Lohnschutz: Jetzt ist Blocher was Brüssel

Nr. 5 –

So dreist gab sich die SVP selten, so durchschaubar war sie nie. Anfang Jahr hat die Partei ihre Initiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union lanciert. Diese Woche hat sie vor den Medien ihr eigentliches Ziel erklärt: die Aufhebung der flankierenden Massnahmen zum Lohnschutz.

Angeführt wurde die SVP dabei von Magdalena Martullo-Blocher, die im Family Office der Blochers, das ein geschätztes Vermögen von mehr als elf Milliarden Franken aufweist, neu den Ton angibt. Die flankierenden Massnahmen hätten zu Gesamtarbeitsverträgen mit Mindestlöhnen, Ferienregelungen und Kündigungsschutz geführt, beklagte sich Martullo-Blocher. Bereits jeder dritte Beschäftigte in der Schweiz erhalte einen Mindestlohn. In der Logik der SVP profitiert davon einzig das «Machtkartell» der Gewerkschaften, die aus den Lohnkontrollen eine «Geldmaschine» gemacht hätten.

Mit ihrem Angriff will die SVP das Rad der Zeit in die siebziger Jahre zurückdrehen. Damals war das Saisonnierstatut in Kraft, das ausländische Beschäftigte auf ihre Arbeitskraft reduzierte und der Willkür der Fremdenpolizei aussetzte. Den Spanierinnen oder Italienern, die den Wohlstand der Schweiz mit aufbauten, war ein Familienleben amtlich verboten. Die Patrons konnten die Beschäftigten jederzeit in SchweizerInnen und AusländerInnen spalten, was ihre kollektive Organisation in Gewerkschaften erschwerte.

Die Abschaffung des Saisonnierstatuts vor fünfzehn Jahren war der wichtigste sozialpolitische Fortschritt in der jüngeren Schweizer Geschichte. Die Personenfreizügigkeit brachte die rechtliche Gleichstellung aller Lohnabhängigen – und damit auch einen grossen Freiheitsgewinn für Menschen mit einem Schweizer Pass: Seither können sie problemlos im europäischen Ausland studieren und arbeiten. Die flankierenden Massnahmen mit ihren Lohnkontrollen verhindern so weit wie möglich, dass in der Schweiz Niedriglohnjobs wie beispielsweise in Deutschland entstehen.

Der Blick auf das Verhältnis der Schweiz zur EU ist oft verstellt vom holzschnittartigen Bild einer unabhängigen Nation hier und eines technokratischen Staatengebildes dort. Im vorliegenden Fall muss man stattdessen von einer Achse Herrliberg–Brüssel sprechen. Es entbehrt nicht der Ironie, dass die Verbündeten der SVP ausgerechnet in der EU-Kommission sitzen, die unter der Dominanz ihrer neoliberalen Stimmen beim Lohnschutz regelmässig Druck auf die Schweiz macht.

Wie auch immer FDP-Aussenminister Ignazio Cassis die Europapolitik angehen will: Der Bundesrat wäre schlecht beraten, wenn er die flankierenden Massnahmen plötzlich zum Pfand in den Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der Europäischen Union machen würde. Innenpolitisch wissen die bürgerlichen Parteien, dass es eine Fortentwicklung der bilateralen Verträge angesichts der Fundamentalopposition der SVP nur mit Unterstützung der linken Parteien und der Gewerkschaften geben kann. Die auffällige Diffamierung der Linken ist der Versuch der SVP, das Bündnis zu brechen. Sie begann vor Martullo-Blochers Attacke auf die Gewerkschaften bereits mit der historischen Märchenstunde von Christoph Blocher über den Generalstreik im November 1918 als eine kommunistische Verschwörung: Arbeitsteilung im Family Office.

Auch aussenpolitisch hätte der Bundesrat die Nase nicht im Wind, wenn er den Lohnschutz preisgeben würde. Wie überall können auch auf der europäischen Ebene die Kräfteverhältnisse kippen. Will sich die EU erneuern und dem Vormarsch der RechtspopulistInnen entgegenwirken, wird sie die soziale Ungleichheit verringern müssen. Geschmeidige liberale Politiker wie der französische Präsident Emmanuel Macron fordern bereits einen europäischen Mindestlohn.

Die Diffamierung der Linken durch die SVP hat auch ihr Gutes. Entgegen der gängigen Medienthese, die Linke habe den Kontakt zur Bevölkerung verloren, macht sie eine andere Realität sichtbar: In den Gewerkschaften sind immer noch rund 700 000 Menschen engagiert. Dass die SVP sie gerne wieder in SchweizerInnen und AusländerInnen spalten möchte, ist nicht weiter verwunderlich: Die Volkspartei hat geschätzte 90 000 Mitglieder.