Gewerkschaftsbund: Jung, weiblich, digital

Nr. 12 –

Mit Paul Rechsteiner als Präsident des Gewerkschaftsbunds haben die Gewerkschaften soziale Errungenschaften erfolgreich verteidigt. Wer übernimmt nach seinem Rücktritt? Und wie begegnen die Gewerkschaften den neuen Herausforderungen?

Auf die Strasse: Aktion zur Lohngleichheit im Anschluss an den Frauenkongress des Gewerkschaftsbunds im Januar 2018. Foto: Yoshiko Kusano

Es war eine bemerkenswerte Wahl im Herbst 1998. Paul Rechsteiner schaffte sie ohne die Hausmacht einer Gewerkschaft im Rücken. Das war neu. Der St. Galler war mit 46 Jahren vergleichsweise jung, klar links politisierend und kein Gewerkschaftsfunktionär. Nachdem Rechsteiner vergangene Woche seinen Rücktritt angekündigt hat, sagt Vasco Pedrina, zusammen mit Christiane Brunner Rechsteiners Vorgänger im Präsidium und einer der Einfädler seiner Wahl: «Er war einer der besten, wenn nicht der beste Präsident in der Geschichte des Gewerkschaftsbunds.»

An der Sache orientiert, integrativ, strategisch und taktisch klug: Der St. Galler Arbeitersohn, Anwalt und SP-Nationalrat übernahm das Präsidium in einer Zeit, als die Neoliberalen in der Schweiz mit Verspätung gerade an Fahrt gewannen und anfingen, den Sozialstaat anzugreifen sowie BürgerInnenrechte ausser Kraft zu setzen – was sie bis heute, inzwischen mit einer Mehrheit im Parlament, aggressiv tun. Die Schweiz steckte damals in der Krise. Sie erlebte kurz nach dem Zusammenbruch des Ostblocks einen Immobiliencrash, die Wirtschaft lahmte, die Arbeitslosigkeit war hoch, ein Globalisierungsschub zersetzte das Nachkriegsmodell der sozialen Marktwirtschaft und drängte die Gewerkschaftsbewegung in die Defensive.

Erfolge trotz Gegenwind

Der neoliberale Zeitgeist ging so weit, dass er auch die europäische Sozialdemokratie erfasste. In Deutschland und Britannien schufen Gerhard Schröder und Tony Blair mit ihren «Reformen» grosse, mit Steuergeldern subventionierte Billiglohnsektoren. In der Schweiz sind solche «grauen Arbeitsmärkte» bis heute ein Randphänomen geblieben: dies vor allem auch deshalb, weil sich der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) Ende der neunziger Jahren den Angestelltenverbänden öffnete, weil Gewerkschaften fusionierten und der SGB die Kräfte bündelte und sich als referendumsfähige Organisation zu einer politischen Kraft entwickelte, die nicht übergangen werden kann. Und auch deshalb, weil die einst auch fremdenfeindlich geprägte Gewerkschaftsbewegung zu einer bedeutenden migrantischen Kraft der Schweiz geworden ist.

Diese Bündelung der Kräfte, die unter dem Präsidium von Christiane Brunner und Vasco Pedrina beschlossen und während Rechsteiners Präsidium umgesetzt wurde, gelang allerdings nur teilweise: Die christlichen Gewerkschaften sind bis heute nicht Teil des Gewerkschaftsbunds. Und wie alle anderen kollektiven Organisationen, etwa Parteien und Kirchen, verloren die Gewerkschaften Mitglieder.

Inzwischen konnte dieser Abwärtstrend allerdings gestoppt werden. 1999 gelang zudem die Verankerung des Streikrechts in der Verfassung. Der von den Unternehmen faktisch einseitig ausser Kraft gesetzte Arbeitsfrieden war nicht mehr sakrosankt – der Streik ist wieder ein legitimes Mittel zur Durchsetzung der Interessen der ArbeiterInnen und Angestellten geworden. Tatsächlich wird hierzulande seither wieder häufiger und gezielt gestreikt. Ein weiterer Erfolg in Rechsteiners Ära ist der Mindestlohn, der dank zweier Kampagnen der Gewerkschaften faktisch auf 4000 Franken angestiegen ist – trotz der 2014 krachend verlorenen Abstimmung «Keine Löhne unter 4000 Franken».

Einer der wichtigsten Erfolge aber sind die flankierenden Massnahmen. Sie haben die Personenfreizügigkeit sozialverträglich ermöglicht – das Niveau der Löhne im Hochpreisland Schweiz ist damit einigermassen geschützt. Und schliesslich verteidigten die Gewerkschaften zusammen mit den linken Parteien die Altersrenten gegen die seit den nuller Jahren vorgetragenen Angriffe der Rechtsbürgerlichen. Die Abwehr gelang an der Urne. Erfolglos waren die Gewerkschaften hingegen, wenn es um Rentenverbesserungen ging («AHV plus»); auch die sozial nachgebesserte Altersreform 2020 scheiterte an der Urne – Rechsteiner hatte bei der Nachbesserung eine zentrale Rolle gespielt und sich im Parlament damit knapp durchgesetzt. Die Auseinandersetzung beginnt von vorne, der Ausgang ist ungewiss.

Muss es eine Parlamentarierin sein?

Im Vergleich zu den umliegenden Ländern sind diese von dem die Kampagnen führenden Gewerkschaftsbund geprägten sozialen Kämpfe ziemlich erfolgreich: Die Renten sind nach wie vor stabil, grosse Billiglohnsektoren gibt es in der Schweiz nicht. Gute Löhne, gute Renten und Menschenrechte bleiben wichtig – die klassischen gewerkschaftlichen Anliegen. Doch die Folgen der Digitalisierung und die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse stellen die Gewerkschaften vor unwägbare Herausforderungen. Sind sie diesen raschen Veränderungen gewachsen? Und wer wird in die grossen Fussstapfen von Paul Rechsteiner treten und den Gewerkschaftsbund in die Zukunft führen?

Den Primeur von Rechsteiners Rücktritt hatte das «St. Galler Tagblatt», es brachte ein grosses Interview mit dem SGB-Präsidenten. Dieser liess dort eine interessante Bemerkung fallen: Seine Nachfolgerin, sein Nachfolger müsse ja nicht zwingend im Parlament sitzen. Haben sie beim Gewerkschaftsbund bereits eine Nachfolge im Auge? Gewerkschaftliche Anliegen könnte Rechsteiner ja weiterhin selbst im Parlament vertreten, er tritt 2019 nochmals zur Wahl als Ständerat an. Und: Es ist ja mitunter gerade eine der Stärken des SGB, einen direkten Link ins Parlament zu haben und dort im Sinn der Gewerkschaften auf die Bundespolitik einwirken zu können.

Nach Rechsteiners Rücktrittsankündigung spekulierten die Medien über mögliche NachfolgerInnen. Es fielen wenig überraschend die Namen von zwei gestandenen ParlamentarierInnen und – eher überraschend – der eines Regierungsrats: Barbara Gysi, SP-Nationalrätin, SP-Vizepräsidentin und Präsidentin des Bundespersonalverbands; Corrado Pardini, national bekannter Unia-Gewerkschafter und SP-Nationalrat, und Pierre-Yves Maillard, SP-Regierungsrat aus dem Kanton Waadt. Und schliesslich brachte die Gewerkschaftszeitung «Work» noch den jungen Walliser SP-Nationalrat Mathias Reynard ins Spiel.

Hinter den Kulissen fallen auch die Namen von Cédric Wermuth, SP-Nationalrat aus dem Aargau, der den medienwirksamen Auftritt beherrscht, jener der jungen Zürcher SP-Nationalrätin Mattea Meyer und der von VPOD-Präsidentin Katharina Prelicz-Huber. Unia-Präsidentin Vania Alleva wird genannt wie auch Giorgio Tuti, Präsident der Gewerkschaft des Verkehrspersonals. Beide sitzen im Vizepräsidium des Gewerkschaftsbunds. Sie gleisen nun die Wahl auf. Eher unwahrscheinlich also, dass sie sich selber ins Rennen um Rechsteiners Nachfolge stürzen. Überhaupt: Spekulationen sind eine lustvolle Sache, aber acht Monate vor der Wahl nicht mehr als Gedankenspiele.

Potenzial bei den Frauen

Es ist wohl sinnvoller, zunächst darüber nachzudenken, welches die gewerkschaftlichen Herausforderungen der Zukunft sind, und daraus dann ein Profil einer möglichen Nachfolgerin, eines möglichen Nachfolgers abzuleiten. Dabei sind drei Fragen zentral: die Frauenfrage, die Altersfrage und die Frage des Wandels in der Arbeitswelt.

Zur Frauenfrage: Mit Vania Alleva (Unia), Katharina Prelicz-Huber (VPOD) und Barbara Gysi (Bundespersonal) führen bereits heute Frauen Gewerkschaften. Für eine Frau an der Spitze des SGB spräche dennoch, dass die Frauen im Vergleich zu den Männern gewerkschaftlich kaum organisiert und überdurchschnittlich oft in prekären Arbeitsverhältnissen tätig sind. Hier liegt ein grosses, bislang vernachlässigtes Wachstumspotenzial, das allein mit herkömmlichen gewerkschaftlichen Mitteln kaum zu erschliessen ist.

Bezüglich Alter stellt sich die Frage: Muss es zwingend eine sehr erfahrene Person sein? Spielt das biologische Alter eine Rolle?

Mindestens so entscheidend aber wird sein, wie die Gewerkschaften den Wandel der Arbeitswelten antizipieren: Digitalisierung und Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse verändern den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft rasch. Die Digitalisierung vernichtet nicht bloss repetitive Arbeit, sie bedroht mittlerweile Arbeitsplätze für Hochqualifizierte. Wie sollen die daraus resultierenden Produktivitätsgewinne verwendet werden? Welche Antworten haben die Gewerkschaften darauf, dass klassische Arbeitsverhältnisse erodieren? Und wie reagieren sie auf die schleichende Arbeitszeiterhöhung der sogenannten SpezialistInnen, auf die sogenannte Arbeitszeitsouveränität und auf Homeoffice-Arbeit?

Eines zumindest ist klar: Eine Verjüngung der Spitze des SGB wäre eine richtige Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft. Das letzte Wort haben die Delegierten Ende November.