Cisco, Texas: Was vom Ölboom zurückbleibt

Nr. 12 –

Zehntausende zogen Ende des Ersten Weltkriegs in die texanische Prärie, um am grossen Ölboom mitzuverdienen. Nur wenige waren dabei erfolgreich. Notizen von einem Sonntagsausflug – mit einem Blick in die Gegenwart des Fracking.

  • Eine sprudelnde Ölquelle im McElroy Field in Crane County, Texas. Alle Fotos: Courtesy Permian Historical Society Archival Collection, The University of Texas of the Permian Basin, Odessa, Texas
  • Pferdehalter in den Burkburnett Oil Fields in Wichita County, Texas, wahrscheinlich 1918/ 19.
  • Erster Bohrturm auf einem neuen Ölfeld in Winkler County, Texas, 1926.
  • Ölfeld in Ector County, Texas, circa 1929/30.
  • Brennende Ölquelle der Eastland Oil Company in Coleman County, Texas.
  • 1914 wurde in Desdemona Öl entdeckt, worauf der Ort, rund vierzig Kilometer östlich von Cisco, zur Boomstadt mit 16 000 EinwohnerInnen wurde. Aufnahme von 1919.
  • Barackentransport zu den Ölfeldern in Winkler County, circa 1928 bis 1930.
  • Lieferung unterwegs zu den Ölfeldern in Westtexas, circa 1927 bis 1930.
  • Der hölzerne Förderturm wurde 1929 in Loving County, Texas, errichtet und 1966 als letzter seiner Art in den USA ausser Dienst gestellt.

Es ist eine seltsame kleine Stadt, dieses Cisco. Rund 3500 Menschen leben noch hier, umgeben von der weiten Prärie, wo Kühe in der kargen Landschaft stehen. Auf dem Conrad Hilton Boulevard, der staubigen vierspurigen Hauptstrasse, fahre ich durch das menschenleere Zentrum. Die Strasse ist von ein- und zweistöckigen alten Häusern mit verrammelten Ladenlokalen gesäumt. Auch die wenigen stattlichen Backsteinhäuser im Zentrum, wohl gut hundertjährig, machen einen verlassenen Eindruck. Von der Hauptstrasse gehen mehrere gepflasterte Strassen ab, die Löcher darin behelfsmässig ausgebessert. Sie führen an alten, ungepflegten Bäumen vorbei, an meist ärmlich wirkenden Wohnhäusern aus Holz und an Wohnmobilen.

Ein kleiner Trödlerladen an der Hauptstrasse ist das Einzige, was an diesem Sonntagnachmittag in Downtown Cisco geöffnet ist. Vor dem Ladeneingang hängt neben den Flaggen der USA und von Texas auch das Südstaatenemblem, zwischen den hier üblichen Pick-ups steht ein antiker Leiterwagen. Als ich eintrete, werde ich sofort vom Ladenbesitzer begrüsst. Er heisse Dan, Dan Griffith. An der rechten Seite seines Gürtels trägt der stämmige Mann im Pensionsalter einen kleinen Colt mit Perlmuttgriff. Dan zeigt sich hocherfreut, als er erfährt, dass ich aus dem fernen Europa stamme. Dann beginnt er ungefragt die Geschichte von Cisco zu erzählen.

Mobile Arbeiter

Cisco war zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits eine kleine Stadt. Direkt an der Kreuzung von zwei Bahnlinien gelegen, war sie für die Farmer der Umgebung und für Händler zu einem Geschäftszentrum geworden. 1916 liess der frisch zugezogene Henry Mobley ein zweistöckiges Hotelgebäude bauen, um hier als Hotelier zu wirken. Schon bald wurde das «Mobley» von Gästen überrannt. Denn 1917 wurden in der Umgebung von Cisco grosse Mengen Erdöl gefunden – und das just zu einem Zeitpunkt, als wegen des Ersten Weltkriegs Benzin knapp und teuer geworden war. Ob Spekulanten, Glücksritter, Händler, Kellnerinnen, Prostituierte, Facharbeiter oder Handlanger: Alle machten sie sich auf, am Boom teilzuhaben.

Der Beginn eines Ölbooms zeigt sich normalerweise darin, dass sich spekulative Landkäufe häufen. Gerüchte machen die Runde, Händler tauchen auf und bieten Farmern an, ihr Land für einige Zeit zu pachten, grössere Firmen übernehmen wiederum die Pachtverträge der Händler und beginnen mit Probebohrungen. Der Aufbau der Ölanlagen erfordert am meisten Arbeitskräfte: Bohrtürme müssen erstellt, Tankgebäude errichtet und Pipelines verlegt werden. Die Arbeiter verdienen zwar viel, doch das Leben im Ölboom ist teuer. Immer fehlt es an genügend Schlafplätzen und Verpflegung, die Preise dafür schiessen in die Höhe. Die Strassen der Städte sind überfüllt, täglich kommen neue Leute hinzu.

Es gibt unter den Beschäftigten in Zeiten des Ölbooms drei Gruppen: Die «boomers» sind zuerst da. Sie kommen wegen der Aussicht auf einen schnellen Gewinn oder hohe Löhne. Oft haben sie sich auf bestimmte Jobs spezialisiert und können von ihren Erfahrungen profitieren. Sie sind meist jung, flexibel und können sich den oft prekären Lebensbedingungen am besten anpassen. Wenn die Löhne sinken, weil genügend Arbeiter vor Ort sind, ziehen sie in eine andere Gegend. Die klassischen Ölarbeiter – die zweite Gruppe – bleiben länger, oft haben sie ihre Familien dabei. Sie sind lange Schichten, harte Arbeit und schlechtes Wetter gewohnt. Oft haben sie zuvor als Farmer gearbeitet. Wenn an einem Ort der Ölboom vorbei ist, ziehen sie weiter, manchmal gehen sie auch zurück in die Landwirtschaft. Schliesslich zieht der Ölboom auch eine grosse Zahl von «drifters» an, umherziehende Einzelgänger, die meist jeden Job annehmen, den sie bekommen können. Sie bevölkern die Casinos, Saloons und Bordelle, die unweigerlich in der Nähe der Ölfundstellen errichtet werden, sie sind oft betrunken und landen gelegentlich im Knast.

Hiltons Sprungbrett

Griffiths Laden besteht aus einem Gewusel von Gestellen voll mit Büchern, Magazinen, alten Messern, Feuerzeugen, Medaillen und Münzen, Geschirr und Uniformen. An den Wänden hängen mehrere Marilyn-Monroe-Poster. «Die verkaufen sich am besten», sagt er. Fremde, die nach alten Gegenständen aus der Zeit des Ölbooms Ausschau hielten, würden nur wenige auftauchen. Was sie an Cisco am meisten interessiere, sei die verrückte Geschichte des Mobley Hotel.

In Cisco kam der Ölboom 1919 zu einem ersten Höhepunkt. Die Stadt hatte damals gegen 15 000 BewohnerInnen. Es war das Jahr, als auch ein 32-jähriger Mann aus New Mexico in die Stadt kam, mit 5000 Dollar in der Tasche. Nach Öl suchen, draussen auf den Feldern, wollte er nicht. Doch Conrad Hilton wusste: Wo es einen Ölboom gibt, da gibt es viele Möglichkeiten, reich zu werden. Eigentlich wollte er in Cisco eine Bank kaufen, doch ein verkaufswilliger Bankdirektor erhöhte kurzfristig den Preis, was Hilton in Rage versetzte. Er plante, sofort abzureisen, der nächste Zug ging aber erst am anderen Morgen. Er wollte deshalb im Mobley Hotel übernachten, stiess dort jedoch auf eine grosse Menschentraube, die sich um die Rezeption drängte. Alles sei ausgebucht, beschied man ihm, in acht Stunden würden wieder Zimmer frei. Geschlafen wurde im «Mobley» in drei Schichten. Selbst die Stühle in der Lobby wurden vermietet. Hilton verlangte, den Hotelbesitzer zu sehen, und bot an, das Hotel zu kaufen. Mit Henry Mobley traf er auf einen, der glaubte, mit der Ölsuche schneller reich werden zu können. 40 000 Dollar cash, und der Deal sei perfekt. Hilton lieh sich bei Bekannten und Banken 35 000 Dollar und zahlte Mobley innerhalb einer Woche aus.

Conrad Hilton beschreibt 38 Jahre später in seiner Biografie, wie er sich daranmachte, aus dem «Mobley» noch mehr Profit zu schlagen. In der Lobby liess er einen Kiosk einbauen, im Esssaal zusätzliche Betten aufstellen. «Ich wurde zu einem fetten Frosch in einem sich ausweitenden Ölpool», schreibt er. Seinem Personal versuchte er, einen Korpsgeist anzuerziehen, wie er ihn in der Armee gelernt hatte. Die Angestellten sollten stolz auf sein Unternehmen sein. Für Hilton war Cisco der Beginn einer fulminanten Hotelierkarriere. Heute verfügt die Hilton-Gruppe über 4000 Hotels in 93 Ländern. Henry Mobley dagegen setzte die 40 000 Dollar mit einer Fehlspekulation in den Sand und musste wieder von vorn beginnen.

Der Sankt-Nikolaus-Räuber

Inzwischen sitze ich mit Dan Griffith und seiner Frau Shirley im Hinterzimmer des Ladens. Wir trinken Pepsi. Dan sagt, die Ölarbeiter hätten früher oft in Zelten übernachtet, auch im Winter. «Hey, Cisco ist wirklich eine ganz besondere Stadt. Wir hatten hier den grössten Swimmingpool der Welt.» Ein eingerahmtes Bild zeigt an einer Art See Badende und eine riesige Rutsche. Der Pool wurde in den zwanziger Jahren zusammen mit einem Damm gebaut. «Aus der ganzen Gegend sind die Menschen hierhergekommen, um sich zu amüsieren.» Und noch etwas anderes habe Cisco berühmt gemacht: der wohl spektakulärste Banküberfall, den es in Texas je gab. Natürlich kennt Dan Griffith auch diese Geschichte auswendig.

Als Sankt Nikolaus verkleidet, überfiel der ehemalige Häftling Marshall Ratliff zusammen mit drei Komplizen am 23. Dezember 1927 die First National Bank von Cisco. Der Überfall stand unter keinem guten Stern. Schon am Eingang der Bank wurde Ratliff als vermeintlicher Santa Claus immer wieder von kleinen Kindern aufgehalten, die ihm ihre Geschenkwünsche mitteilen wollten. Dann, als die Gangster die Bank stürmten, gelang es einer Kundin, unbemerkt zu fliehen und die Polizei zu verständigen. Umgehend postierten sich der Sheriff und seine zwei Deputies vor der Bank. Weitere bewaffnete Bürger der Stadt schlossen sich ihnen an. Es kam zu einer wilden Schiesserei, bei der mindestens 200 Kugeln abgefeuert worden sein sollen. Mehrere Teilnehmer wurden verletzt, zwei der Polizisten tödlich. Die angeschossenen Bankräuber konnten zusammen mit zwei jungen Mädchen als Geiseln in einem Auto fliehen. Doch schon bald drohte das Benzin auszugehen. Unter Waffengewalt hielten sie ein entgegenkommendes Fahrzeug an und zwangen die Insassen, auszusteigen. Ihre Beute hatten sie bereits verstaut, als sie merkten, dass der Zündschlüssel fehlte. Der vierzehnjährige Fahrer hatte sich mit ihm aus dem Staub gemacht. Sie setzten deshalb die Flucht im ursprünglichen Auto fort, doch ging dabei die Beute vergessen. Einen ihrer Komplizen mussten sie zudem schwer verletzt zurücklassen – er starb am nächsten Tag.

Die Räuber mussten die Flucht schon bald zu Fuss fortsetzen. Die Polizei und herbeigerufene Texas Rangers setzten bei der Jagd erstmals ein Flugzeug ein. Nach einigen Tagen gaben die Räuber völlig ausgehungert auf.

Einer der Räuber wurde schliesslich zu 99 Jahren Gefängnis verurteilt, Ratliff und ein weiterer Komplize zum Tod auf dem elektrischen Stuhl. Ratliff versuchte später, seiner Hinrichtung durch einen Ausbruchsversuch zu entgehen, in dessen Verlauf er einen Wärter tötete. Als man ihn wieder festsetzte, stürmte ein Mob das Gefängnis, zerrte den Sankt-Nikolaus-Räuber ins Freie und knüpfte ihn an einem Laternenpfahl auf.

Der zweite Boom

Dan und Shirley Griffith betreiben ihren Laden seit vierzig Jahren. Shirley arbeitete zudem bis zu ihrer Pensionierung in der Kantine des örtlichen Colleges. Auch Dan hatte dort zwischenzeitlich eine Anstellung. Cisco war nach dem grossen Ölboom, der nur einige Jahre dauerte, schon bald wieder das kleine Provinznest von einst. Ein Boom wird immer auch von der Erwartung nach noch mehr Boom befeuert. Wenn dann aber keine neuen Quellen gefunden und keine neuen Bohrtürme und Pipelines mehr gebaut werden, müssen viele ArbeiterInnen weiterziehen, die Einnahmen der Geschäfte gehen zurück. Versiegen schliesslich die bestehenden Ölquellen, werden aus Boomtowns oft Geisterstädte, wie das nahe Desdemona belegt: Hier lebten Anfang der zwanziger Jahre 16 000 Menschen – heute sind es keine 200 mehr. Cisco konnte sich dagegen behaupten und blieb das kleine Geschäftszentrum für die Farmer der Gegend. Viel Auswahl bei der Jobsuche gibt es allerdings nicht. Über ein Fünftel der BewohnerInnen leben unterhalb der Armutsgrenze. «Zum Glück wohnen die Wilks-Brüder hier», sagt Dan, «die zahlen ordentlich Steuern und spenden viel Geld für Sportplätze und Kirchen.» Nun will auch diese Geschichte erzählt sein.

Anfang des 21. Jahrhunderts begann in Texas ein neuer Energieboom. Mithilfe der sogenannten Frackingtechnik wurde es möglich, an Gas und später auch Ölvorkommen zu gelangen, die fest in den Gesteinsschichten eingeschlossen sind. Dazu werden viel Wasser und diverse Chemikalien ins Gestein gepumpt, um es aufzubrechen. Die Brüder Dan und Farris Wilks wuchsen in Cisco auf und betrieben ein kleines Maurergeschäft. Sie waren die Ersten, die den Energiefirmen die nötige Ausrüstung fürs Fracking lieferten. Das verschaffte ihnen einen entscheidenden Vorsprung gegenüber der Konkurrenz. Schnell wurde ihre Firma Frac Tech zu einem Konzern, der landesweit Aufträge übernahm. 2011, nur elf Jahre nach der Gründung von Frac Tech, verkauften sie die Mehrheit des Konzerns für 3,2 Milliarden US-Dollar. Ein Konsortium von internationalen Investoren, angeführt vom Staatsfonds Singapurs, wollte nun auch vom Boom profitieren. Sie benannten den Konzern in FTS International um.

Aus den Wilks-Brüdern sind so zwei Milliardäre geworden, die nun mit dem vielen Geld grosse Landparzellen in Idaho und Montana kaufen und rechtsgerichtete Organisationen und evangelikale Kirchen unterstützen. Dem glücklosen republikanischen Präsidentschaftskandidaten Ted Cruz spendeten sie vergangenes Jahr fünfzehn Millionen Dollar.

Farris Wilks predigt zudem seit einiger Zeit als Pastor in einer Kirche der Siebenten-Tags-Adventisten. In seinen Predigten geisselt er Homosexualität als grosses Verbrechen. Man müsse die Kinder vor den Perversen schützen. Den Klimawandel hält Farris Wilks für Gottes Wille. Nur Gott allein bestimme, ob die Erdpole weiterhin mit Eis bedeckt blieben oder nicht.

Dan erzählt, dass die Wilks-Brüder sogar einen Flughafen in Cisco gebaut haben, wo Düsenflugzeuge und Helikopter landen können. Ihre Wohnanlage neben dem Flughafen ist mit einer hohen Mauer umgeben und wird von einer privaten Sicherheitsfirma bewacht.

Die Wilks-Brüder hatten eine gute Nase. Drei Jahre nachdem sie ihre Firma verkauft hatten, brach der Gas- und Ölpreis ein. Ein Grund dafür war ein Preiskampf: Saudi-Arabien als Staat mit den weltweit grössten Ölvorkommen hatte seine Fördermenge erhöht und den Markt geflutet, zudem sank wegen einer wirtschaftlichen Stagnation vielerorts die Nachfrage. Steigendes Angebot und sinkende Nachfrage bedeuten tiefe Preise. Für die Frackingindustrie war das verheerend: Wegen der hohen Produktionskosten im Vergleich zur konventionellen Förderung rentierte Fracking nicht mehr. Etliche Förderfirmen mussten Konkurs anmelden, FTS International entliess Hunderte von Beschäftigten.

Doch inzwischen hat der Wind erneut gedreht: Mit dem steigenden Ölpreis und dank rationellerer Abbaumethoden machen die Frackingunternehmen wieder sachte Gewinn. FTS International hat die neue Zuversicht ausgenützt und sich Anfang Februar am Aktienmarkt neues Kapital beschafft. Texas steht vielleicht mal wieder vor einem Ölboom.

Das «Mobley» steht noch

Nachdem ich mich von Dan und Shirley Griffith verabschiedet habe, fahre ich ein paar Blocks weiter zum Ort, wo Conrad Hiltons Karriere begann. Auch Hilton hatte den richtigen Zeitpunkt für den Ausstieg erkannt und das Mobley Hotel 1925 wieder verkauft. Später stand es 25 Jahre leer und drohte zu verfallen. Einen Brief einer Bewohnerin von Cisco, die ihn um eine Spende zur Renovation des Hotels anging, beantwortete Hilton 1968 mit dem abschlägigen Satz: «Ich glaube gerne, dass es immer noch steht, aber ich habe daran kein Interesse mehr.»

Als Conrad Hilton 1979 starb, bekam die Gemeinde Cisco doch noch testamentarisch 1,2 Millionen Dollar zugesprochen, damit sie das Mobley Hotel renovieren könne. Es heisst heute «Conrad Hilton Center» und dient als Museum, das die Geschichte von Conrad Hilton und dem Mobley Hotel erzählt. Sonntags ist es allerdings geschlossen.