne Leute zu ihm geschickt.»

Die mutmasslichen Betrüger, deren Dossiers Haziri bei der Arbeitslosenkasse einreichte, waren zum grossen Teil Sans-Papiers, für die Haziri bei der Unia Bern verantwortlich war. Sie seien mal in Gruppen, mal einzeln aufgetaucht, sagt er. Ihm sei nichts verdächtig vorgekommen. «Das waren für mich ganz klassische Fälle von papierlosen Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt ausgenutzt werden.» Er habe die Anträge bei der Kasse eingereicht, sagt Haziri. «Die Arbeitslosenkasse zahlte das Geld dann der Unia aus, und wir haben die einzelnen Entschädigungen an die Betroffenen weitergeleitet. Es lief alles wie immer bei solchen Geschichten.»

Noch gibt es keine Anklage gegen Haziri. Die Akten des laufenden Untersuchungsverfahrens sind nicht einsehbar, die Aussagen nicht überprüfbar. Doch auch Gerhard Hauser, Haziris zweiter Anwalt, sagt: «Es gibt in den Protokollen der Zeugeneinvernahmen keine Hinweise darauf, dass ihm etwas Unlauteres vorgeworfen werden kann.» Hauser aber wurde nicht angeheuert, um Haziris Unschuld zu beweisen, sondern um zivilrechtlich gegen die Unia vorzugehen. «Die Unia hat meinem Klienten aus einem reinen Verdacht heraus fristlos gekündigt», sagt er. «Das ist ein sehr grosses Risiko. Die Hürden für ein solches Vorgehen sind im Arbeitsrecht hoch. Ein Strafverfahren gegen einen Mitarbeiter reicht nicht als Begründung. Der Verdacht muss sich erhärten, der Arbeitgeber muss intern entsprechende Abklärungen getätigt haben. Und er muss bis zur fristlosen Kündigung den Lohn ordentlich bezahlen.» Auch VPOD-Gewerkschaftssekretärin Catherine Weber, die Mitarbeitende von Gewerkschaften und NGOs arbeitsrechtlich berät, sagt: «Die Unia hat hier sehr harte Massnahmen getroffen. Sie hat eine Sorgfaltspflicht gegenüber ihren Mitarbeitern. In diesem Fall hätte sie den Mitarbeiter zumindest anhören müssen, unabhängig von einem Strafverfahren.»

Kerim Haziri resümiert: «Roman Burger haben sie zuerst gedeckt und dann mit einem goldenen Fallschirm entlassen. Ich hingegen wurde sofort gehängt.» Tatsächlich kann man diese Geschichte nicht erzählen, ohne noch einmal den Fall Roman Burger aufzurollen: Als sich der Zürcher Unia-Regionalleiter 2016 dem Vorwurf ausgesetzt sah, Frauen sexuell belästigt zu haben, stürzte die Gewerkschaft in eine tiefe Krise (siehe WOZ Nr. 37/2016 ). Die Geschäftsleitung stützte damals zunächst ihren leitenden Angestellten und rang sich nach einer externen Untersuchung (die die Vorfälle teilweise bestätigte) lediglich zu einer Ermahnung durch – die mildeste aller möglichen Sanktionen im Unia-Reglement zu Mobbing und sexueller Belästigung. Burger wurde erst freigestellt, als der mediale Druck zu gross geworden war. Die Unia bezahlte Burger eine Entschädigung in Form einer bezahlten Weiterbildung. Und sie half ihm bei der Stellensuche. Man sei schliesslich für seine Angestellten verantwortlich, sagte damals das Geschäftsleitungsmitglied Nico Lutz gegenüber der WOZ. Und: Als Arbeitgeber müsse man die Persönlichkeitsrechte seiner Angestellten schützen.

Ganz anders handelte die Unia im Fall Kerim Haziri. Diesem wurde am 29. Mai – einen Monat nach seiner Verhaftung – mitgeteilt, die Lohnzahlungen würden bis auf Weiteres sistiert. Dies, obwohl der Angestellte zu diesem Zeitpunkt noch nicht entlassen war. Der entsprechende Brief liegt der WOZ vor. Seit seiner Verhaftung, sagt Haziri, habe er keinen Rappen mehr von der Unia gesehen. «Ich erhielt auch keine ausstehenden Lohnguthaben aus Ferienguthaben oder anteilsmässigem dreizehntem Monatslohn.»

Zweifelhafte Briefe

Treffen mit einem Basismitglied der Unia im Berner Lorrainequartier. Der Mann, der anonym bleiben will, hat Briefe auf dem Tisch ausgebreitet, die auch der WOZ vorliegen. Sie stammen von der Geschäftsleitung der Unia – und gingen an zwei in der Unia organisierte Berufsgruppen, die sich für Haziri einsetzten. Unterschrieben sind sie vom Unia-Vizepräsidenten Martin Tanner und dem nationalen Personalleiter Philipp Arnold. «Wir wissen nicht, was Haziri getan hat», sagt das Basismitglied. «Aber das ist auch nicht, was die Leute interessiert. Die interessiert, warum er nicht mehr bei der Unia ist. Er wurde von der Basis sehr geschätzt.»

In den Briefen rechtfertigt die Unia-Leitung das Vorgehen gegenüber ihrem Mitarbeiter: Es sei «weitgehend erstellt», dass Haziri «und ein weiterer Mitarbeiter in betrügerischer Absicht gehandelt und dem Ansehen der Unia mit ihrem Verhalten massiv geschadet haben», schreiben Hardegger und Tanner. «Unsere internen Untersuchungen, aber auch die uns zur Erkenntnis gebrachten Elemente aus dem Untersuchungsverfahren haben leider gezeigt, dass die Vertrauensbasis für eine weitere Zusammenarbeit nicht mehr gegeben ist.»

Das sei eindeutig eine Vorverurteilung, sagt das Basismitglied. Doch die Briefe sind aus einem weiteren Grund interessant: Die Unia hatte nie Akteneinsicht. Das Bundesgericht hat eine entsprechende Forderung der Gewerkschaft Mitte November abgelehnt, dies mit der Begründung, dass eine Einsicht ins laufende Verfahren durch die Unia zu Verdunkelungsgefahr geführt hätte (weil mögliche MittäterInnen bei der Unia so an wertvolle Informationen kommen könnten). «Die waren doch einfach sehr nervös», sagt das Basismitglied. «Sie wollten nach der Geschichte um Burger keinen weiteren Imageschaden. Und haben deshalb total überhastet gehandelt.»

Von der Unia will niemand telefonisch Stellung beziehen. Die Gewerkschaft gibt auf die vielen Fragen, die ihr Verhalten aufwirft, nur schriftlich Antworten. Die Fälle Haziri und Burger liessen sich keinesfalls vergleichen, schreibt Pressesprecher Hardegger. Im aktuellen Fall sei die Staatsanwaltschaft von sich aus aktiv geworden: «Im Fall Burger kam es nie zu einer Anzeige oder einem Eingreifen der Polizei oder Staatsanwaltschaft.»

Regionalleiter Thomas Wüthrich schreibt, er stehe hinter der fristlosen Entlassung von Kerim Haziri. «Der Entscheid wurde von mir als Verantwortlichem und Vorgesetztem von Haziri zusammen mit den national Zuständigen getroffen. Die Kündigung wurde gemäss internem Vorgehen und somit korrekt ausgesprochen. Wir stützen uns dabei auf die öffentliche Kommunikation der Waadtländer Staatsanwaltschaft.»

Konkrete Fragen zum Vorgehen beantwortet Sascha Hardegger ausweichend: Hat es eine interne Untersuchung gegeben, die den Verdacht gegen Haziri erhärtete? «Da es sich um ein laufendes Strafverfahren handelt, können wir zu dieser Frage nicht Stellung nehmen.» Hat die Unia sich tatsächlich nicht an die arbeitsrechtlichen Verpflichtungen gehalten und Ende April den letzten Lohn ausbezahlt? «Es steht uns nicht zu, Sie über die Lohnzahlungen an unsere Mitarbeitenden zu informieren. Wir haben aber gemäss OR bei fristloser Kündigung gehandelt.» Verletzte sie mit den Briefen die Persönlichkeitsrechte ihres Angestellten? «Die Staatsanwaltschaft hat die Öffentlichkeit über die Vorfälle informiert. Unsere Aussagen decken sich mit diesen Informationen.» Woher stammen die «zur Erkenntnis gebrachten Elemente aus dem Untersuchungsverfahren»? «Da es sich um ein laufendes Verfahren handelt, können wir dazu keine Angaben machen.»

«Er war aufmüpfig»

Auch von den angefragten Angestellten der Berner Sektion will niemand reden. Nur die ehemalige Gewerkschaftssekretärin Annatina Moya, die im Juni 2017 ihren Job gekündigt hat, spricht. Der interne Druck sei in der Sektion gross, sagt sie. «Uns wurde gesagt, wir dürften uns während der Arbeitszeit nicht mit dem Fall beschäftigen. Irgendwann hat man uns mitgeteilt, Kerim Haziri sei nun entlassen. Wir wollten wissen, weshalb. Da hiess es nur, es gebe schlagkräftige Indizien.»

Die Zeit davor beschreibt Moya als seltsam ruhig. Niemand habe anfangs glauben können, «dass Kerim so etwas getan haben soll. Er wurde abgeholt, aber wir konnten uns wirklich nicht vorstellen, dass da etwas dahintersteckt.» Viele hätten sich zwar privat mit Haziri solidarisiert. «Aber bei der Leitung wirklich Druck gemacht hat niemand. Die Leute rennen jeden Tag ihrem Tagesgeschäft nach. Dazu kommt, dass die Gewerkschaft hierarchisch geführt wird: Die Leitung will ihren Kurs durchsetzen. Ihr geht es um die grossen Zahlen. Gewerkschaftssekretäre sollen in erster Linie Mitglieder werben. Wer protestiert, wird einen Kopf kleiner gemacht.»

Haziri sei so jemand gewesen, sagt die ehemalige Kollegin. «Er war aufmüpfig, hatte seine eigenen Vorstellungen. Von ihm wurden deshalb Dinge verlangt, nach denen sonst kein Hahn krähte. Das ging schon in Richtung Mobbing.» Das sei natürlich nicht der Grund für die Kündigung gewesen, sagt Moya. «Aber jemand wie Haziri hat es in einem solchen Fall sicher schwerer, ohne Seilschaften nach oben. Er wird leichter verurteilt.»

Sektionsleiter Stefan Wüthrich widerspricht dieser Darstellung deutlich: Weder habe es einen Konflikt mit Haziri gegeben, schreibt er, «noch war er ein renitenter Mitarbeiter. Wir haben ausserdem nie etwas von ihm verlangt, was nicht auch im Pflichtenheft von allen anderen Mitarbeitern stand.» Seine Entlassung habe einzig mit den Vorgängen zu tun, «die Gegenstand des aktuellen Strafverfahrens sind». Die MitarbeiterInnen habe man zeitnah informiert. «Ich habe lediglich gewünscht, dass sie sich nicht während der Arbeitszeit mit der Ehefrau Haziris treffen, da er damals noch in Untersuchungshaft sass.»

Haziri selbst sagt, er sei überlastet gewesen und habe deshalb vielleicht nicht genau genug hingeschaut. Ob das stimmt oder ob der Beschuldigte in betrügerischer Absicht handelte, müssen die Gerichte klären, sollte es zu einer Anklage kommen. Die Unia aber muss sich die Frage gefallen lassen, weshalb in diesem Fall die Unschuldsvermutung offenbar nicht galt.

* Name von der Redaktion geändert.

Movimentos : Es kommt zur Abspaltung

In der Unia kam es in jüngster Zeit immer wieder zu internen Konflikten. Auf den Fall Roman Burger (vgl. Haupttext oben) folgte 2017 eine Eskalation in der Sektion Aargau. Dort entliess die Unia kurzfristig sechs FunktionärInnen fristlos, weil sie sich gegen die Fusion der Sektionen Aargau und Nordwestschweiz gewehrt hatten. Vier Jahre zuvor kam es zu einer ersten Abspaltung von der Unia: Ehemalige MitarbeiterInnen gründeten in der Region Basel die neue Gewerkschaft Basis 21.

Nach der Kündigung von Kerim Haziri (Name geändert) kommt es nun auch in Bern zu einer Abspaltung. Die Beteiligten – vor allem Basismitglieder, die sich mit dem Entlassenen solidarisieren – schreiben in einer Medienmitteilung zur Gründung der Gewerkschaft «Movimentos»: «Unser Einsatz als langjährige und aktive Gewerkschaftsmitglieder und -mitarbeiter wird von der Gleichgültigkeit des Apparats verhöhnt. Sexuelle Belästigungen von Mitarbeiterinnen, massive Überzeiten, unerträglicher Leistungsdruck, missbräuchliche Kündigungen, systematische Vernachlässigung der Mitgliederbetreuung bei Rechtsfällen, das Ausrichten nach rein marktwirtschaftlichen Prinzipien, Beschränkung der Aktivitäten auf das Anwerben neuer Mitglieder und auf Themen mit plakativem Erfolgspotential, all dies lässt sich nicht mit gewerkschaftlichen Prinzipien vereinbaren.»

Wie die Basis 21 verspricht Movimentos eine basisnähere Gewerkschaftsarbeit. Die Unia weist die Kritik an ihrer Organisation zurück.

Sarah Schmalz