Anna Gabriel: Die Separatistin, die die Republik zurückerobern will

Nr. 9 –

Weil ihr in Spanien bis zu dreissig Jahre Haft drohen, hat sich die katalanische Politikerin Anna Gabriel in die Westschweiz abgesetzt. Wer ist die frühere Sprecherin der Linkspartei CUP? Eine Begegnung.

Hofft in der direktdemokratischen Schweiz auf Verständnis für die Sache der katalanischen Autonomie: Anna Gabriel in Genf.

Die KämpferInnen für die Republik hätten viele Vorzüge, dazu zähle aber gewiss nicht ihr unerträglicher Hang zur Unpünktlichkeit, schrieb einst George Orwell in seinem Bericht über den Spanischen Bürgerkrieg; ständig werde alles auf «mañana», auf morgen also, verschoben, jammerte der englische Schriftsteller, dem solche Unverkrampftheit fremd war.

Anna Gabriel verspätet sich zum Gespräch in einem Genfer Café zwar nicht einen ganzen Tag, aber doch ein paar Minuten – Zeit, die ihre bereits anwesende Sprecherin für den Hinweis nutzt, man möge doch bitte keine Fragen zu Gabriels Frisur oder anderen Äusserlichkeiten stellen. Mit der Presse hat die Katalanin eher zwiespältige Erfahrungen gemacht.

Das liegt vor allem an den spanischen Medien. Für die rechten Blätter des Landes ist die Politikerin aus Barcelona, die zu den prominentesten Köpfen der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung zählt und seit einigen Tagen im Schweizer Exil ist, eine Reizfigur: wegen ihrer Auftritte im Parlament, bei denen sie T-Shirts mit vorlauten Sprüchen trug («Sonne, Paella, Sozialismus»), weil sie Krone und Kapitalismus ablehnt und vermutlich auch, weil sie eine Frau ist und weibliche Aufsässigkeit stets Argwohn provoziert. Wie gross der Rummel um sie ist, lässt sich allein schon daran ablesen, dass in Genf spanische ReporterInnen unterwegs sind, um Gabriels Aktivitäten vor Ort genau zu verfolgen.

Polizeilich gesucht

«Es ist verrückt», sagt die 42-Jährige und verdreht die Augen, als sie schliesslich eintrifft; erst vor ein paar Tagen habe ein spanisches Fernsehteam in Genf einen Beitrag gedreht, in dem zwar nicht sie selbst zu sehen gewesen sei, dafür aber stolz der Stuhl präsentiert worden sei, auf dem Gabriel kurz zuvor gesessen haben soll. Warum sie in ihrem Heimatland dermassen polarisiert, erschliesst sich im Gespräch nicht: Gabriel ist zwar in politischen Dingen entschieden, aber sicher keine Fanatikerin; sie argumentiert ruhig und reflektiert. Ihre ungewisse Zukunft belaste sie, sagt sie, aber sie lacht trotzdem viel, was sie jugendlich erscheinen lässt.

Durch ihre Flucht in die Schweiz hat Gabriel auch hierzulande viel Staub aufgewirbelt. Ihr Fall ist spektakulär: Wegen «Rebellion, Aufwiegelung und Veruntreuung öffentlicher Gelder» drohen ihr in Spanien bis zu dreissig Jahre Haft. Eine gerichtliche Vorladung in Madrid vergangene Woche ignorierte sie, nun wird sie polizeilich gesucht. Allerdings haben die Behörden keinen internationalen Haftbefehl erlassen; die Gefahr, dass sie ausgeliefert werden könnte, besteht zumindest derzeit nicht.

Ideologisch flexibel

Sie sei geflohen, sagt Anna Gabriel, weil sie nicht daran glaube, dass sie ein fairer Prozess erwarten würde; die Öffentlichkeit habe doch längst das Urteil gefällt. Deswegen setzt sie immer dann, wenn sie die «spanische Demokratie» erwähnt, den Begriff mit den Fingern in der Luft in Anführungszeichen. Tatsächlich ist die Zentralregierung in Madrid in den vergangenen Monaten hart gegen die katalanische Autonomiebewegung vorgegangen. Die Bilder davon, wie prügelnde Einheiten der Guardia Civil versuchten, das Unabhängigkeitsreferendum Anfang Oktober zu verhindern, gingen um die Welt; danach setzte die juristische Verfolgung ein, mehrere SeparatistInnen sind im Gefängnis oder im Exil. Der prominenteste Fall ist derjenige Carles Puigdemonts von der Katalanischen Europäischen Demokratischen Partei (PDeCAT): Der Ende Oktober abgesetzte Präsident der Regionalregierung ist schon vor einiger Zeit nach Belgien geflohen, um sich einer möglichen Haftstrafe zu entziehen.

Anna Gabriels Fraktion hatte im Parlament mit Puigdemont paktiert. Sie war Abgeordnete und Sprecherin der Candidatura d’Unitat Popular (CUP), eines linken Bündnisses, das bei den Regionalwahlen 2015 über acht Prozent und damit zehn Sitze errungen hatte – ein beachtliches Ergebnis für eine Partei, die in ihrem Programm dem Patriarchat den Krieg erklärt und sich zum Sozialismus bekennt. Bei der Wahl Puigdemonts zum Präsidenten war die CUP das Zünglein an der Waage, der bürgerliche Politiker verdankte sein Amt letztlich den Stimmen der Linken.

Die CUP gebe es zwar schon ein paar Jahrzehnte, erzählt Gabriel, dass man sich parlamentarisch engagiere, sei aber erst seit kurzem so. In ihrer Partei sei das auch nicht unumstritten. Der Schwerpunkt der politischen Praxis der CUP liege seit jeher auf lokaler Ebene, man versuche, in den alltäglichen Kämpfen der Menschen präsent zu sein. «Die parlamentarische Arbeit ist lediglich eines unserer Standbeine», sagt Gabriel. Wichtige Entscheidungen werden nicht einfach von FunktionärInnen, sondern basisdemokratisch getroffen, die Besetzung von Ämtern rotiert – deswegen hatte Gabriel auch nicht mehr bei den von der Zentralregierung verordneten Neuwahlen kurz vor Weihnachten kandidiert, bei denen die CUP einige Prozentpunkte verlor.

Ein eindeutiges ideologisches Profil habe ihre Partei nicht. «Bei uns gibt es Leute, die überhaupt erst durch die CUP politisiert worden sind, genauso wie es überzeugte Marxisten-Leninisten und Anarchisten gibt», sagt Gabriel. Da die tagtägliche Praxis vor Ort im Vordergrund stehe, habe man kaum Anlass, sich ideologische Auseinandersetzungen zu liefern. Ausserdem sei man keine Intellektuellenpartei wie etwa die LinkspopulistInnen von Podemos, bei der AkademikerInnen den Ton angeben. Überhaupt sei die CUP so etwas wie der Gegenentwurf zu Podemos, sagt Gabriel, da die international viel bekanntere Podemos fast ausschliesslich auf Wahlen fixiert sei.

Anna Gabriel weiss, dass die katalanischen Autonomiebestrebungen im Ausland oft auf Unverständnis treffen – auch in der Linken, wo viele nicht so recht sehen wollen, was an derlei nationalen Ambitionen progressiv sein soll. Ist es denn nicht so, dass viele KatalanInnen deswegen mit der Sezession liebäugeln, weil sie glauben, sie subventionierten den ärmeren Rest Spaniens? Gabriel schüttelt den Kopf: «Ich verstehe nicht, wie man behaupten kann, die Bewegung sei bourgeois», sagt sie. «Schauen Sie doch genau hin, die Banken und die Konzerne sind alle gegen die Unabhängigkeit!»

Die Republik zurückerobern

Natürlich sei sie nicht so naiv zu glauben, alle KatalanInnen seien links, sagt Anna Gabriel. «Aber viele sind offen für Diskussionen, das haben wir in den vergangenen Monaten erlebt.» Der Kampf um die Autonomie der Region sei zwar «sicher nicht der wichtigste Konflikt der Welt», aber doch eine Chance, «die Republik zurückzuerobern» und endlich einen wirklichen Bruch mit dem Erbe der faschistischen Franco-Diktatur zu erzwingen. Sie sei Internationalistin, betont Gabriel, ihr Eintreten für die Unabhängigkeit habe nichts «mit Identität oder Nationalismus» zu tun; im Gegenteil, für die CUP habe der «Respekt vor Differenzen» höchsten Stellenwert.

Anna Gabriel nimmt man ab, dass ihr folkloristische Anwandlungen fremd sind. Dennoch: Weist in Zeiten, in denen überall nationalistische Bewegungen Aufwind haben, der Kampf um ein unabhängiges Katalonien nicht in die falsche Richtung? Anna Gabriel widerspricht auch hier: Der eigentliche Skandal liege darin, dass die EU die Forderung nach katalanischer Autonomie ignoriere, obwohl man doch sonst betone, dass die Union auf demokratischen Fundamenten beruhe. Überhaupt sei das Hauptproblem, dass ökonomische Motive Motor der europäischen Integration gewesen seien. «Es braucht eine Neugründung Europas», sagt Gabriel. «Ich glaube, es ist unrealistisch zu versuchen, in den bestehenden Institutionen eine grundlegende Reform der EU zu erreichen.»

Politisch herrscht in Katalonien derzeit Stillstand. Wie die neue Regierung nach den Wahlen im Dezember aussehen wird, ist unklar. Anna Gabriel verweist darauf, dass das separatistische Lager insgesamt zugelegt habe, auch wenn die CUP Stimmen verlor. In Genf hat sie derweil damit begonnen, Netzwerke zu knüpfen; abhängig davon, wie sich die Dinge in Spanien entwickeln, könnte es sein, dass sie noch lange in der Schweiz bleiben muss. Weil hier die direkte Demokratie so wichtig sei, hofft sie auf Verständnis für die Sache der katalanischen Autonomie. Ausserdem will sie wieder ihre Dissertation angehen, die sie in den vergangenen Jahren der Politik wegen auf Eis gelegt hat. Gabriel ist Juristin, in Barcelona hat sie an der Universität unterrichtet. Thema der Arbeit: das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Der Praxis folgt nun also die Theorie. Wenn auch nicht ganz freiwillig.