Reform der Ergänzungsleistungen: Kontrolliert und unter Generalverdacht bis zuletzt

Nr. 9 –

In der laufenden Session wird die Ergänzungsleistungsreform des Bundesrats debattiert. Die Vorlage droht zu einem Überwachungsinstrument zu verkommen – mit Eingriffen in die Selbstbestimmung.

Nie mehr Ferien an der spanischen Küste? Rechtsbürgerliche ParlamentarierInnen wollen den Anspruch auf Ergänzungsleistungen mit einer strengen Lebensführungskontrolle verbinden. Foto: Ursula Häne

Am Freitag letzter Woche hat die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) des Nationalrats die Vorlage zur Reform der Ergänzungsleistungen (EL) behandelt. Noch in dieser Session wird das Geschäft von den Räten zu Ende beraten. Die Vorlage ist ein Zwitter: Einerseits bringt sie dringende Verbesserungen bei den Mietzinsmaxima, die seit 2001 nicht mehr erhöht wurden: Alleinstehende EL-BezügerInnen können sich heute für ihre Miete maximal 1100 Franken pro Monat anrechnen lassen, Ehepaare 1250 Franken. Die Beträge sollen künftig um maximal 200 Franken steigen – abhängig davon, ob die Betroffenen in grösseren Städten oder weniger gefragten Gegenden wohnen. Den Realitäten auf dem Wohnungsmarkt jedoch werden auch die neuen Beträge bei weitem nicht gerecht; Gewerkschaftspräsident und SP-Ständerat Paul Rechsteiner nannte sie «geradezu schäbig».

Massive Einschnitte

Trotzdem dient die Erhöhung der Mietzinsmaxima als das Pfand, mit dem die rechte Mehrheit im Bern ihre Abbaupolitik vorantreibt: Die Kommissionsmehrheiten von National- und Ständerat haben dafür gesorgt, dass das Geschäft nicht einzeln beraten, sondern in die Reform der EL integriert wurde, mit der der Bundesrat rund 300 Millionen Franken einsparen will. Dass bei den Ergänzungsleistungen zur AHV und IV gespart werden müsse, begründet er mit scheinbar eindeutigen Fakten: Die Zahl der bedürftigen RentnerInnen nimmt seit Jahren zu. In den letzten fünfzehn Jahren haben sich die Gesamtkosten von 2,3 auf 4,8 Milliarden Franken mehr als verdoppelt; ohne Sparmassnahmen dürften die jährlichen Ausgaben bis 2030 auf 7 Milliarden Franken anwachsen.

Letztlich jedoch ist diese Kostenexplosion nicht auf falsche Anreize zurückzuführen –sondern vor allem auf Sparmassnahmen bei der IV: Diese hatten zur Folge, dass der Anteil von IV-RentnerInnen, die auf EL angewiesen sind, von 28 Prozent im Jahr 2003 auf über 45 Prozent im Jahr 2015 angestiegen ist. Bei den AHV-RentnerInnen blieb die Quote im selben Zeitraum konstant bei etwa 12 Prozent. Dass die EL-Ausgaben auch hier steigen, liegt an der demografischen Entwicklung und an den wachsenden Kosten für Heimaufenthalte (siehe WOZ Nr. 6/2017 ).

Reto Wyss, Zentralsekretär des Gewerkschaftsbunds, sagt: «Dass es überhaupt Ergänzungsleistungen braucht, ist ein Versagen unseres Sozialsystems.» Man habe es nicht geschafft, AHV und IV so auszugestalten, dass niemand auf zusätzliche Leistungen angewiesen sei. Nun würden diese infrage gestellt. Und, so Wyss: «Es wird eine Misstrauensdebatte um die EL-Bezüger losgetreten.»

Tatsächlich drohen EL-BezügerInnen massive finanzielle Einbussen: Am einschneidendsten sind die geplante Senkung der Vermögensfreibeträge, die volle Berücksichtigung des Erwerbseinkommens von EhegattInnen und der Abbau bei der Vergütung der Krankenkassenprämien. Die Nationalratskommission will zudem im Gegensatz zur Ständeratskommission auch bei den Kinderkosten sparen.

Das ist aber noch lange nicht alles: Verhandelt wird im Parlament vor allem auch das Selbstbestimmungsrecht: Der EL-Bezug soll künftig mit einer strengen Kontrolle der Lebensführung verknüpft werden. Argumentiert wird unter anderem auf der Basis einer Studie aus dem Jahr 2014 des Bundesamts für Sozialversicherungen. Diese kam zum Schluss, dass rund 33 Prozent der AntragstellerInnen im Jahr 2014 in irgendeiner Form Kapital aus Pensionskassen bezogen hatten. Was die Studie jedoch auch ermittelte: Ein grosser Teil dieser Gruppe befand sich ohnehin auf der Schwelle zu den EL – ob mit oder ohne einen solchen Kapitalbezug. Der Bundesrat will den Kapitalbezug dennoch generell verbieten. Im Gegensatz zur Kommission des Ständerats lehnte das diejenige des Nationalrats ab: Auf Vorschlag von SP-Nationalrätin Barbara Gysi will sie den Bezug auf fünfzig Prozent des Guthabens beschränken. Dafür will die Kommission allen EL-BezügerInnen, die irgendwann einmal Pensionskassengelder bezogen haben, die Leistungen um zehn Prozent kürzen.

«Unglaubliches Misstrauen»

Auch der «Vermögensverzehr» soll künftig mit Kürzungen bestraft werden: bei IV-RentnerInnen mit EL, wenn sie in einem Jahr mehr als zehn Prozent ihres Vermögens ausgegeben haben; bei AHV-RentnerInnen soll diese Regel auch rückwirkend gelten (die Nationalratskommission will dies immerhin auf zehn Jahre beschränken). Dass diese Kontrollmassnahmen tatsächlich einen Spareffekt bringen, glauben Verbände und Kantone nicht. Vielmehr rechnet man mit einer Verschiebung hin zur Sozialhilfe. Marco Medici, Präsident der Vereinigung zur Verteidigung der Rentnerinnen und Rentner (Avivo), sagt: «Die Pläne sind nicht nur völlig unpraktikabel, sondern auch eine unzumutbare Einschränkung der persönlichen Freiheit. Den Versicherten wird ein unglaubliches Misstrauen entgegengebracht. Diese Entwicklung droht uns wohl bald auch in anderen Bereichen, etwa bei der AHV. Alle, die irgendetwas von der Gesellschaft beziehen, sind suspekt. Reiche Steuersünder hingegen lässt man gewähren.»

Die nationalrätliche Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit hat zwar auch Verbesserungen in die Vorlage eingebracht: Sie beschloss etwa, dass über 58-Jährige bei einem Jobverlust künftig in der Pensionskasse verbleiben sollen (wie es auch in der gescheiterten Altersvorsorge 2020 vorgesehen war). Für solche Fortschritte jedoch bezahlt die Linke bei dieser EL-Reform einen hohen Preis.