Mark E. Smith (1957–2018): Fiery Mark wird dem Teufel zu schaffen geben

Nr. 5 –

Der Nordengländer Mark E. Smith betrieb mit The Fall ein höllisch verlockendes Angebot von Verweigerung und Welterweiterung, das in der Musikwelt nach Punk heraussticht.

Unaufhörlich knallen The-Fall-Songs, die Titel in Stein gemeisselt, allesamt tauglich für den abgelaufenen Lebensfilm von Mark E. Smith: «Hip Priest», «Fiery Jack», «The Man Whose Head Expanded». Um nur drei zu nennen aus dem gewaltigen, bis zuletzt kohärenten Schaffen des Einmanntriebwerks mit wechselnder Gruppe. 33 Studioalben über 38 Jahre, 100 sollen es inklusive Compilations, Live- und Restealben sein, die Kollaborationen nicht mitgezählt. Unfassbar viel für einen Arbeitersohn aus Salford, der Vater Spengler, die Mutter Pöstlerin, drei jüngere Schwestern, der mit sechzehn die Schule verliess, ein paar Jahre als Packer in den Docks arbeitete, ein Zubrot als Tarotkartenleger verdiente und 1976, inspiriert vom explosiven Auftritt der Sex Pistols in Manchester, aus seiner Dichterstubenrunde eine Band formte.

Ein schmaler Wurf, blitzgescheit und angeblich hellsichtig, der zum Riesen wurde, aber als gnomenhafter Ausserirdischer erschien, im freundlichsten Fall noch als «ET». Er hatte es, als angefressener Leser von Horrorautoren wie HP Lovecraft, mit den Zwergen und anderen Schauergestalten, und jederzeit nahm er das Rennen mit dem Teufel auf, Gene Vincents Rock-’n’-Roll-Song «Race with the Devil» war das erklärte Lebensmotto.

Viel Liebe für den bösen Mann

Immer weiter rennen, darum gehe es bei The Fall, Aufhören bedeute den Tod, sagte er: «Sobald eine Zigarette abgebrannt ist, zünde eine neue an. Sobald dein Glas leer ist, füll es wieder. Sobald ein Album draussen ist, mach ein weiteres. Das ist der einzige Weg.» Die Fans waren mit ihm in der feurigen Falle: Obwohl er ein Kampftrinker, Kettenraucher und Amphetaminfreak war, glaubten sie an eine übermenschliche Kraft. Und an die Gene seiner Working-Class-Familie: Der Grossvater, ein Drucker, Soldat in Dünkirchen, war «verdammte 99» geworden, wie Smith den «Weicheiern» entgegenhielt, «dabei arbeitete er immer durch die Nacht». Einem solchen Textmusikarbeiter, der sich ebenso wenig schonte wie alle andern, traute man zu, den Teufel zu besiegen.

Wie geht Trauerarbeit für einen, auf dessen Musik und Sprechaufnahmen man in allen Momenten zurückgreifen konnte, im Rückzug und im Weitergehen, als Betonhöhle, Ausgangsrampe und zuverlässiger Befreiungsort? Kein einziger Song, an dem irgendeine Erinnerung oder ein Gefühl kleben blieb, das Werk immer da zur neuen Erfahrung, was seine grösste Qualität ist. Der erste Gedanke in der Todesnacht ist ein Nein gegen dieses Abhauen mit sechzig, mit dem allerdings seit Jahren zu rechnen war, zumal sich die Zahn-, Magen-, Leber- und Lungenkrankheiten im letzten Jahr zugespitzt hatten und er die letzten Auftritte nur noch im Rollstuhl absolvierte. Er dürfte sie, als trainierter Geisterbeschwörer bereits ausser oder über sich, genossen haben: Im November in Glasgow habe er, via Rampe auf tragikomische und gleichzeitig triumphale Weise ins Scheinwerferlicht geschoben, das Publikum wie ein shakespearescher König gegrüsst, der seinen Thron zurückerobert.

Man bedauert, nie in seinem Quartier in Prestwich herumgeschlichen zu sein, und fragt sich dummes Zeug: Hat er – «Don’t Call Me Darling» auf dem Plattenteller – wirklich kein Liebeslied geschrieben? (Nein, aber immerhin Wanda Jacksons «Funnel of Love» gecovert.) Haben ihn tatsächlich Iggy Pop und fast alle seine verschlissenen sechzig Bandmitglieder überlebt, sogar jene, die dem Heroin verfielen, aber wurde er wenigstens älter als Gene Vincent? (Ja, um vierzehn Jahre.) Man verliert sich im Strom von Nachrufen und Trostofferten auf allen Medienkanälen, leider versteht man kein Isländisch und Griechisch, liest atemlos, was MitstreiterInnen wie Exfrau Brix und namhafte MusikerInnen meinen, ganz besonders jene, die wie der New Yorker Jeffrey Lewis mit eigenwilligen Fall-Hommagen aufgefallen waren. So viel Liebe für den oft so bösen Mann, so viel Sprachlosigkeit für die Sprachschleudermaschine.

Primitiv und intelligent

Man schnappt nach heiteren Anekdoten und den irrwitzigsten Aussagen des sarkastischen Sängers, tausendfach werden sie in der Trauergemeinde verbreitet, die wertkonservativen Kommentare zur modernen Hölle auf Erden: «Die Leute haben ihren eigenen Geruch verloren. Alle baden sie zu viel.» Was er als Premierminister täte? «Den Zigarettenpreis halbieren, die Steuern auf gesundes Essen verdoppeln, dann Frankreich den Krieg erklären.» Der Krieg bleibt einem im Hals stecken, weil er nie davon lassen konnte, Nachkriegskind im armen Nordengland, mit einer besonderen Faszination für die britische Armee, aber auch die Wehrmacht und sogar für die Nazis.

Kein Trost jetzt, aber Lachanfälle, etwa nach der Erzählung eines Soundtechnikers, wie sie das berüchtigte Herumschrauben des Diktators an den Verstärkern abgestellt hätten: Sie bastelten ihm ein Supergerät namens DFA («Dynamic Field Adjustment»), mit dem er alle Einstellungen regulieren könne, um ihn dann am Ende der Tournee aufzuklären: DFA heisse «Does Fuck All» und sei nie angeschlossen gewesen. Den Wutanfall möchte man erlebt haben.

In der Falle, kein Suhlen in «weirden» Geschichten über Mark E., genannt MES, keine weitere Pub-Erinnerung eines Journalisten, der doch nur nachplappert, was Freunde wie der Autor und DJ Dave Haslam längst erzählt hatten. «Grotesque» (1980) ist das erste Album, das ich auflege, weil man sich in der Todesstarre entscheiden muss: «C’n’C-S Mithering», mit dem typisch treibenden Fall-Beat, den Michaela Melian auf dem famosen Tributalbum «Perverted by Mark E.» elektronisch verdichtet hat. Eine Lebensversicherung, und dann nächtelang vor und zurück im endlosen Werk der Band, «an der sich alle andern zu messen haben», wie ihr grösster Fürsprecher John Peel früh befahl.

«Anybody there?», ruft MES. «Ist dann mal gut, komm zur Ruh», sagt meine Frau, wie ich ihr erkläre, dass der fast gleichzeitige Gang ins Jenseits von Hugh Masekela, dem südafrikanischen Jazzpionier, und von Ursula K. Le Guin, der US-Science-Fiction-Autorin und Schulkollegin von Philip K. Dick, kein Zufall sein könne (vgl. «Radikale Fantasien» ). Dass der fanatische Dick-Leser Smith von den Verfilmungen nur «Total Recall» habe gelten lassen? So viel unnützes Wissen, winkt sie ab. Dabei interessiert sie sich für die Verhältnisse Smiths, für seinen sechsten Sinn oder seine Katzenliebe, aber 2010 vor der Bühne in Bern schüttelte sie den Kopf: Harald Juhnke im Endstadium, eine tragische Männerexistenz. Statt der manisch-psychotisch spukenden Songs also besser jene aufgelegt, in denen The Fall scheinbar Erlösung finden wie «Time Enough at Last», «Mountain Energy» und «Janet, Johnny + James» – doch ein Liebeslied?

Was lindert den Verlust? Nichts, wie mir Johnny-Cash-Fans nach dessen Tod 2003 sagten: «Viel trinken oder nichts trinken. Oder gesund leben und viel beten.» Das begreift man erst im Moment, wenn einem FreundInnen kondolieren, als ob der ältere Bruder gestorben wäre. Auch für ein Mittelklasse-Kid in einer nebligen Ostschweizer Industriekleinstadt waren The Fall ein unschlagbares Angebot der Verweigerung und der Welterweiterung gewesen. Obwohl – MES lacht sich tot – in meinem Fall alles mit einem Fehler begann: 1980 per Versandkatalog eine Platte der längst vergessenen Punkband The Wall bestellt und dann «Live at the Witch Trials» bekommen, das Debütalbum von The Fall, das mich vom ersten Ton an umwarf.

Natürlich ist, wie ich schnell lernte, der Song «Music Scene» Smiths Absage an die Musikindustrie und an die britische Indie-Pop-Szene, die Cashs gestrecktem Mittelfinger an die Adresse der Countryverwerter von Nashville entsprach. Solche Musik hatte ich noch nie gehört, in dieser Dringlichkeit und trotzdem ständiger Uneindeutigkeit, die frappierend Smiths Forderung «primitive Musik mit intelligenten Texten» erfüllte; fortan hatten es frühere Favoriten wie The Who oder The Jam schwer, und alle, die nachkamen, wie jüngst Protomartyr oder Sleaford Mods, waren daran zu messen. (Natürlich braucht es Ausgleichsbewegungen, nicht umsonst hört ein Fall-Fan gern Langsamkiffcountry von Souled American.)

Teflon im besten Sinn

Im Februar 1983 erstmals livehaftig, The Fall von Zürcher Rec-Rec-Leuten endlich in die Schweiz gelotst, in St. Gallen platziert man sie auf der Bühne des bürgerlichen Hotel Ekkehard, wo noch nie eine Rockband gespielt hat; das Konzert eine funkenzündende Offenbarung, aber die Sympathien sind eher einseitig, eine Horde Vorarlberger Punks verärgert die Band und zettelt Schlägereien an. Man erahnt, dass MES zwar gern mit Deutschland liebäugelt (Sprache, Arbeitsethos, freiheitliche Gastrobetriebe), aber mit der Schweiz wenig anfangen kann. Er wird sich halbwegs regelmässig blicken lassen, zumal der verehrte Lee Scratch Perry im Alpenland lebt, aber das Misstrauen wird bleiben. «This is for all the Swiss in the audience», pflegte er schon 1980 den Song «Middle Mass» anzukündigen. Und er besingt einen Lagerwächter, der sich aus Bergen-Belsen in die Schweiz absetzt («Various Times»), und die Valiumsucht seiner nordenglischen Muttergeneration, geschuldet dem Basler Chemiekonzern Roche («Rowche Rumble»).

Dubiose Schweizszenen, auch sie haben Platz in «The Wonderful and Frightening World of The Fall» (so ein Albumtitel von 1984). Eingebrannt ein «Spex»-Cover aus jener Zeit, mit «Ludwig M. Smittgenstein» gesagt: «Die Welt ist alles, was The Fall ist.» Das Fall-Werk bleibt langlebigster Teflon im besten Sinne, unzerkratzbar, unantastbar cool. Ein unerschöpflicher Steinbruch, eine situationistische Landkarte, die einen auf viele Fährten brachte, genannt nur Namen wie Wyndham Lewis, Arthur Machen, Can, The Seeds oder Captain Beefheart. MES hat die Sammlung wuchern lassen, bis hin zu Lovecrafts «Bergen des Wahnsinns», der Künstler muss dorthin, wo wir uns nicht hingetrauen.

Am Kühlschrank ein viel zitierter «Guardian»-Nachruf mit dem Titel «An Agent of Chaos, Fuelled by Fire», die Würdigungsformel stammt von Kevin Martin aka The Bug. Aber kein Feuerwasser jetzt. Und keine Zigaretten mehr. Neben das MES-Foto am Kühlschrank kommt der Magnetspruch vom «Mens sana in corpore sano». Denn der Teufel ruft weiterhin zum Rennen, Mark E. grinst von der Wand: «Das Teuerste, das ich je kaufte? Menschenseelen sind nicht billig.»