Kost und Logis: Landschaft mit seltsamen Bauwerken

Nr. 3 –

Bettina Dyttrich wandert im toten Winkel von Bern

Was weiss ich schon, ich habe nie in einem richtig grossen Haus gewohnt. Aber mir gefallen Hochhäuser. Vor allem, wenn sie direkt am Waldrand stehen wie in Bern-Bethlehem. Ganze Quartiere hat das ArchitektInnenpaar Hans und Gret Reinhard nach dem Zweiten Weltkrieg hier geplant, so radikal wie selten jemand in der Schweiz: Bethlehemacker, Tscharnergut, Gäbelbach. Gemeinschaftszentren, Läden, Schulen gleich integriert.

Die zwanzigstöckigen Hochhäuser in Gäbelbach erinnern an eine vergangene Zukunft, an eine Zeit, als man vom schnellen Wachstum zu einer Zehnmillionenschweiz ausging. Keine dumme Strategie, wäre sie nicht vom gleichzeitigen Einfamilienhausboom sabotiert worden.

Hinter den Häusern, an Kaninchengehegen vorbei, gehe ich hinunter zum Bach und durch den Wald nach Hinterkappelen – wieder Hochhäuser. Dann den Wohlensee hinunter. Es ist still. Der Bauernhof am Ufer hat seinen Apfeldirektverkauf schon eingestellt – Frostschäden vom letzten Jahr. Dutzende von Schwänen dümpeln auf dem See, weiss unter dem verhangenen Himmel, und durch die Luft rauscht eine Wolke von Vögeln, die ich nicht identifizieren kann. Die Biber sieht man hingegen nicht, aber es müssen viele sein: Überall am Ufer haben sie dicke Weiden angenagt und gefällt, dünne Äste gleichmässig geschält, die feinen Rindenreste bilden ein kunstvolles Muster aus Zahnabdrücken. Beim Zurückschauen wirken die Wohntürme von Hinterkappelen unwirklich.

Im unteren Teil des Stausees kaum noch SpaziergängerInnen. Nur zwei Mountainbiker kämpfen sich den Zwischenstutz zum Weiler Steinisweg hinauf. Auf beiden Seiten fällt der Wald hier steil zum See ab. Schon als ich vor fast sechs Jahren mit dem Velo hier vorbeikam, auf dem Weg zu einer Kundgebung gegen das AKW Mühleberg, fiel mir das eigentümlich Entrückte dieser Gegend auf. Die uralten Strommasten am Ufer, die Staumauer von 1920 mit dem 120 Meter langen Maschinenhaus, noch ein Denkmal einer vergangenen Zukunft wie das AKW auch, das 2019 abgeschaltet wird – hoffentlich hält die Mauer so lange. Weit und breit keine Durchgangsstrasse, der See halb verlandet, irgendwann wird auch er keinen Strom mehr produzieren.

Eine Landschaft mit seltsamen Bauwerken, aber fast ohne Menschen, zumindest bei Hochnebel. Es fällt leicht, sich vorzustellen, sie könnte, beeinflusst durch die Strahlung des AKW, ein Eigenleben annehmen, wie in Andrei Tarkowskis Film «Stalker» oder Jeff VanderMeers Romanen. Mutierte Wasservögel könnten die Schaltzentralen steuern.

Es wird schon bald dunkel, darum steige ich nach Buttenried hinauf und direkt nach Westen ins Saanetal hinab. Und entdecke zufällig den eindrücklichsten Biberbach, den ich je gesehen habe. Einen Weiher nach dem anderen haben die Tiere gestaut, ungestört von der nahen Autobahn. In der mutierten Welt wären sie die Architekten. Schaltzentralen übernehmen müssen sie nicht – sie bauen selber.

Bettina Dyttrich ist WOZ-Redaktorin.