Tocotronic: «Alle müssten alles kriegen»

Nr. 5 –

Ted Gaier von den Goldenen Zitronen trifft Dirk von Lowtzow und Jan Müller von Tocotronic. Ein Gespräch unter Musikerkollegen über Selbstermächtigung, Bandhierarchien, Songwriting, Geldverteilung und Hass. Sowie zur Frage, ob man als weisser Mann überhaupt noch etwas sagen soll.

«Seid ihr eigentlich die geworden, die ihr werden wolltet?»: Ted Gaier von den Goldenen Zitronen (links) im Gespräch mit Jan Müller und Dirk von Lowtzow von Tocotronic.

Ted Gaier: Mir ist aufgefallen, dass ihr als Tocotronic bei vielen Leuten unter dreissig, mit denen ich zu tun habe, immer noch ein sehr starkes Role Model für Selbstermächtigung seid. Eure ersten Stücke handeln von der Melancholie der Spätgeborenen, von der Sehnsucht nach einem kollektiven Raum. Meine These wäre, dass ihr euch diesen Raum mit eurem Publikum quasi selber geschaffen habt.

Dirk von Lowtzow: Ich glaube, das ist ziemlich treffend formuliert.

Jan Müller: Das ist ein schönes Kompliment. Ich glaube, wir haben sehr lange gebraucht, um dahin zu kommen, wo wir jetzt sind. Wir haben auf einem fruchtbaren Boden anfangen können, in den Hamburger Musikzusammenhängen, wo es wenig Neid gab. Die Szene war von einem gegenseitigen Interesse geprägt, aber auch von einer Strenge. Damals dachte man ja fast, es trennt einen eine Generation von Bands wie den Goldenen Zitronen, Blumfeld oder Cpt. Kirk &. Aber so weit war man ja gar nicht auseinander.

Gaier: Ihr hattet ja schon ein bisschen das Gefühl der Eingemeindung, oder? Ich weiss noch, wie ich dich mal gefragt habe, ob ihr bei einem Solikonzert für RAF-Gefangene mitmachen wolltet, da meintest du: «Wir sind noch nicht so weit.»

Müller: Echt? Guck mal, das war ja schon halb entschuldigend. Heute würde ich das wohl anders begründen. Aber klar, wir haben eine sehr grosse Angst vor Vereinnahmung von jeglicher Seite. Nicht nur von kommerzieller.

Von Lowtzow: Ja, dieses Zu-spät-geboren-Sein. Es ist schon eine sehr postmoderne Erfahrung, dass man das Gefühl hatte, diese authentischen Jugendkulturen oder Rockgenres gebe es mit dem Tod von Kurt Cobain oder der Kommerzialisierung von Grunge nicht mehr. Das war ein Endpunkt, und ich glaube, wir waren sehr ähnlich gestrickt wie viele amerikanische Bands zu der Zeit. Dass man über das eigene Scheitern singt und sich dadurch selbst ermächtigt. Von Smog gab es eine Single: «It’s not gonna be a hit, so why even bother».


Gaier: Was für Voraussetzungen muss man mitbringen, damit man als Projektionsfläche für andere taugt? Fühlen sich die Leute vielleicht von diesem «Du» angesprochen, das bei euch ja immer die häufigste Form der Ansprache ist? Das «Du» ist dabei immer sehr offen gehalten: Es kann eine gedachte Zweisamkeit sein, ein Liebes-Du. Aber auf der neuen Platte auch die Gitarre, die Stadt Berlin und so weiter. Der vereinsamte Jugendliche im besungenen Reihenhaus kann sich angesprochen, ermächtigt und als Mitverschwörer fühlen.

Von Lowtzow: Die Deutungsoffenheit ist uns schon immer wichtig gewesen, aber das ist ein Allgemeinplatz.

Müller: Wir haben beim aktuellen Album stark daran gearbeitet, diese Offenheit auch wirklich zu schaffen.

Von Lowtzow: Weil alles auch ein bisschen verknappt ist, dadurch lässt es Raum. Es ist nicht vollgeschissen mit lauter Zeug.

Müller: Auch wenn das Album eine Biografie ist, sollte es nicht geschwätzig sein. Das fällt mir bei deutscher Popmusik echt oft auf, da wird erzählt, und ich will das alles gar nicht hören.

Von Lowtzow: Unsere Arbeitsweise ist ja so, dass ich die Texte schreibe und anbiete, das passiert bei mir meist geistesblitzhaft. Meistens nehme ich die Sachen dann mit Gitarre auf und schicke sie Jan, und dann beginnt der Lektoratsvorgang. Ich glaube, das Lektorat, das Jan hier verkörpert, das ist auch Zensur und Selbstzensur. Das ist total wichtig, denn ich neige ohnehin zur Geschwätzigkeit, auch in den Texten. Manchmal ist dann gleich der Daumen hoch, super, oder manchmal, wenn ich Pech habe, auch nicht. Das ist ein sehr spannender Vorgang, weil er teilweise auch sehr erschütternd ist. Man legt sehr viel Hoffnung rein, man hat ja immer das Gefühl, das ist jetzt das genialste Stück aller Zeiten.

Müller: Das ist für mich auch schwierig, weil meine Rolle auch nicht immer so dankbar ist. Natürlich ist es immer mit einer Kränkung verbunden, wenn man kritisiert. Aber es nützt uns sehr, dass wir uns so gut und lange kennen.

Von Lowtzow: Ich verhalte mich dann wie in «Die Massnahme» von Brecht, ich nehme mein Schicksal an.

Gaier: Wie der junge Genosse, der liquidiert wird. Das betrifft dann nur euch beide?

Müller: Meistens ja.

Gaier: Bei den Goldenen Zitronen, wo Schorsch Kamerun und ich gleichberechtigte Texter sind, verhandeln meist auch nur wir beide. Aber es ist wirklich schwer, da Verletzungen rauszuhalten.

Müller: Genau, man kommt sich in dieser Lektoratsrolle – wobei ich diesen Begriff schon ein bisschen hochtrabend finde, entschuldige, Ted – wie ein Geier vor, der sich auf so eine Sache stürzt und das Beste rauspickt.

Gaier: Aber mit dieser Aufgabenverteilung steht ihr nicht in Konkurrenz. Manchmal habe ich das mit Schorsch. Da kollidieren die Verletzlichkeiten im Sinne von: «Okay, aber dieser andere Text von dir war auch nicht so gut … Ätsch.»

Von Lowtzow: Ich weiss nicht, ob das bei uns so lange funktioniert hätte. Wir sind natürlich ein Kollektiv als Band, aber natürlich haben sich durch diese Gruppendynamiken wie bei allen Bands Strukturen rausgebildet, sodass jeder seinen Part gefunden hat.


Gaier: Ich glaube, man kann als Band nur bestehen, wenn jeder seine Rolle irgendwann findet und die Behauptung vom Kollektiv eine weitergedachte ist, was nicht unbedingt heisst, dass jeder kompetent und engagiert in allen Bereichen sein muss. Es gibt ja ganz einzigartige Kompetenzen, wie auf eine bestimmte, sehr spezielle Art Schlagzeug zu spielen.

Von Lowtzow: Ich glaube, in vielen Bands gibt es auch viel Neid. Den muss man sich halt irgendwann abgewöhnen. Es wird einem schon narzisstisch auf die Schulter geklopft, wenn man vom Bühnenlicht zum Erfolg getragen wird. Irgendwann muss man sehen: Wem gilt jetzt eigentlich der Applaus? Und wofür?

Gaier: Das ist ja der klassische Konflikt, dass sich eine Band als Kollektiv präsentiert und, egal wie sehr man sich auf den Kopf stellt, der Sänger dann doch immer als Frontmann wahrgenommen wird. Das ist ja auch bei jedem Fototermin so.

Müller: Schon, aber irgendwann fing ich an, mich zu fragen: Will ich wirklich immer dagegen arbeiten? Will ich jetzt da vorne stehen auf dem Foto, ist das nicht auch ein bisschen eingebildet?

Gaier: Dirk, du hattest mir mal erzählt, dass ihr alle Einnahmen durch alle teilt. Ist das so? Das interessiert mich natürlich, weil darüber normalerweise niemand reden will.

Müller: Im Grossen und Ganzen stimmt das.

Von Lowtzow: Wir hatten von Anfang an das Gefühl, alle müssten alles kriegen. Ich glaube, das kommt auch daher, dass wir auf den ersten Platten so viele Stücke einfach so rausgehauen haben. Das war so ein jugendlicher Überschwang, und natürlich kam es auch von einem gewissen Überbau, diesem Tod-des-Autors-Ding. Wir waren schon früh – so naiv und kindlich wir waren – bewusst oder unbewusst von postmoderner Theorie geprägt.

Gaier: Klar, erst mal habe ich das auch so gesehen. Aber später habe ich selber dann irgendwann dafür plädiert zu sagen: Nee, eigentlich ist es nicht gerecht. Ich rede ja wirklich nur vom Arbeitsaufwand, von der Zeit, in der ich ja auch nicht anderswo Geld verdienen kann. Denn manchmal sitze ich zum Beispiel ein Vierteljahr an einem Text, und so eine Platte komponiert man in ein paar Wochen.

Von Lowtzow: Wir hatten eben die Stücke so schnell geschrieben, als hätte man sie gar nicht geschrieben. Ich dachte, irgendwie sind die von uns allen, und dann hat man das einfach beibehalten.

Gaier: So was geht vielleicht nur, solange man als Band wirklich funktioniert.

Von Lowtzow: Ich würde eher sagen, umgekehrt. Man funktioniert deshalb als Band so lange, weil das im Grossen und Ganzen so aufgeteilt wird. Es gibt eine Schieflage, wenn du drei oder vier Leute hast, und einer verdient einfach wesentlich mehr, weil es der Songwriter und der Texter ist.

Gaier: Okay, das ist bei uns anders, wir komponieren ja kollektiv.

Von Lowtzow: Das ist vielleicht rein rechtlich total richtig, weil der Songwriter die Arbeit ja auch gemacht hat, aber in der Regel ist derjenige dann auch noch der Sänger, wo wir die Schieflage sowieso schon festgestellt haben. Ich glaube, es ist nicht ausschliesslich die Ökonomie, aber es ist schon ein Grund dafür, dass es Tocotronic so lange als Kollektiv gibt. Weil es diesen Willen gibt, alles zu gleichen Teilen aufzuteilen.

Gaier: Gab es bei euch eigentlich mal eine Situation, in der ihr so richtig angekotzt wart voneinander?

Von Lowtzow: Eigentlich kann man das nicht sagen.

Gaier: Mich wundert, dass ihr euch immer einig zu sein scheint, wohin es gehen soll. Wir haben bei den Goldenen Zitronen ja den Anspruch, immer wieder eine neue Idee von Musik und vom Musikmachen auszuprobieren, was dann auch immer wieder die Rollen durcheinanderwirbelt. Und so ist es in der Vergangenheit eben passiert, dass jemand an einem bestimmten Punkt sagte: «Nee, das ist nicht mehr so mein Ding.»

Müller: Uns bereitet es immer sehr viel Freude, an so einer Platte zu arbeiten. Es ist fast wie Sudoku, so ein Album zu erschaffen. Das geht von den Texten zur Musik zum Grafikdesign und selbst noch bis zum Facebook-Post.

Von Lowtzow: Es macht uns am meisten Spass, wenn alles am Schluss aufgeht wie eine Gleichung.


Gaier: Seid ihr eigentlich die geworden, die ihr werden wolltet? Als Gruppe und auch individuell?

Müller: Das ist eine schwierige Frage. Als Band würde ich zum jetzigen Zeitpunkt sagen, ich bin grad sehr zufrieden damit. Aber wenn ich jetzt auf manche Sachen zurückblicke, ist das alles zwar ganz schön, aber es ist mir nicht mehr so nah, wie es damals war.

Gaier: Es gibt ja auch Leute, die hassen ihre ersten Werke.

Müller: So sind wir nicht, auf keinen Fall.

Gaier: Oder denken, das war ein völliges Missverständnis oder da hat uns der Produzent alles befohlen, das waren wir noch gar nicht.

Von Lowtzow: Das war bei uns alles nicht der Fall. Ich finde schon, es gab einen Zeitpunkt zwischen 1996 und 1997, da war mir nicht so richtig klar, ob das die Band war, die ich hätte werden wollen. Weil wir das Gefühl hatten, da setzt so eine Verkultung ein, und hier geht es nicht mehr wirklich um die Kunst. Ich weiss, das klingt etwas pathetisch jetzt.

Gaier: Eine andere Frage, die mich gegenwärtig beschäftigt: Wenn ich mir heute imaginiere, eine Band zu gründen, dann würde ich das natürlich nicht mehr mit vier weissen Männern machen. Vor allem, weil das meinem Lebensumfeld gar nicht mehr entspricht. Ich hab in Projekten zum Beispiel viel mit afrikanischen Leuten zu tun, mit queeren Leuten und mit Frauen natürlich sowieso. Die Frage gab es ja damals auch schon, «Warum seid ihr eigentlich nur Männer in diesem Hamburg in der Musikszene?», und meine Antwort war dann immer: Ja, das sind Typen, die machen die Musik, aber guck mal Deborah Schamoni, die macht die Videos, oder Myriam Brüger vom L’age-d’or-Label und etliche andere, die wichtiges Zeug machen. Aber irgendwie war das keine besonders überzeugende Antwort.

Müller: Nee.

Gaier: Und dann gibt es Platten, die heissen zum Beispiel bei euch «Wie wir leben wollen». Man macht einen Slogan, mit dem sich zig Leute identifizieren. Aber diejenigen, die das raussenden, sind erst mal vier weisse Männer, auch wenn die sich eben nicht als Männergesellschaft denken. Und klar gibts bei euch immer auch diese Queerness, aber für mich ist das gerade bei der Arbeit an unserer neuen Platte ein Riesending, sodass ich mich frage: Als wer kann ich noch sprechen und für wen? Sollte ich nicht einfach zurücktreten und meine Plattform an andere abgeben, die vielleicht auch mal ganz andere, neue Sachen zu sagen hätten?

Müller: Die Frage ist natürlich gerechtfertigt, und die gibts bei uns selbstverständlich auch, aber ich finde, irgendwann kann sie auch sehr selbstzerfleischend oder selbstverleugnend werden. Da kommt man in dieses ganze Critical-Whiteness-Fahrwasser, das ich irgendwie …

Gaier: Ich stelle mir diese Fragen gar nicht unbedingt theoretisch, diese Konflikte und Fragestellungen tauchen ganz automatisch dadurch auf, dass ich nicht mehr nur mit Leuten lebe und arbeite, die weiss und männlich sind.

Von Lowtzow: Dann müsstest du das Bandgefüge, in dem du bist, in letzter Konsequenz …

Gaier: … auflösen, klar.

Von Lowtzow: Nicht dass ich dir das nahelegen möchte. Aber dann müsstest du sagen: Ich bin jetzt unterwegs als die Einzelperson Ted Gaier und kooperiere mit anderen Leuten, das sind dann vorzugsweise Nichtweisse, und so weiter.

Gaier: Genau, daher spiele ich ja auch beim Schwabinggrad Ballett. Nur ist das Enttäuschende: Da haben wir eben nicht dieselbe Plattform. Da kriegen wir dann fünf begeisterte Reviews, die «superwichtig» sagen, aber das wars dann. Bei Bands wie Tocotronic und den Zitronen kriegst du 200 Artikel.

Müller: Da möchte ich ein bisschen widersprechen. Es gibt ja nun Bands, die irgendwie fernab dessen funktionieren. Was fällt mir da ein, Seeed zum Beispiel.

Gaier: Klar, in anderen Generationen ist das alles normaler geworden. Ich weiss aber nicht, ob Seeed das richtige Beispiel ist, aber die aktuelle coole britische Bassmusik wiederum ist total hybrid, multiethnisch und multisexuell.

Müller: Wir sind halt in dieser Formation entstanden, und ich finde, es ist herrlich für uns, dass wir so weit gekommen sind. Wir versuchen, das in unserem Umfeld natürlich auch ein bisschen aufzubrechen.

Von Lowtzow: Es gibt auch Versuche, das textlich anklingen zu lassen, gerade «Wie wir leben wollen» ist als Platte auch sehr stark von queeren Theorien durchdrungen. Aber es ist schwierig, mehr zu versuchen, als diese Theorien durch einen durchsickern zu lassen, ohne sich selber als Individuum völlig auszulöschen. Auch das Zurücktreten, jemand anderem den Platz einzuräumen, das alles finde ich sehr interessante Ideen, wir haben sie in Stücken wie «Im Keller», «Exil» und «Alles was ich immer wollte war alles» durchexerziert. Wenn man sie in letzter Konsequenz vollziehen würde, gäbe es die Band nicht mehr. Das wird dann zur Marcel-Duchamp’schen Strategie: Aufhören, Künstler zu sein. Nur noch atmen.

Gaier: Interessant finde ich bei euch, dass eure Dissidenz selten über Hass, sondern eher über Melancholie oder eine leicht aristokratisch-bohemistische Arroganz geht.

Müller: Wir haben auch jetzt bei dem Album viel darüber diskutiert. Über Hass und welche Berechtigung der hat. Wie die Zeiten gerade sind, habe ich eher eine Aversion gegen Hass, weil das durch die Wutbürger und die Pegida-Szene besetzt ist. Es gibt schon viele Sachen, über die wir uns aufregen, aber das zu kultivieren, finde ich ein bisschen einfach.

Von Lowtzow: Vor allem über die Jahre. Der erste Satz auf dem ersten Album hiess ja schon: «Ich weiss nicht, warum ich euch so hasse.»

Gaier: Aber das ist eher ein resignierter Hass, aus der Position der Schwäche. Da spricht ein Individuum und nicht die Volksgemeinschaft.

Von Lowtzow: Klar, aber ich finde trotzdem, der Hass ist mittlerweile usurpiert durch das Wutbürgertum. Wenn du Hass in den achtziger Jahren benutzt und affirmiert hast, dann war das ja auch Punk: gegen dieses Hippieding, das schon total durchkommerzialisiert war und zu einer neoliberalen Esoscheisse geworden war. Oder nimm Morrissey mit «Viva Hate». An Morrissey kann man sehen, wohin es führen kann, wenn Hass zu einem Selbstzweck wird. Man kann in ein sehr reaktionäres, gefährliches Fahrwasser kommen. Michel Houellebecq würde mir da auch einfallen.

Gaier: Ich habe eure neue Platte jetzt ja dreimal gehört, und wenn ich jetzt die Titel lese, habe ich die Melodie im Ohr. Das passiert mir sonst selten. Warum seid ihr eigentlich nicht öfter im Radio?

Jan Müller: «Wie die Zeiten gerade sind, habe ich eher eine Aversion gegen Hass.»
Dirk von Lowtzow: «Es macht uns am meisten Spass, wenn alles am Schluss aufgeht wie eine Gleichung.»

Müller: (Lacht.) Das fragen wir uns auch.

Tocotronic: Die Unendlichkeit. Vertigo Berlin. 2017

Zum Gespräch

Sie waren gegenseitige Fans und Teil der Musikszene, die in den 1990er Jahren «Hamburger Schule» genannt wurde. Ihr Hauptmerkmal war bei allen musikalischen Unterschieden der Versuch, in den Songtexten diskursiv auf Pop und Politikdebatten Bezug zu nehmen. Die seit 1984 bestehenden Goldenen Zitronen mit ihren Textern Ted Gaier und Schorsch Kamerun hatten unter dem Eindruck des nach rechts driftenden vereinten Deutschland begonnen, an einer linken Ästhetik zu arbeiten, die sich missverständlichen Vereinnahmungen entzieht.

Tocotronic wurden 1993 von Sänger Dirk von Lowtzow, Bassist Jan Müller und Schlagzeuger Arne Zank gegründet. Nach Lo-Fi-Alben mit sloganhaften Songs entwarfen sie gemeinsam mit Gitarrist Rick McPhail einen verrätselten Kosmos. Auf dem neuen Album «Die Unendlichkeit» halten sie autobiografisch Rückschau. Gaier, von Lowtzow und Müller trafen sich aus Anlass des neuen Tocotronic-Albums in Berlin zum Gespräch.

Tocotronic: «Die Unendlichkeit» : Das Leben als Lücke

«Das ist keine Erzählung, das ist nur ein Protokoll. Doch wir können davon lernen, wie wir leben wollen», sang Dirk von Lowtzow auf dem vorletzten Album von Tocotronic. Und nun dies: Die neue Platte «Die Unendlichkeit» ist kein Protokoll, sondern eine Erzählung des eigenen Lebens, linear von der Kindheit bis in die Jetztzeit. Hat von Lowtzow gerade der Postmodernität abgeschworen, die ihn wohl wie keinen anderen deutschsprachigen Songwriter auszeichnete, fällt die Band dem Regress auf die gemütliche Nostalgie anheim, den sie stets bekämpfen wollte?

Zu leiernder Rummelplatzmusik erklingt ein Lied über die Angst eines Kindes vor fremden Stimmen und ihre verlockende Faszination. Es folgt die Aneignung einer anderen Identität mit den heulenden Riffs der elektrischen Gitarre im Keller des Elternhauses und bei Apfelkorn an der Bushaltestelle: «Wir finden uns selbst als Anarchisten, als unscharfe Bilder auf Fahndungslisten.» Durch die Kleinstadt zischen die Beschimpfungen als Schwuchtel, was bleibt, ist nur noch der Ausweg in die Grossstadt: «1993 war das Jahr, in dem ich nach Hamburg kam, in dem ich Kontakt aufnahm.»

Nach dem locker herbeigespielten Coming of Age wird es einiges verstörender. Von Lowtzow beschreibt den Tod eines Jugendfreundes, durchlebt Phasen der Einsamkeit, verstrickt sich in eine Sucht, rettet sich in eine Liebe und endet mit der Parole: «Alles, was ich immer wollte, war alles. Verlasst mich nicht.»

Was beim ersten Hören verständlich klingt, offenbart bei mehrfachem Durchlauf Leerstellen, die von den ZuhörerInnen mit eigenen Erinnerungen gefüllt werden können. Was fast schon balladesk tönt, zündet immer wieder kleine Explosionen von popkulturellen Referenzen, von den Beatles in den Kindheitstagen über Gitarrenpop im Aufbruch bis zur gequengelten Imitation des eigenen Lo-Fi-Stils in den Jahren des Durchbruchs.

So erscheint die vermeintliche Biografie doch nur als Spiel. Von Lowtzow rollt sein Leben von hinten auf, um sich und Tocotronic in einen neuen Zustand zu katapultieren, in dem sie im besten Sinn erfahrene KünstlerInnen statt rebellische Rockstars geben können. «Die Unendlichkeit», das mittlerweile zwölfte Album von Tocotronic, ist eines der besten der Band.

Dass authentisch weiterhin nicht gilt, hätte man sich ja schon im grossartigen Opener «Die Unendlichkeit» denken können, wo es wie eine Warnung heisst: «Ich habe dich belogen, vielleicht, und zwar immer dann, wenn wir uns am nächsten waren, voller Zuneigung und Zärtlichkeit.»

Kaspar Surber

Einziges Schweizer Clubkonzert am 9. April 2018 im X-tra in Zürich.