Von Oben herab: Lob der Inkompetenz

Nr. 9 –

Stefan Gärtner ärgert sich über die Bildungspolitik

«Wenn ich noch mal das Wort ‹Bildung› höre, gehe ich spazieren», hat ein Freund und Kollege letzthin dekretiert, und grossen Dank an die Konditorei ums Eck, dass ihre Schokotorte gestern wohl verdorben war und ich, ganz ohne Alkoholeinfluss, jetzt so verkatert und übel am Schreibtisch sitze, wie es meiner Stimmung eigentlich immer entspricht, geht es um das Dauerreiz- und Nervthema «Bildung».

Im Reich war die partielle Einführung von Gesamtschulen in den sozialdemokratischen siebziger Jahren die letzte Bildungsreform, die nichts mit «höher, schneller, weiter» zu tun hatte, mit Beschleunigung, Verdichtung und letztlich Versimpelung nach der Massgabe von Wirtschaftsinteressen. Das Mantra der jüngeren Vergangenheit lautete, dass junge Menschen nicht mehr Zeit als nötig in der Schule und auf der Universität vertrödeln sollen, und beides legte Bologna auch gleich einfachheitshalber zusammen.

Als die ersten Bachelors dann fertig waren, begann sich die Wirtschaft übers halb fertige Humankapital zu beschweren und richteten Unternehmen Trainingsprogramme für Graduierte ein, denen es neuerdings an praktisch allem mangelte, an eigenem Urteil, Selbstständigkeit, Ausdrucksvermögen, sodass der Chef der deutschen Hochschulrektorenkonferenz seine 2012 vorgetragene Kritik an Bologna, an Verschulung und Verengung, mit dem glänzenden Satz krönen konnte: «Die Unternehmen brauchen Persönlichkeiten, nicht nur Absolventen.»

Und damit freilich den Ungeist benannte, der in eine Bildungspolitik eingezogen ist, der es nicht mehr um den Menschen und «die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen» (Wilhelm v. Humboldt) geht, sondern, im reinen Gegenteil, ums Zurichten fürs Kapitalinteresse. Weshalb auch der Schweizer «Lehrplan 21», der nun in den Kantonen Zürich und Bern zur Abstimmung steht, sich bemüht, junge Leute per «Kompetenzorientierung» zu behavioristischen Apparaten umzubauen. Kompetenzen nämlich, schreibt der konservative deutsche Bildungskritiker Konrad Paul Liessmann, haben per se mit Bildung nichts zu tun: «Historisch gesehen wurzelt das Kompetenzkonzept nicht in der Pädagogik oder Bildungstheorie, sondern in der Ökonomie, genauer in dem Bestreben, Arbeitsleistungen messbar, vergleichbar und damit optimierbar zu machen.» Es gehe, klagt er mit Blick auf die Kompetenzrichtlinie der OECD, nicht mehr um Wissen, Erkenntnis und Neugier, sondern «um Bereitschaften, also Haltungen, es geht um die Kontrolle und Steuerung von inneren Beweggründen, willentlichen Intentionen und sozialem Verhalten, und dies mit einem Ziel: ‹Problemlösungen› (…). Alles dient dem Lösen von Problemen und muss deshalb als eine Form von Handlung beschrieben werden können; und alles Problemlösen ist nur dann sinnvoll, wenn es erfolgreich eingesetzt und genützt (…) werden kann.»

Und das weiss ich selbst mit vergiftetem Tortenkopf: dass Bildung, die es nicht auf Freiheit, sondern auf den nackten Nutzen anlegt, vielleicht dem Schweizer Unternehmerverband frommt (und der SVP, mit der ich also mal im selben Boot zu sitzen komme, auch wenn es ihr, versteht sich, nicht um Emanzipation, sondern um den Kantönligeist geht), dass sie aber eben dadurch die Welt zu dem positivistischen Paradies der Dummköpfe und Konsumtrilobiten macht, für das auch das Tablet im Klassenzimmer so gnadenlos einsteht.

Da brauchts dann auch keine Billag mehr.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.