Arbeitszeit: Nur ein paar dringende E-Mails um Mitternacht

Nr. 6 –

Bürgerliche PolitikerInnen wollen das Arbeitsgesetz stark aufweichen. Die Beschäftigten sollen flexibler werden und bei Bedarf auch länger arbeiten. Die Gewerkschaften warnen vor den gesundheitlichen Folgen – und fordern stattdessen eine Verkürzung der Arbeitszeit.

Es ist ein schöner Titel, den der freisinnige Nationalrat Thierry Burkart für seine parlamentarische Initiative gewählt hat: «Mehr Gestaltungsfreiheit bei der Arbeit im Homeoffice». Er suggeriert, dass die Beschäftigten, die ihre Bürotätigkeit mehr oder weniger regelmässig von zu Hause aus erledigen, mit seinen Gesetzesvorschlägen grössere Autonomie bekämen. Sie sollen frei sein, zu arbeiten, wann immer sie wollen. Vergangene Woche hat die Wirtschaftskommission des Nationalrats die Initiative durchgewinkt, nächste Station ist die Schwesterkommission des Ständerats.

Was heisst denn «Fachspezialist»?

Burkarts Initiative hat es in sich: Neu soll jemand im Homeoffice bis zu siebzehn Stunden am Tag (statt wie bisher vierzehn Stunden) arbeiten – auch sonntags. Von Freiwilligkeit steht nichts in dem Vorschlag. Gibt es also viel zu tun, ist für eine Sachbearbeiterin, die von zu Hause aus um 8.30 Uhr mit der Arbeit beginnt, um 17 Uhr nicht einfach Schluss. Sie muss dann möglicherweise, nachdem sie ihr Kind von der Krippe abgeholt, gekocht, mit dem Kind gespielt und es ins Bett gebracht hat, um 21 Uhr nochmals für eine Stunde an den Schreibtisch. Und kann so, wie Burkart erläutert, «dringende E-Mails abarbeiten». Es wäre sogar möglich, dass sie um Mitternacht «noch schnell» ein E-Mail beantwortet und am nächsten Tag um 9 Uhr die Arbeit wieder aufnimmt (nachdem sie Frühstück gemacht, ihr Kind geweckt und es in die Krippe gebracht hat). Denn Burkart fordert mit seiner Initiative auch, dass «Arbeitsleistungen von kurzer Dauer» nicht als Unterbrechung der gesetzlichen Ruhezeit von elf Stunden gelten.

Burkarts Initiative steht nicht allein da. Sie ist Teil einer ganzen Palette von bürgerlichen Vorstössen und Vorschlägen, das Arbeitsgesetz aufzuweichen. So will Ständerätin Karin Keller-Sutter (FDP) die Arbeitszeiterfassung für leitende Angestellte sowie «Fachspezialisten in vergleichbarer Stellung» abschaffen. Nationalrat Konrad Graber (CVP) will für diese Kategorie von Beschäftigten Teile des Arbeitsgesetzes – vor allem Vorschriften in Sachen Arbeits- und Überzeiten – gar ganz ausser Kraft setzen. Auch der gesetzliche Schutz zur Erfüllung von Familienpflichten fiele weg: Ein krankes Kind wäre kein Grund mehr, von der Arbeit fernzubleiben. Zudem will Graber die wöchentliche Höchstarbeitszeit für Beschäftigte generell abschaffen, sofern sie einem Jahresarbeitszeitmodell unterstellt sind. Derzeit beträgt die Höchstarbeitszeit 45 Stunden pro Woche in der Industrie, im Büro und bei den Grossverteilern, für alle übrigen Beschäftigten gilt 50 Stunden.

Sowohl Karin Keller-Sutters wie auch Grabers parlamentarische Initiativen wurden bereits von den entsprechenden Kommissionen beider Parlamentskammern unterstützt. Jetzt werden in den Kommissionen die Entwürfe für die parlamentarische Beratung ausgearbeitet. Wie viele Beschäftigte von den neuen Regelungen betroffen wären, ist umstritten. Die Gewerkschaften befürchten, dass es bis zu 46 Prozent sein könnten. Denn was ist schon ein «Fachspezialist»? Darunter könnte auch fallen, wer nach der Berufslehre noch einen spezialisierenden Lehrgang besucht hat.

Wessen «Flexibilität» für wen?

Der St. Galler Ständerat und Gewerkschaftspräsident Paul Rechsteiner (SP) stellt die Vorstösse von Keller-Sutter, Graber und Burkart in Zusammenhang mit dem bürgerlichen Wahlsieg vom Herbst 2015 und dem «Schulterschluss» der bürgerlichen Parteien. «Das ist ein Grossangriff auf das Arbeitsgesetz», sagt er und macht klar: «Wir sind bereit, das Referendum zu ergreifen.» Tatsächlich ähneln sich die Argumentationen der InitiantInnen: Alle drei behaupten, bei ihren Vorstössen gehe es primär darum, die Autonomie der Beschäftigten zu erhöhen. Homeofficebeschäftigte, leitende Angestellte und FachspezialistInnen hätten generell ein «erhöhtes Bedürfnis nach Flexibilität». Dass es aber vielmehr die Unternehmen selbst sind, die von ihren Beschäftigten mehr Flexibilität verlangen können, wird in der Argumentation ausgeklammert.

Die Vorstösse der bürgerlichen PolitikerInnen werden von einflussreichen Wirtschaftsverbänden flankiert, die sich unter dem Namen «Allianz Denkplatz Schweiz» zusammengeschlossen haben. Mit dabei sind Branchenverbände aus dem Treuhandwesen, der PR-Industrie, dem Beratungswesen und der Informationstechnologie. Präsident dieser Allianz ist Dominik Bürgy, der beim Treuhandkonzern Ernst & Young als Partner arbeitet. Ihr Unternehmen brauche Leute, die auch mal sechzehn Stunden am Tag arbeiten könnten, sagt er in Interviews. Schliesslich gelte es, Deadlines einzuhalten. Dafür könnten die Beschäftigten danach auch wieder längere Zeit kompensieren und sich etwa weiterbilden.

Die Rhetorik von mehr Autonomie verfängt auch bei Angestelltenverbänden. So zeigt sich der Kaufmännische Verband der Schweiz (KVS) offen für Veränderungen im Rahmen eines Jahreszeitmodells, auch wenn ihm die jetzigen parlamentarischen Vorstösse zu weit gehen, wie Geschäftsleiter Christian Zünd der WOZ sagt: «Unsere Mitglieder haben grundsätzlich ein Interesse daran, autonomer zu bestimmen, wann und wo sie arbeiten. Aber das heisst nicht, dass sie mehr arbeiten wollen», sagt er. Der KVS lehne auch Sonntagsarbeit ab. Zudem soll es weiterhin Zeiterfassung geben, «auch aus gesundheitlichen Gründen», so Zünd. Denn nur so würden die Beschäftigten konkret sehen, wenn sie zu viel arbeiteten. Auch gegen die vorgeschlagene massive Ausweitung von Überzeiten wehrt sich der KVS. Hingegen bietet der Verband Hand zu einer «zeitlich beschränkten Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit auf sechzig Stunden», sowie einer «Vereinfachung» von Ruhe- und Arbeitszeitvorschriften.

Gewerbeverband ist noch radikaler

Die Gewerkschaften halten von solchem Entgegenkommen gar nichts: «Es geht im Kern um Sparmassnahmen auf dem Buckel der Beschäftigten», sagt die Unia-Fachsekretärin Christine Michel. Die Unternehmen würden mit einer Flexibilisierung Überzeitzuschläge einsparen und ihre Beschäftigten zur ständigen Erreichbarkeit verdonnern: «Wenn Arbeit und Freizeit vermischt werden, geht das zulasten der Gesundheit», sagt sie. «Von Selbstbestimmung kann in den meisten Fällen keine Rede sein.» Michel verweist auch auf den diskriminierenden Faktor der Vorschläge: «So flexibel, wie das gefordert wird, geht es doch primär um junge Beschäftigte ohne Betreuungspflichten.»

Inzwischen hat sich auch der Schweizerische Gewerbeverband in die Diskussion eingeschaltet. Seine im November präsentierten Vorschläge zielen auf eine Radikalisierung der bürgerlichen Forderungen: Er will die Flexibilisierungsvorschläge auf alle Branchen und Beschäftigten ausweiten. So sollen neu generell fünfzig Stunden als wöchentliche Höchstarbeitszeit gelten. Auch sollen die Pausen- und Ruhezeitregelungen allgemein «flexibilisiert» werden. So etwa soll es möglich werden, dass künftig zweimal die Woche (statt wie bisher einmal) eine Ruhezeit von nur acht Stunden zwischen zwei Arbeitsphasen ausreichen soll.

Die bürgerlichen Vorstösse stossen bei den Gewerkschaften nicht zuletzt auch deswegen auf Ablehnung, weil das Schweizer Arbeitsgesetz im europäischen Vergleich sowieso schon sehr unternehmerfreundlich ist. Auch der Bundesrat schreibt in einem kürzlich veröffentlichten Bericht, dass das geltende Recht es heute schon ermögliche, die «Normalarbeitszeit flexibel zu gestalten». So seien gleitende Arbeitszeiten, Jahresarbeitszeiten und auch Arbeit auf Abruf bereits «weit verbreitet».

Christine Michel fordert deshalb, dass im Arbeitsgesetz im Gegenteil der Schutz der immer flexibler eingesetzten Beschäftigten erhöht werden muss. Eine Unia-Befragung unter Beschäftigten in büronahen Dienstleistungsberufen hat ergeben, dass sich eine Mehrheit wegen der Flexibilisierungstendenzen zunehmendem Stress ausgesetzt sieht und sich in der Freizeit schlechter von der Arbeit abgrenzen kann. Arbeitsrechtliche Standards wie Arbeitszeiterfassung und Überstundenkompensationen würden teilweise nicht konsequent eingehalten.

Michel verweist auch auf den Frauenkongress des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds vom 20. Januar: Dieser fordert in einer Resolution unter anderem familienfreundliche und planbare Arbeitszeiten. Langfristig streben die Gewerkschaften die 30-Stunden-Woche an – mit der 35-Stunden-Woche als Zwischenschritt.