Theater: Die Suche nach der Hauptstadt

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Wie könnte ein Stück über die Europäische Union anders beginnen als mit Regen in Brüssel? Ein Video projiziert Wasserlachen und Regentropfen auf den Theaterboden, und den so gekennzeichneten Platz im Herzen der EU überqueren verschiedene EU-BürokratInnen. Die theatralische Uraufführung von Robert Menasses preisgekröntem Europaroman «Die Hauptstadt» (siehe WOZ Nr. 36/17) ist durchaus ingeniös. Regisseur Tom Kühnel und Dramaturg Ralf Fiedler haben fürs Zürcher Theater Neumarkt das ausufernde Panorama an ProtagonistInnen trefflich verdichtet: 7 SchauspielerInnen verkörpern 23 Figuren. Und die projizierten Bodenpanels liefern einen scharfen visuellen Untergrund.

Bei den Beamten mischen sich soziale und kulturelle Stereotypien sowie zentrale Antagonismen: Nationalstaat versus europäisches Bewusstsein, neoliberale Wirtschaftspolitik versus luftige Kultur. Dazwischen gibt es Glossen über unentzündbare deutsche Angoraunterwäsche oder sprachliche Differenzen beim Umgang mit Schweinen. Kritische Instanz ist der melancholische Österreicher Martin Susman. Umgekehrt repräsentiert dessen Bruder als Präsident des europäischen Schweinezüchterverbands die demagogische, zugleich interessengeleitete Haltung gegenüber der EU.

Ergänzt wird der BürokratInnentanz durch den emeritierten Ökonomieprofessor Alois Erhart und den KZ-Überlebenden David de Vriend. Der Abend spitzt sich zu auf die Frage nach dem Ursprung des europäischen Friedensprojekts. Susman kehrt von einer Gedenkfeier in Auschwitz mit dem Vorschlag zurück, die europäische Idee werde am besten durch eine Versammlung der noch lebenden KZ-Insassen repräsentiert; Erhart schlägt auf einem ExpertInnenforum vor, eine neue europäische Hauptstadt in Auschwitz zu gründen; und de Vriend klammert sich an eine Liste der letzten Überlebenden, bis er in die Demenz versinkt.

Politisch ist das eine produktive Provokation. Theatralisch verengt sich das Spektrum etwas. Aber insgesamt liefert «Die Hauptstadt» einen erstaunlichen Abend, vergnüglich, erhellend, zuweilen beklemmend.

«Die Hauptstadt» von Robert Menasse. Regie: Tom Kühnel. Theater Neumarkt Zürich. Vorführungen siehe: www.theaterneumarkt.ch.