Kino-Film «Eldorado»: Unter den gleichen Sternen

Nr. 10 –

In seinem neuen Dokumentarfilm zeigt Markus Imhoof die europäische Grenzabwehr in eindrücklichen Bildern. Sie erscheint als System, in dem niemand Verantwortung tragen muss. Wäre da nicht eine persönliche Erinnerung.

Decken aus Aluminiumfolie gegen die Kälte: Operation «Mare Nostrum» im Sommer 2014, als Italien die Geflüchteten noch mit Kriegsschiffen aus dem Meer rettete. Foto: Massimo Sestini

Zur Begrüssung in der Schweiz gibt es Mineralwasserfläschchen und Getreideriegel. Die Grenzwächter legen sie auf die Theke zwischen sich und der eritreischen Familie, die eben im Zollgebäude von Chiasso eingetroffen ist, nachdem sie aus dem Zug gewiesen wurde. Freundlich, diese Begrüssungsgeste, denkt man sich, und zudem ein humanitäres Zeichen, der historischen Tradition des Landes verpflichtet. Da nimmt das Mädchen die Fläschchen und die Getreideriegel und schleudert sie durch den Raum. Beschämt blicken sich die Beamten an.

Der wortlose Ausbruch des Kindes liest sich wie ein Kommentar auf die europäische Grenzabwehr, die Markus Imhoof in seinem neuen Film «Eldorado» dokumentiert: Behaltet eure schöne humanitäre Tradition für euch, sie bleibt ja doch nur ein leeres Versprechen! In der nächsten Szene erklären die Beamten der Familie, dass sie wieder nach Italien zurückgeschafft werde, wo ihre Fingerabdrücke bereits registriert sind.

Seinen Film hat Markus Imhoof Giovanna gewidmet. Das Mädchen kam während des Zweiten Weltkriegs in einem sogenannten Kinderzug in die Schweiz, vermittelt durch das Rote Kreuz. Wie Imhoof später erfährt, musste die Schweiz drei kranke kriegsgeschädigte Kinder für jeden jüdischen Flüchtling aufnehmen, dem von den Faschisten die Durchreise zu einem Hafen gestattet worden war: ein Ablasshandel mitten im Höllenlärm des Kriegs. Giovanna bleibt drei Monate bei der Familie Imhoof und kommt wieder zu Kräften. Zwischen ihr und dem kleineren Markus, den sie später in ihren Briefen nur Marcolino nennen wird, entwickelt sich eine Freundschaft, ja eine geschwisterliche Liebe.

Giovanna, diesem Mädchen, das bereits als Jugendliche starb, erzählt Imhoof siebzig Jahre später seine Reise an die europäische Grenze. Es ist sein persönlicher Bezug zum Flüchtlingsdrama, das sich auf dem Mittelmeer abspielt. Die Geschichte von damals verwebt sich mit der von heute, lässt den Zuschauer fragen: Könnte Giovanna nicht auch das kleine Mädchen sein, das heute an der Zollstation in Verzweiflung ausbricht?

Zu Nummern degradiert

Die Grenzabwehr ist nicht von Mitgefühl geprägt, sondern von der Routine dominiert. Auf dem Kriegsschiff der italienischen Marine erhalten die aus dem Meer geretteten Flüchtlinge eine Nummer an den Kragen geheftet. Sie werden von KrankenpflegerInnen in weissen Schutzanzügen untersucht, ihre Fingerabdrücke in einer Datenbank gespeichert. Es sind eindrückliche, bewegende Bilder, die Imhoof auf hoher See einfängt, von den kleinen Menschen, die mit dem Rettungsboot im riesigen Bauch des Kriegsschiffs verschwinden. Auch die RetterInnen wirken überfordert, geben sich mit einem Seemannsgebet Kraft: «Herr des Himmels und des Abgrunds, dem Wind und Wellen gehorchen, wir Männer des Meeres und des Krieges, Offiziere und Matrosen Italiens erheben unsere Herzen zu dir.»

Nummern sind die Menschen bei ihrer Ankunft in Italien, und sie bleiben es auf dem weiteren, beschwerlichen Weg Richtung Norden. Imhoof besucht mit versteckter Kamera ein trostloses Camp von GemüsearbeiterInnen in Italien und die unterirdischen Zivilschutzanlagen, in denen die Flüchtlinge in der Schweiz leben müssen. Arbeiten dürfen sie hier im reichen Land bestenfalls als Putzequipe in orangen Westen. «Einfach Vorsicht bei den Autos!», ruft der Leiter des Arbeitseinsatzes. «Nichts kaputt machen.»

Die Frucht der Ausbeutung

Die Erniedrigung ist möglich, weil doch immer das Versprechen auf ein besseres Leben, auf das Paradies bleibt. Die Menschen, die unterwegs sind, haben dabei das politische Spiel längst durchschaut, das akribisch nach Herkunft und Grund für ihre Reise fragt und mit seiner simplen Trennung in politische und wirtschaftliche Flüchtlinge hochfiktional bleibt. «Was für einen Film wollt ihr haben?», fragt ein Mann Imhoof in einem italienischen Flüchtlingslager. «Gebt mir ein Drehbuch, und ich spiele. Habt ihr ein Drehbuch, das ich lesen kann?»

Imhoofs Film ist längst nicht der erste über die europäische Grenzabwehr. Da war der eher etwas überschätzte «Fuocoammare» (2016) von Gianfranco Rosi über das Leben der Menschen auf der Mittelmeerinsel Lampedusa. In seinen malerischen Standbildern erstarrte die Flüchtlingskrise in allzu grosser Distanz. Da war der leider etwas weniger bekannte «L’Escale» (2014) von Kaveh Bakhtiari, der den Träumen und dem Witz seiner ProtagonistInnen nahekam, die für einen Zwischenhalt in einer Pension in Athen abstiegen. Dass Imhoofs Film verschiedene Schauplätze hat, ist seine grosse Stärke: Das Kriegsschiff auf hoher See, die Camps in Italien und die Bunker hier bei uns in der Schweiz fügen sich zu einem System der Entrechtung zusammen.

Dabei bleibt der Film nicht im hypnotischen Blick auf die Grenze erstarrt, sondern beschreibt die Flucht aus dem Süden auch als Ausdruck des gegenwärtigen Wirtschaftssystems. Der junge Gewerkschafter, der die illegalen LandarbeiterInnen in Italien unterstützt, bringt es auf den Punkt: «Die Tomatenproduktion basiert auf der Versklavung der Afrikaner. Sie ernten die Tomaten, sind unterbezahlt und haben keinerlei Rechte. Die Büchse mit der Frucht der Ausbeutung reist zurück nach Afrika. In Afrika könnten sie ihre eigenen Tomaten anbauen und verarbeiten. Stattdessen kaufen sie Büchsen vom Geld, das ihre Angehörigen aus Italien schicken. Ein geniales System. Genial kriminell.»

Fünf Jahre hat Imhoof an seinem Film gearbeitet, was ihn bereits ein wenig historisch macht: Die Rettungsaktion «Mare Nostrum» mit Kriegsschiffen hat Italien eingestellt, die EU und die Schweiz finanzieren heute die libysche Küstenwache, obwohl diese selbst in den Menschenhandel verstrickt ist: Sie soll verhindern, dass überhaupt Menschen aufs Meer gelangen. Lediglich 18 000 Asylgesuche wurden 2017 in der Schweiz gestellt, ein historischer Tiefststand, während in Syrien weiter Bomben auf die Zivilbevölkerung fallen. Das Boot ist alles andere als voll, ist man versucht zu sagen: Die Boote legen nicht einmal mehr ab.

Ein Koffer für die Ausreise

«Das Boot ist voll» (1981) war Imhoofs Film über die Flüchtlingspolitik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, mit dem er als Regisseur berühmt wurde. Wenn sich ein Vergleich aufdrängt, dann zum Handlungsspielraum der Einzelnen: Ein Wirtsehepaar versteckt im Spielfilm eine Flüchtlingsgruppe, verköstigt sie mit Speck und Eiern, will sie mit dem Motorrad in Sicherheit bringen, auch vor den neugierigen Blicken der Dorfbevölkerung. Die Gruppe wird von der Kavallerie gestoppt und über die Grenze zurück nach Nazideutschland in den sicheren Tod geschickt – und doch gab es den Versuch, sie zu retten.

Auch heute setzen sich viele Freiwillige unermüdlich für Geflüchtete ein. «Eldorado» zeigt aber, wie schwierig es für die Bevölkerung geworden ist, überhaupt in Kontakt mit Geflüchteten zu kommen. Die Männer und Frauen in den weissen Overalls sorgen mit routinierten Griffen dafür, dass sie von der Öffentlichkeit abgeschirmt werden. Alles wirkt so sauber organisiert, dass am Schluss niemand die Verantwortung tragen muss: nicht für die Tausenden von Toten auf dem Mittelmeer, nicht für die Versklavung der Flüchtlinge auf den Gemüseplantagen, nicht für die Gängelung als Putzequipe. Grosszügig zeigt sich die Schweiz nur einmal: Für Flüchtlinge, die ausreisen, gibt es einen schönen neuen Koffer.

Wer denn zuständig wäre für das Unrecht, will Imhoof von einem Mitarbeiter des Staatssekretariats für Migration wissen: «Wer zuständig wäre? Eine gute Frage, ich weiss es nicht.» Giovanna hat da die Antwort längst in einem ihrer Briefe gegeben, kindlich und eindringlich zugleich: «Wir wohnen alle unter den gleichen Sternen.»

«Eldorado» läuft zurzeit im Kino. Markus Imhoof spricht mit Kaspar Surber am Sonntag, 11. März 2018, um 17.40 Uhr im St. Galler Kinok über seinen Film.

Eldorado. Regie: Markus Imhoof. Schweiz/Deutschland 2018