Überwachung von Versicherten: Die HardlinerInnen drücken im Bundeshaus aufs Gaspedal

Nr. 9 –

Ein Urteil aus Strassburg hat die Überwachungspraktiken der Schweizer Sozialversicherer vorläufig beendet. Nun aber arbeitet das Parlament an einer Vorlage, die noch viel weiter geht – mit Schützenhilfe der Suva.

Alles hat mit einem Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg begonnen: Im Oktober 2016 gab dieses einer Klägerin recht, die sich gegen die Observation durch eine Schweizer Unfallversicherung gewehrt hatte. Der EGMR hielt nicht nur fest, dass die verdeckte Überwachung eine unrechtmässige Verletzung der Privatsphäre gewesen sei. Es rügte die Schweiz auch dafür, dass sie Observationen mutmasslicher SozialversicherungsbetrügerInnen ohne jegliche Gesetzesgrundlagen erlaubt habe.

Der auf Sozialversicherungsrecht und Menschenrechte spezialisierte Anwalt Philip Stolkin hat den bahnbrechenden Entscheid erwirkt. Die Ausgangslage sei glasklar gewesen, sagt er. «Observationen sind ein Eingriff in die Grundrechte. Dass es dafür gesetzliche Grundlagen braucht, die die Verhältnismässigkeit garantieren, lernt jeder Jusstudent im ersten Semester. Mir ist schleierhaft, wie die Schweiz so dilettantisch vorgehen konnte.»

Kein Sinn für Grundrechte

Das Urteil aus Strassburg hatte weitreichende Folgen: Zuerst stellten die Schweizer Unfallversicherer ihre Observationen ein. Im August 2017 kam das Bundesgericht zum Schluss, dass auch für Observationen von IV-BezügerInnen keine ausreichenden rechtlichen Grundlagen bestünden. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) wies darauf die IV-Stellen an, vorerst auf verdeckte Überwachungen zu verzichten.

Im rechtsbürgerlich dominierten Parlament führte dies zu blindem Aktivismus: Obwohl der Bundesrat schon vor dem Urteil aus Strassburg die Schaffung von rechtlichen Grundlagen für Observationen in die Wege geleitet hatte (im Rahmen der Revision des allgemeinen Teils des Sozialversicherungsrechts (ATSG)), drückte die ständerätliche Sozialkommission aufs Gaspedal. Es waren sozialpolitische HardlinerInnen wie FDP-Ständerätin Karin Keller-Sutter und SVP-Ständerat Alex Kuprecht, die mit einer parlamentarischen Initiative den Observationsartikel aus der ATSG-Reform herauslösten – mit dem Ziel, möglichst schnell wieder Observationen zu ermöglichen.

Die Mehrheit der Kommission verschärfte die Vorlage, die auch für die IV und die AHV sowie die Arbeitslosen- und Krankenversicherung gilt. Im Gegensatz zum Bundesrat beschloss die Kommission, neben Bild- auch Tonaufnahmen zu erlauben sowie die Überwachung mit sogenannten GPS-Trackern zu ermöglichen, mit denen sich etwa Autos und Fahrräder orten lassen. All das sollte nach dem Willen der Kommission ohne richterlichen Beschluss möglich sein. Eine Mehrheit will Observationen zudem nicht nur auf öffentlichem Grund, sondern auch auf von dort einsehbaren Orten, etwa auf Balkonen, erlauben. Auch stimmte die Kommissionsmehrheit dafür, Observationen zeitlich uneingeschränkt möglich zu machen.

Der Ständerat hat die Vorlage in der Wintersession nur minimal entschärft: Er beschloss eine Beschränkung der Observationszeit und verlangte zumindest bei GPS-Trackern eine richterliche Verfügung. SP-Ständerat Hans Stöckli sagt: «Die rechte Mehrheit der Ständeratskommission hat das Geschäft an sich gerissen – und dann wurde sehr schnell und sehr einseitig gearbeitet. In den Beratungen wurden nur die Partikularinteressen von kantonalen und eidgenössischen Behörden berücksichtigt. Wir wollten die Grundrechtsproblematik in die Debatte einbringen, fanden aber kein Gehör.»

Stöckli, der an der Ausarbeitung des Nachrichtendienstgesetzes beteiligt war, ist wahrlich nicht als Überwachungsgegner bekannt. Doch er sagt: «Kommt dieses Gesetz so durch, müssen wir ernsthaft über ein Referendum nachdenken. Diese Vorlage gibt zivilen Institutionen mehr Kompetenzen, um mutmassliche Sozialbetrüger auszuspionieren, als wir sie dem Geheimdienst gegeben haben, um den Terrorismus zu bekämpfen.»

Dass eine solche Vorlage, die auch von RechtsprofessorInnen scharf kritisiert wird, im Parlament Mehrheiten findet, hat SP-Nationalrätin Silvia Schenker «erschüttert». Die grundrechtliche Perspektive habe in der laufenden Debatte keinen Platz, sagt sie. «Der Diskurs hat sich in den vierzehn Jahren, in denen ich im Parlament politisiere, enorm verschoben. Der Grundtenor lautet: Wir müssen die Interessen der ehrlichen Bezüger durch möglichst harte Gesetze schützen. Wer Grundrechte ins Feld führt, dem wird unterstellt, dass er nicht im Interesse der Versicherten handelt. Dass immerhin ein Drittel der Observationen zu Unrecht passiert, wird in der Debatte völlig ausgeblendet.»

Die Suva mischt sich ein

Schenker ist Mitglied der Sozialkommission des Nationalrats, die das Geschäft letzten Freitag zu Ende beraten hat. Ihre Kommission hatte sich im Gegensatz zum Ständerat zuerst dafür ausgesprochen, dass richterliche Verfügungen bei allen Observationsmitteln einzuholen seien. Aufgrund eines Mails der Schweizerischen Unfallversicherung (Suva), das der WOZ vorliegt, kippte die Kommissionsmehrheit jedoch diesen Entscheid wieder. Dass sich die Suva so massiv in den Gesetzgebungsprozess einmischt, hält Anwalt Philip Stolkin für höchst problematisch. Die grösste Unfallversicherung der Schweiz sei schliesslich ein staatliches Organ und damit der Allgemeinheit verpflichtet. «Gleichzeitig ist die Suva aber auch eine selbstständige Versicherungsanstalt, deren Grundinteresse es ist, möglichst viele Bezüger abzuwimmeln. Das führt dazu, dass die Suva schamlos für eine Totalüberwachung lobbyiert», sagt er.

Strassburg hat die Schweiz dazu angehalten, grundrechtskonforme Bedingungen für die Observation mutmasslicher SozialhilfebetrügerInnen zu schaffen. In Bern passiert derzeit das Gegenteil. Nun kommt das Geschäft in der letzten Woche der laufenden Legislatur in den Nationalrat. «Ich weiss nicht, ob das der rechten Mehrheit bewusst ist», sagt Hans Stöckli. «Aber wenn wir ein solches Gesetz verabschieden, wird sich der EGMR bald wieder mit der Schweiz befassen müssen.»

Nachtrag vom 15. März 2018 : Gegen Sozialdetektive

Der Nationalrat hat entschieden: Er will wie der Ständerat mutmassliche «SozialbetrügerInnen» rigoroser überwachen als Terroristen. Wer IV bezieht, seine Stelle verliert, einen Unfall erleidet oder auf AHV-Hilflosenentschädigung angewiesen ist, könnte somit beim geringsten Verdacht ausspioniert werden. Erlauben will das Parlament auch Tonaufnahmen, Observationen privater Räume, die von öffentlichen Plätzen einsehbar sind, sowie GPS-Tracker (für die es einzig eine richterliche Genehmigung braucht). Die Gesetzesgrundlage hat das Parlament im Eilverfahren geschaffen – nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im vergangenen Oktober eine Observation für widerrechtlich erklärt hatte. Die Linke hat das Gesetz im Parlament bekämpft – und mit dem Referendum gedroht. Sie tut gut daran, dieses nun zu lancieren: Bei den SteuersünderInnen hat sich die rechte Parlamentsmehrheit wiederholt gegen ein schärferes Vorgehen ausgesprochen. Bei sozial Schwachen hingegen liefern sie sich einen Verschärfungswettkampf, bei dem längst jedes Mass verloren gegangen ist.
Sarah Schmalz