Dora Koster (1939–2017): Worte wie Bomben. Der Eigensinn der Dora Koster

Nr. 3 –

Sie hat Texte von umwerfender Wucht geschaffen. Sie war unbedingt, schonungslos und verstörend, und etwas Schamanisches konnte man ihr nicht absprechen. Ein Sittenbild über Dora Koster.

  • Dora Koster um 1980: Ihr autobiografisches Buch «Nichts geht mehr» über ihr Aufwachsen als Heim- und Verdingkind wird als Beispiel «authentischer» Literatur ein Erfolg. Foto: Olivia Heussler, clic.li
  • Die letzten Jahre waren für Dora Koster schwierig. Ende April 2016. Foto: Adam Naparty
  • Dora Koster an ihrem Schreibtisch, April 1986. «Es gab immer irgendwelche Schulden zu tilgen. Wir organisierten ihr eine Schreibmaschine, die war bald verschwunden. Die nächste auch.» Foto: Gertrud Vogler, Sozialarchiv
  • Postkartenliteratur: Drei «Depeschen» von Dora Koster aus dem Jahr 1989.

Wenn sie in Fahrt war, konnte sie im Zürcher Niederdorf an einem Abend zwei Dutzend ihrer Bücher verkaufen. Sie fegte durch die Lokale, sprach Bekannte an: «Hier, ein neues Gedichtbändchen, für zwanzig Franken», eine Verehrerin gab auch mal fünfzig, und selbst den Unwilligen konnte sie schmackhaft machen, dass sich ein kurzer Aufschwung der Seele entlang ihrer Texte lohne. So war wieder ein Tag überstanden.

Literatur war auch alltägliches Bedürfnis. Ständig schrieb sie. Oder sie redete. Was zuweilen ineinander überging. Die Rede, die Sprache war kräftig, wild, bunt.

«Der Dreck an mir
stammt von Euren Füssen»

Kennengelernt habe ich Dora Koster vor 35 Jahren. Sie war damals wütend auf mich. Ich hatte Anfang 1982 im «Tages-Anzeiger» unter dem Titel «Öffentlichkeit und Skandal» über den Rechtsstreit zwischen dem Zürcher Unionsverlag und der Zeitschrift «literatur konkret» berichtet, in dessen Verlauf «literatur konkret» Behauptungen zurücknehmen musste, der Verlag habe Dora Koster nach der Veröffentlichung ihres erfolgreichen Erstlings «Nichts geht mehr» finanziell übers Ohr gehauen. Dabei hatte ich in einem Satz über die mir persönlich unbekannte Autorin gemeint, sie betreibe «als tätiges Opfer die publizistische Mühle, in die sie geraten ist, selbst eifrig mit». Worauf Dora Koster von einem Taxifahrer beim Portier des «Tages-Anzeigers» eine Wäschezaine für mich abgeben liess, mit einem Zettel, der Korb sei für meine schmutzige Wäsche, die ich auf ihre Kosten gewaschen habe. Nach mehreren nicht eben freundlichen Telefonanrufen ihrerseits willigte ich ein, sie zu einem Gespräch zu treffen, zu dem sie einen Begleiter mitbrachte, der sich als Mitglied der Zürcher Jugendbewegung zu erkennen gab und schweigsame Wachsamkeit, ja Bedrohlichkeit gegenüber dem Lakaien der bürgerlichen Presse zu markieren versuchte.

Das nächste Mal trafen Dora Koster und ich uns zu zweit, und danach schien sie mich zumindest in literarischen Fragen als Gesprächspartner zu akzeptieren. Trotzdem war sie auch später hin und wieder wütend auf mich. Dora Koster war öfter wütend. Sie hatte Gründe dazu: wegen der persönlichen Situation, der Weltlage, wegen der Schweiz sowieso, wegen der unverständigen Mitmenschen, von der Zürcher Kulturpolitik schon gar nicht zu reden. Die Wut veräusserte sie vor allem in Texten und Gemälden. Bisweilen äusserte sie sich aber auch in verbalen, ja handgreiflichen Attacken, gegen andere und gegen sich selbst.

«Hass trinkt mehr Wein
Als es Trauben gibt»

Das Buch «Nichts geht mehr» über ihr Aufwachsen als Heim- und Verdingkind und ihre Erfahrungen als Prostituierte wurde 1980 als Beispiel «authentischer» Literatur von Randständigen ein Erfolg. Die Linke entdeckte gerade wieder einmal das Subproletariat. Die Alternativzeitschrift «Tell» provozierte einen Teil der linken Szene mit einem Porträt über «Mireille», die Zürcher «Venus in Leder». Das Blatt porträtierte auch Dora Koster mehrfach. 1981 kandidierte sie auf der Liste «Schnitz und Drunder» der Zürcher Jugendbewegung für das Amt der Bezirksanwältin und gab als Berufsbezeichnung «Hure» an. Auch in einer der allerersten WOZ-Ausgaben vom Januar 1982 kam sie unter dem Bürgerschreckmotto «Leckt mich am Arsch» zu Wort.

25 000 Exemplare ihres Erstlings verkauften sich. Damit begann die Misere. Rund 70 000 Franken Honorare zahlte der Verlag insgesamt aus, aber weil Kosters Lohn wegen Steuerschulden gepfändet war, gingen 50 000 davon direkt an den Staat. 20 000 Franken erschienen ihr als läppisches Honorar und reichten nie für den erhofften Ausstieg aus dem Milieu. Ihren Zorn richtete sie öffentlich und juristisch gegen den Verlag – sie war ein höchst tätiges Opfer.

Eine Enttäuschung durch den Literaturbetrieb war unvermeidlich gewesen. Ihr Zweitling enthielt keine Sexgeschichten, sondern war ein Gedichtband. Von beiden Seiten bestanden unerfüllbare Erwartungen. Benteli, Orte, Neuer Malik Verlag, Verlag Winfried Richter, Rauhreif gaben einzelne Bücher von ihr heraus. Die Umsätze konnten den Hoffnungen nie genügen. Schnell verkrachte sie sich mit ihren VerlegerInnen. «Sie sind kein Verleger, sondern ein bayerisches Arschloch», begann ein typischer Brief von ihr.

Dabei war die Literatur im Wortsinn überlebenswichtig geworden. Dora Koster schrieb aus einem unbezähmbaren Impuls heraus. Sie konnte eloquent Freundschaft und Liebe feiern oder elegisch deren Fehlen einklagen. Sie konnte eine kosmologische Verbundenheit mit Tier und Natur beschwören oder satirisch scharf, bitter die Heuchelei der guten Gesellschaft geisseln.

«Die ganze Welt
sollte
ein Vogel sein
dann wäre der Flug
Ins Jenseits
Gegen die Himmel.
So aber
habe ich gestern gedacht
sind wir einst
eine
abgestürzte
geballte Faust»

Da geht das scheinbar kitschige, mystisch überhauchte Vogelmotiv fugenlos ins ebenso handfeste wie grandiose Bild des gescheiterten, rebellischen Menschen über.

Grenzen kannte sie keine. Sie hatte unbändige Kraft, im Gestalterischen wie im Zorn. Liebe war weltbewegend, erschütternd, Zuneigung überbordend. Dora Koster war verschwenderisch grosszügig. Sie gab viel, und das subito. Etwas gefiel ihr, eine Erstausgabe, ein Kleidungsstück, ein Gadget, also kaufte und verschenkte sie es. Dann hatte sie für sich selbst kein Geld mehr.

Zweifellos, die persönliche Bekanntschaft mit ihr war anfänglich mit der fahlen Faszination für das «Milieu» durchsetzt. Da prallten unterschiedliche soziale, emotionale und kulturelle Erfahrungen und Welten aufeinander – lockend war weniger Sex als Crime. Ihre vielfältigen, schillernden Bekanntschaften, Transvestiten oder Bullen von der Sitte. Eine Kugel war ihr im Kopf stecken geblieben, man stelle sich das vor! Wenn sie lautstark über eine öffentliche Figur herzog, warf sie einen – oder zumindest mich – immer aufs eigene Wohlverhalten zurück.

Gelegentlich wollte sie mir Geschichten für die Zeitung zuhalten, Enthüllungen über Verstrickungen von Richtern oder PolitikerInnen oder Polizisten im Rotlichtmilieu. Gelegentlich war ich versucht, diesen nachzugehen, aber dann schien es mir doch zu unsicher und zu aufwendig und womöglich zu wenig ergiebig. Dann wieder deutete sie beiläufig besondere Sexualpraktiken an, bestätigte das Klischee, dass sich mächtige Männer in Windeln einpacken lassen, an den Galgen hängen oder Madame die Schuhe lecken wollen. Masochismus von Machtpersonen mag eine politische Aussage sein, dachte ich. Aber eine wirklich wichtige? Und so beliess ich es bei einer achselzuckenden Ahnung.

«Tanz der Soliden» heisst ein späterer Textband von Dora Koster, den ich 1994 im Limmat Verlag herausgab, und das bezeichnete ein Lebensthema und eine Haltung. Gegen die Soliden, Wohlanständigen musste sie antreten, zu denen wollte sie nicht gehören, also warf sie einen satirischen Blick auf den grotesken Tanz der bürgerlichen Eitelkeiten, der sich gelegentlich als Totentanz präsentierte. Zugleich kämpfte sie jahrzehntelang um öffentliche Anerkennung.

Doch ihre Einstellungen, ihr Verhalten blieben vom Milieu geprägt. Stets vertrat sie einen besonderen Ehrenkodex, den sie ebenso lebte wie mythisierte. Nie jemanden verzinken. Ewige Freundschaft und Solidarität. Aber auch ewige Feindschaft. Sie konnte ausfällig und handgreiflich werden, und regelmässig erinnerte sie an den «Föhn», die Pistole in der Nachttischschublade.

Auch das Verhältnis zum Geld entstammte dem Milieu, in dem sie einst gut verdient hatte. Geld war dazu da, ausgegeben zu werden. Also war es nie da. Die Grundeinheit war ein Lappen, ein Hunderter. «Spaziergeld» konnte sie schnell auftreiben, aber das löste die gröberen Probleme nicht. Eine Zeit lang hatte sie Verehrer aus dem Bankenmilieu, die ihr gelegentlich ein Bild abkauften. Doch gab es immer irgendwelche Schulden zu tilgen. Wir organisierten ihr eine Schreibmaschine; die war bald verschwunden. Die nächste auch, und dann sprach man halt nicht mehr darüber. Ihre Handharmonika wanderte zwischen Wohnung und Pfandleihe hin und her.

Tatkräftig war sie, das hatte sie schon auf der Odyssee durch viele Heime und Internate gelernt. Alles konnte sie auf die Schnelle organisieren, dank Beziehungen, Energie und Schläue. Alles konnte niedergerissen werden, wenn sie Enttäuschungen und Zurücksetzungen wahrzunehmen glaubte.

Ihre Überlebensstrategien, die Listen des Alltags, waren ingeniös. Zuweilen finanzierte sie ihre Tage mit Zockerei, insbesondere Schach und Backgammon. Dann wieder erspielte sie sich ein paar Franken auf der Handharmonika. Ein Kleinstmuseum wollte sie patentieren lassen, schnell einen Krimi schreiben. Asyl in Russland beantragen oder sich von einem «befreundeten arabischen Botschafter» aushalten lassen – ihr Hund hiess «Ghaddafi», ein lauter, freundlicher Appenzeller, der zusehends aus dem Leim ging. Als «Schwänzelmann» hat sie ihn den Kurzkrimi «Blödmann, mein Chef» erzählen lassen.

Bald verlegte sie ihre Bücher selbst, organisierte den Druck, zeichnete den Umschlag, betrieb die Werbung, den Vertrieb auf der Gasse. Als kulturelle Generalagentin führte sie zuerst an der Froschaugasse, dann am Rindermarkt immer wieder Veranstaltungen durch, war auch eine eindrückliche Vorleserin, ja Schauspielerin. Zu ihren besten Zeiten konnte sie an einem Tag ihre Wohnung ausräumen, die Möbel, das Geschirr verkaufen oder verschenken, und zwei Tage später war die Bleibe neu möbliert, und sie präsentierte eine Matinee samt Kulissen und Catering, das ihr eine Wirtin beinahe gratis lieferte. Vielfältig trug sie zum kulturellen Leben dieser provinziellen Grossstadt bei, ohne dafür die öffentliche Anerkennung zu bekommen, nach der sie so verlangte.

Ja, sie war tüchtig auch im Sinne klassischer BürgerInnentugenden. Manchmal war sie sich nicht für eine Putzfrauenstelle zu schade. An der Forschungsausstellung «Heureka» (1991) belebte sie als Sanitäterin die Szene und rettete nebenbei einem Menschen das Leben. Doch obwohl sie gut und gerne arbeitete, waren solche Anstellungen nie von Dauer. Vielfältig hat sie auch als unentgeltliche Sozialarbeiterin im Niederdorf gewirkt.

Dora Koster war beeindruckend belesen: Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler und Rose Ausländer verehrte sie tief. An den eigenen Texten wollte sie kaum je feilen. Zur Sprache gebracht, entbunden war entbunden, und das legt zuweilen Schwächen, auch Wiederholungen bloss. Ich fand und finde nicht alle ihre Werke gleich gut, aber ich finde manches bemerkenswert gut. In ihren besten Texten schrieb sie umwerfend, poetisch oder scharf, mit ganz originellen Bildern und eigenwilligen Metaphern, und ihre Prosa ist anschaulich, treffend, witzig.

Die Kunst aber war nicht ohne die Person zu haben. Im Soziotop des Niederdorfs vermischten sich die Sphären und rieben sich zugleich scharf aneinander. Die private und gesellschaftliche Ambivalenz schwankte zwischen Vereinnahmung und Ausgrenzung, zwischen Heuchelei und Überforderung. Immer haben meine Partnerin und ich uns geweigert, sie zu duzen, und blieben beim förmlichen «Frau Koster». Wenn sie im Niederdorf links und rechts mit «Dora» begrüsst und verküsst wurde, schien mir viel Anbiederung hörbar zu werden. Nahm man sie auch als Autorin wirklich ernst? Das fragte ich mich gelegentlich.

Sie hatte einen unbändigen Zorn auf JournalistInnen, die sie verheizten und ihr dann wieder schmeichelten, wenn sie eine originelle oder aufregende Geschichte brauchten. Einmal, mitten in der Nacht, rief sie mich an, und während ich mich aus dem Schlaf hochkämpfte, erklärte sie mir in sich überstürzenden Sätzen, dass sie diesmal ihren Föhn wirklich gebrauchen werde und wer jetzt bei diesem Riesengemetzel drankomme. Sie hatte schon gelegentlich mit Amokläufen gedroht, gegen die Zürcher Kulturmafia, die ihr die Anerkennung verweigerte, oder gegen die einstige Rivalin aus dem Milieu. Ich versuchte dann, mit ihr zu argumentieren, was sie schroff zurückwies, bis sie sich doch besänftigen liess. Die Ausbrüche verstörten mich, doch war mir nie ganz klar geworden, ob es je so weit kommen würde. In dieser Nacht schien es mir zum ersten Mal möglich, dass sie ihre Pläne umsetzen würde und wirklich etwas Schreckliches geschehen könnte. Und so hörte ich ihr drei Stunden lang zu und redete gelegentlich, sofort von ihr unterbrochen, auf sie ein, bis sie widerwillig, missgünstig, vom Amoktrip herunter war. Und mir dann dafür grollte.

Für diejenigen auf der andern Seite waren solche Episoden bedrohlicher. Ihrem ersten Verleger schickte sie blutige Hirschköpfe nach Hause und erkundigte sich am Telefon, ob er wisse, wirklich wisse, ob seine Kinder in Sicherheit seien, und dann hat sie ihn tatsächlich kurz und knapp zusammengeschlagen, in der Splendid-Bar, vor Zeugen, die sich bis heute daran erinnern. Sie hat das selbst erzählt, enttäuscht oder beschämt, im zweiten Prosabuch, «Geteert und gefedert» von 1983 – die witzig harmlose Episode mit der Wäschezaine für mich kommt darin auch vor.

Später fürchtete man ihre Auftritte auf der Präsidialabteilung, bei Pro Helvetia und Pro Litteris; zuweilen bekam sie Geld, aus irgendeinem «Reptilienfonds». Einzelne Kulturvertreter verfolgte sie mit verstörendem Hass. Dass man ihr nur selten und widerwillig eine Subvention oder einen Anerkennungspreis zusprach, fand ich dennoch nicht richtig.

«Warum bellst Du nicht mehr
Sag ich zu meinem Hund
Dumme Frage
Kannst Du nicht lesen
Warum fliegst Du mir nicht weg
Frag ich meinen Vogel
Wir fliegen zusammen
Piepst er heiser»

Mit den Tieren konnte sie es gut, sie selbst imaginierte sich öfter als blauer Vogel, unterzeichnete viele Texte mit «Oiseau bleu». Das Fantastische gehörte zu ihrer normalen Existenz. Sie rühmte sich kosmischer Kräfte und des Voodoo-Zauberns. Eine Puppe in ihrer Stube durfte man nicht anrühren, weil sie schon etlichen bösen Menschen den Tod gebracht habe. Etwas Schamanisches wollte ich ihr durchaus nicht absprechen. Horrorgeschichten von medizinischen Fehldiagnosen oder ärztlichen Vergiftungsattacken beeindruckten mich weniger als die unglaubliche Überlebenskraft nach Blutstürzen und Infarkten. Dann wiederum schalt ich mich dafür, diese billige Exotik mitzumachen.

Natürlich, Zürich und die Schweiz waren ihr ein ewiger Anstoss.

«Schweizerleichen
Unterscheiden sich nicht voneinander
wenn man von den Ausweisen in ihren Taschen absieht.
Sie knirschen mit den Zähnen
grüssen nicht
und wenn sie es tun müssen
kriegen sie Blasen an den Füssen»

So spielerisch konnte sie ein Alltagsbild wie geschundene Füsse zu einer Mentalität, einem Kulturzustand verdichten, selbstverständlich und bitterböse.

Gegen den Cafard an der Schweiz floh sie jeweils ins Elsass oder an die geliebte Nordsee.

Gelegentlich lektorierte ich ihre Texte, was zumeist bloss hiess, die Orthografie anzupassen und ein wenig zu straffen und zu gliedern. Ein paar Wochen lang war sie glücklich, wenn sie ein neues Büchlein vertreiben konnte und ein paar floskelhafte Kurzbesprechungen erschienen. Dann war das Interesse des Literaturbetriebs wieder erloschen. Besonders schlimm wurde es jeweils im Herbst, wenn die Literaturauszeichnungen bekannt gegeben wurden und sie wieder nicht berücksichtigt worden war. Dann begannen wieder die Amokfantasien. Das Theater Neumarkt wurde periodisch eine letzte Anlaufstelle.

Dora Koster war eine ingeniöse, selbstbewusste Frau. Auf Männer fiel sie trotzdem immer wieder herein. Das beschrieb sie schon in ihrem Erstling. Zu Recht hielt sie sich etwas darauf zugute, grundsätzlich mit Zuhältern abgeschlossen zu haben. Aber wenn dann alle Jahre wieder die grosse Liebe zuschlug, geriet sie erneut in rettungslose Abhängigkeiten. Immer das gleiche Muster, von ihr scharf gesehen, doch das änderte sich nie, nie, bis ins Alter. Vor einem Dutzend Jahren war sie zwei Jahre lang mit einem Mann verstrickt, himmelhoch jauchzend, zu Tode gefährdet, wie es nur Dora Koster erleben und aushalten konnte; während meine Überforderung durch ihr Temperament zunahm. Selbst die Literatur war nicht mehr das Mittel, um sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Erst allmählich schien sie wieder zur Sprache zurückzufinden.

«Ich dachte
ich hätte die Sprache verloren
Ich dachte zuviel»

Jetzt entstanden neue Gedichte, Aphorismen. Ihr Sprachfluss war wieder nicht mehr zu stoppen. Computer überforderten sie, also sammelte sie SMS auf einem Dutzend Handys. Aber die Umsetzungskraft nahm ab, verständlicherweise, siebzig war sie geworden, gesundheitlich angeschlagen.

«Der Zeit meiner Selbstbelügung, dem Traum von einer heilen Welt irgendwo bei ehrbaren Bürgern schneide ich die Kehle durch. Die Zukunft gleicht einem kopflosen Gebilde.»

Ihre Tiraden wurden mit der Zeit heftiger, und eintöniger. Etwa gegen alle Frauen, insbesondere Lesben und die «läufigen Soliden», und da brachen merkwürdig verkehrte Moralvorstellungen hervor. Man kann das, so wie sie es selbst auch getan hat, von einem Trauma her erzählen – in einem Kinderheim trat sie «ahnungslos» ins Zimmer ihrer Freundin, und «die Leiterin lag auf meiner Freundin», die dann keine Zeit mehr für Dora hatte. Noch weiter zurück die kleine Dora, vom Vater verlassen, von der Mutter verstossen, die sie hasste, aber auch bewunderte, weil sie sich – selten, doch dann entschieden – für sie einsetzte. Dora Koster selbst musste dann später ihr eigenes Kind ebenfalls in Pflege abgeben. Man kann es berufsständisch erzählen: die Soliden als Konkurrentinnen. Man kann es sozialpsychologisch erzählen: die bürgerliche Doppelmoral. Verschiedene Geschichten, keine ganz unwahr.

Auch beim Schimpfen gegen «die Linken» konnte man an die enttäuschte Hoffnung mit dem Erstling erinnern oder an einen durchaus vorhandenen linken Kultursnobismus. Wenn ich Differenzierungen anmahnte – Differenzierungen! –, warf sie mir böse vor, ihr den Mund verbieten zu wollen. Meine Partnerin wollte mit der Zeit die Ausfälle am Telefon nicht mehr mitmachen und bot ihr Paroli, was sie durchaus akzeptierte und mit einem Tipp gegen eine aktuelle Erkältung quittierte. Ich hingegen nahm die Tiraden allmählich resigniert hin. Das elende Muster: Wer sich verletzt fühlt, schlägt verletzend zurück.

Die finanziellen Probleme wurden trotz AHV und IV nicht kleiner. Natürlich gab ich ihr gelegentlich ein wenig Bargeld, so wie viele andere, aber ich versuchte es zumeist erzieherisch, so wie andere wohl auch. Ich bezahlte eine aufgelaufene Rechnung beim Quartierladen oder kaufte ihr direkt Nahrungsmittel oder händigte ihr Lunch-Checks aus. Man meint das ja gut, es ist unumgänglich, und trotzdem bevormundend.

Vor ein paar Jahren wollte Dora Koster ein Büchlein nachdrucken lassen, um durch den Verkauf Spaziergeld zu kriegen. Aber die Druckerei – von der sie selbstverständlich übers Ohr gehauen worden war! – weigerte sich, solange die ausstehenden Rechnungen nicht bezahlt waren. Also beglich ich die, liess ihr ein paar Hundert Nachdrucke zukommen. Als sie das erfuhr, wurde sie fuchsteufelswild, weil ich ihr das Geld nicht bar gegeben hatte, mit dem sie doch, vielleicht beim Zocken oder mit irgendeinem anderen genialen Schema, Millionen gescheffelt hätte, um mir endlich alles zurückzahlen zu können.

Solche Geschichten ermüdeten mit der Zeit, und so kam es zu jenen Augenblicken, die man nachträglich bedauert. Ein neues Manuskript lag schon lange vor, wurde immer wieder ergänzt. Was früher ungestüm geflossen war, trieb jetzt in Kreisen. Obwohl ich die Texte nicht zu ihren besten zählte, hätte ich sie doch in Druck gegeben, aber dann wollte sie mir die letzte Originalfassung nicht geben, weil sie mich verdächtigte, ich könnte das Manuskript in fremde Hände fallen lassen, und da stand ich erzürnt auf und wusch meine Hände über diesem Buch.

Alle, die sie gekannt haben, haben solche Geschichten zu erzählen. Sie sind ein anstössiges Vermächtnis.

Das Zürcher Milieu und die Prostitution der siebziger und achtziger Jahre sind anhand zweier weiterer Frauen dokumentiert. «Lady Shiva» (Irene Staub, 1952–1989) hatte schon zu Lebzeiten das Cross-over in die Mode- und Kunstszene geschafft. Willi Wottrengs Buch über sie aus dem Jahr 2013 steuert hilfreich zeitgeschichtliches Material bei, aber allzu schwärmerisch aufbereitet. Der Film «Glow» (2017) von Gabriel Baur pinselt weiter an dieser Nobilitierung. 2014 hat sich Susanna Schwager der «roten Zora» angenommen: Hedy Zellweger (gestorben 2014) war lange Jahre eine erbitterte Feindin von Dora Koster, bis sie 1984 und 1986 bei Abrechnungen im Zürcher Milieu schwer verletzt wurde. Schwagers Buch «Freudenfrau. Die Geschichte der Zora von Zürich» ist Erzählungen der Protagonistin nachempfunden, «verdichtet» und in Ich-Form, nicht «wahr», sondern «wahrhaftig», eine «Hommage an eine bärentapfere Kämpferin». Kulturgeschichtlich hat es nichts Wichtiges zu sagen, es ist verklärende Schwärmerei.

«Dieses Leben
ist ein Schritt
in die Zukunft
wie viel ich noch
zu gehen habe
und wo es auch sein mag
Kriechspuren
Werde ich keine hinterlassen
Weder hier noch dort
Im Sand»

In den letzten Jahren häuften sich bei Dora Koster gesundheitliche Probleme, Kontakte brachen weg. Wieder tauchten Erzfeindinnen in der Nachbarschaft auf. Natürlich, es gab weiterhin FreundInnen und Hilfestellungen; ich erwähne, durchaus ungerecht gegenüber vielen andern, neben dem Team vom Neumarkt Franz Hohler, der kürzlich die schöne Abdankung organisiert hat.

Dennoch wurden Löcher im sozialen Netz der Schweiz sichtbar, aber auch eine gegenseitige Überforderung durch unbedingten Eigensinn. Ja, ich kann die Erinnerung nicht vergessen, als sie beschrieb, dass sie mit ein paar Kartoffeln die Tage bis zum Eintreffen der AHV überbrücken werde. Oder die Vorstellung, dass sie sich in der Wohnung selbst das Wasser aus den Beinen liess.

Als ich sie das letzte Mal im Spital besuchte, brauchte sie Zigaretten, und die gibt es nur am Kiosk bei der Tramhaltestelle hundert Meter vom Spital entfernt. Aber ihre Marke, Dunhill, wird dort nicht geführt. Der Kioskbetreiber wollte sich hintersinnen, half mir, eine ähnliche Marke zu wählen, und anerbot sich, Dunhill neu ins Sortiment zu nehmen, doch ich konnte ihm keinen regelmässigen Absatz versprechen. Solche banalen, leuchtenden Verknüpfungen ergaben sich, wenn man Dora Koster kannte. Danach sassen wir, mit den falschen Zigaretten, auf der Veranda, die Schwestern zogen nur nachsichtig oder resigniert die Augenbrauen hoch, und als eine zweite Patientin in ihr Zimmer verlegt wurde, liess Dora Koster gleich ein paar abschätzige Bemerkungen fallen, während ich mit gequältem Lächeln zu besänftigen suchte.

Nein, Kriechspuren hat sie keine hinterlassen.