Kunstfreiheit: «Ein starres Auge sieht nichts, weil es auf Dauer austrocknet. Wer nie blinzelt, blickt irgendwann gar nicht mehr durch»

Nr. 12 –

Ein Bild wird abgehängt, ein Gedicht soll übermalt werden – und überall brennen die Sicherungen durch. Ist die Kunst bedroht durch Zensur und Prüderie? Höchste Zeit, ein paar Dinge zu klären.

Von wegen neue Prüderie: Sonia Boyce unterläuft den viktorianischen Kanon in der Manchester Art Gallery mit einer Performance von Dragqueen Cheddar Gorgeous. Foto: Andrew Books @ Manchester Art Gallery

Waren Sie schon mal in Hellersdorf? Dort draussen, an der Stadtgrenze Berlins, so hört man es schon länger raunen, bereitet eine feministische Sekte den Untergang der abendländischen Kultur vor. Ihr Masterplan: Sie will an einer Hauswand ein Gedicht übermalen lassen.

Oder waren Sie schon mal in Manchester? In einem städtischen Kunstmuseum kam es dort kürzlich zu einem unerhörten Vorfall. Ein Bild des viktorianischen Malers John William Waterhouse wurde vorübergehend abgehängt, für eine ganze Woche. Das Werk von 1896 zeigt den griechischen Jüngling Hylas an einem Teich, wo er von sieben barbusigen Nymphen in den Tod gelockt wird. Offen gestanden, das Gemälde war mir bis dahin nicht bekannt gewesen, aber das will nichts heissen. Hiesige Fachkreise waren jedenfalls alarmiert: Die «Weltwoche», bekanntlich eine genaue Beobachterin des britischen Museumswesens, zeigte sich solidarisch mit dem wehrlosen Gemälde und hievte es zum Trotz gross auf die Front; die NZZ sah schlechterdings die Freiheit der Kunst in Gefahr und äusserte sich besorgt über diese «Form von neopuritanischer Zensur». Und Jürgen Kaube, Herausgeber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», fragte bang: «Was, wenn diese Dummheit Schule macht?»

Wobei, mit der Dummheit ist das hier so eine Sache. Und wirklich gefährdet sind in diesem Fall in erster Linie: journalistische Redlichkeit und klares Denken. Das Argument mit der Kunstfreiheit ist dabei ein reiner Strohmann, notdürftig zusammengeflickt aus dem einen oder anderen skandalisierten Einzelfall. Man greift heraus, was einem gerade so zupasskommt für die Verschwörungstheorie von einer angeblich um sich greifenden politisch korrekten Kunstfeindlichkeit. Und das Kampffeld ist in den meisten Fällen: der weibliche Körper und der Blick darauf. Doch der Reihe nach.

Das Märchen von der Zensur

Was also war in Manchester geschehen? Die dortige Art Gallery würdigt die britische Künstlerin Sonia Boyce mit einer Einzelausstellung, die dieser Tage, am 23. März, eröffnet wird. Im Hinblick auf diese Ausstellung wurde Boyce dazu eingeladen, sich im Vorfeld mit der Sammlung des Museums auseinanderzusetzen. Eine solche öffentliche Veranstaltung mit künstlerischen Performances endete am 26. Januar damit, dass besagtes Gemälde abgehängt wurde. An dessen Stelle konnten Museumsgäste während einer Woche auf Notizzetteln ihre Reaktion darauf loswerden: zur Aktion als solcher oder auch zur Frage, wie ein zeitgemässer Umgang mit solchen viktorianischen Frauenbildern aussehen könnte. Das Gemälde hat bei dem sorgsam begleiteten Vorgang keinen Schaden genommen und hängt längst wieder am alten Ort.

Eine künstlerische Intervention also, auf Partizipation angelegt. War das gute Kunst? Ich weiss es nicht, denn ich war nicht vor Ort. Aber eine Form von Zensur? Zensur, ob puritanisch oder nicht, ist immer autoritär. Das Publikum in einer offenen Debatte zur Mitsprache einzuladen, ist das Gegenteil davon.

Und wenn man jetzt an diesem Fall exemplarisch zeigen wollte, dass die Kunstfreiheit bedroht sei: Ist diese Freiheit nicht vielmehr dort gefährdet, wo eine solche künstlerische Auseinandersetzung mit Kunst in Unkenntnis der Sachlage zur Gefahr für die Kunstfreiheit hochgeschrieben wird? Da setzt sich eine Künstlerin also kritisch mit dem Frauenbild der viktorianischen Malerei auseinander – und wird deswegen zur Gefährderin der künstlerischen Freiheit gestempelt. Eigentlich absurd.

Wer hier von Zensur fabuliert, verschleiert zudem, dass auch Museen keine natürlich gewachsenen Organismen sind, sondern auf einer zeitgebundenen konservatorischen Praxis beruhen. Werke werden nach gewissen Kriterien auf- oder umgehängt, im Lager deponiert und wieder hervorgeholt, in einem fortwährenden Prozess, der gegen aussen oft nicht sichtbar wird. Ein Kunstwerk hängt ja nicht einfach im Museum, weil es von Natur aus da hingehört, sondern weil jemand mit der entsprechenden Befugnis und – idealerweise – mit dem nötigen kulturhistorischen Sachverstand das so entschieden hat. Eine Autorität. Und zeichnet sich eine freie Kunst nicht gerade dadurch aus, dass sie auch diese Autoritäten laufend kritisch befragt?

Der historische Wimpernschlag

Aber nein, so ein Akt muss gleich als barbarisch verdammt werden. So geschehen bei Konrad Paul Liessmann, Professor für Philosophie, der sich in einer Kolumne in der NZZ über die «biederen Barbaren» ereiferte und damit der «Weltwoche» das Stichwort lieferte, die fand, solchen «geschichtsblinden Barbaren» sei das Handwerk zu legen. Barbaren sind kulturlose Völker, und sie wurden bekanntlich so genannt, weil sich niemand die Mühe machte, ihre Sprache zu verstehen. Um sich seinerseits die Mühe zu sparen, versuchte Liessmann, gegen die Entfernung des Gemäldes so etwas wie gesunden Menschenverstand ins Feld zu führen: «Wenn ich über Kunstwerke und ihre Ambivalenz, auch über ihre Schattenseiten diskutieren will, muss ich die Werke sehen, wahrnehmen, studieren können.» Das ist an sich zwar richtig, aber für einen Philosophieprofessor doch bestürzend undialektisch gedacht.

Manche Dinge nimmt man ja erst wieder wahr, wenn sie mal eine Weile weg waren. Wenn ein Gemälde, das schon hundert Jahre oder mehr im Museum hängt, für eine Woche abgehängt wird, ist das im historischen Verlauf nicht mehr als ein Wimpernschlag. Und so ein Wimpernschlag – das gehört zur elementaren Schule des Sehens – hilft auch beim Studieren von Kunstwerken gegen Trübungen des Blicks. Ein starres Auge sieht nichts, weil es auf Dauer austrocknet. Wer nie blinzelt, blickt irgendwann gar nicht mehr durch.

Und die Unterstellung, wonach in Manchester versucht wurde, ein Kunstwerk zum Verschwinden zu bringen? Sie implodiert gleich selber, weil sie die bekannten Mechanismen der digitalen Medien verkennt. It’s the Aufmerksamkeitsökonomie, stupid! Von dem Moment an, da das Gemälde im Museum abgehängt wurde, war das Original zwar für eine Weile dem Blick entzogen – aber weil sich die Medien bereitwillig auf die Geschichte stürzten, waren die barbusigen Nymphen plötzlich allgegenwärtig, also sichtbarer denn je: nicht nur vor Ort in Manchester, sondern überall im Netz.

Shitstorm statt Farbbeutel

Ganz ähnlich bei der Kontroverse um die Fassade der Alice-Solomon-Hochschule in Berlin, wo ein Werk des Lyrikers Eugen Gomringer übermalt und durch ein anderes Gedicht ersetzt werden soll. StudentInnen hatten Gomringers Gedicht «Avenidas» kritisiert, weil Frauen darin zu Objekten männlicher Bewunderung degradiert würden, was schlecht zur sozialpädagogischen Ausrichtung ihrer Schule passe. Offen gestanden, bis vor einigen Monaten war mir auch dieses Gedicht kein Begriff. Aber wer ausserhalb von Lyrikzirkeln könnte von sich behaupten, es zu kennen, abgesehen von den Leuten, die dort draussen in Berlin-Hellersdorf ein und aus gehen?

Schon im April 2016 hatte der StudentInnenrat in einem offenen Brief an die Schulleitung darauf gepocht, das Gedicht an der Fassade durch ein anderes zu ersetzen. Aber erst im Spätsommer 2017 wurde der Protest von den Medien aufgegriffen, und seither ist das Gedicht nicht etwa aus dem Blick verschwunden. Im Gegenteil, es war wie beim Gemälde aus Manchester: Zum Testfall für die Freiheit der Kunst hochgejazzt, wurden die Zeilen unendlich vervielfältigt und allerorts zitiert, und plötzlich hatte auch jede Zeitung ihren Experten für konkrete Poesie. Aus Solidarität mit dem zu übermalenden Gedicht wurde dieses jetzt für einige Wochen, aber viel prominenter, auf einem grossen Stoffbanner im Herzen der Stadt ausgerollt, gleich neben dem Brandenburger Tor. Und in Gomringers Wohnort Rehau soll das Gedicht künftig die Fassade des städtischen Museums zieren. Der Untergang des Abendlands konnte also gerade noch mal abgewendet werden.

Eigentlich erfreulich: Lyrik bewegt offenbar die Massen, wenn alle Welt über ein Gedicht diskutiert. Warum also ist einem bei der ganzen Debatte doch eher zum Weinen? Erstens, weil dieses Gedicht aus dem Jahr 1951 so inspirierend nun auch wieder nicht ist, und zweitens, weil es letztlich auch nur als Alibi für einen Stellvertreterkrieg benutzt wird. Es ist beim studentischen Protest ja nie darum gegangen, ein Kunstwerk zu tilgen, es zum Verschwinden zu bringen. Die StudentInnen waren bloss zum Schluss gekommen, dass dieses Gedicht sie unangenehm an den alltäglichen Sexismus übergriffiger Blicke erinnert. Was jetzt weder für noch gegen den Wert des Gedichts spricht.

Überempfindlich? Irgendwie schon. Frühere Generationen wären dagegen noch mit, sagen wir, kreativem Vandalismus vorgegangen – heute agiert man mit offenen Briefen, Shitstorms im Netz und parlamentarischen Beschlüssen statt mit Farbbeuteln und gibt zu bedenken, dass so ein Gedicht als «offizielles Aushängeschild» der Hochschule schlecht zu Gesicht stehe. Das ist vielleicht das Schlimmste, was man diesen StudentInnen nachsagen kann: dass sie sich so sehr um die Corporate Identity ihrer Schule sorgen.

Nicht ganz bei Trost

Trotzdem werden sie, wie auch die Künstlerin Sonia Boyce, selbst in den Feuilletons angesehener Zeitungen in einem Atemzug mit Nazis genannt. Jürgen Kaube von der «FAZ» erinnern solche «Versuche zur moralischen Kunstreinigung» allen Ernstes an die Diffamierung von sogenannter entarteter Kunst durch die Nationalsozialisten. «Entartete Kunst heute» titelt später auch die nicht ganz so angesehene «Weltwoche», als sie das Gemälde mit Hylas und den Nymphen auf die Front hängt. Wer also ein solches Bild einer feministischen Lektüre unterzieht und es dann temporär abhängt, wer sich von einem Gedicht an einer Hauswand so empfindlich getroffen fühlt, dass er oder sie ein anderes verlangt: im Prinzip ein Nazi. Wobei, Nazis? Das waren doch die, die Kunstwerke zu Tausenden verbrannt haben.

Die NZZ-Redaktorin Antje Stahl brachte die groteske Verschärfung des Tons auf den Punkt, als sie – auch gegen Stimmen aus dem eigenen Haus – festhielt: «Unmissverständlich wird uns beigebracht, wir müssten uns nicht nur gegen Moralapostel, sondern gegen Totalitäre wehren, gegen Menschen, die wie die Nationalsozialisten unsere Kulturgüter zensieren und zerstören wollen. Das klingt politisch so korrekt, dass sich niemand mehr zu fragen traut, ob die Wortführer eigentlich noch ganz bei Trost sind.»

Zur Erinnerung: In Manchester wie in Berlin ist kein Kunstwerk zensiert, verboten oder beschädigt, geschweige denn vernichtet worden. Ein Gemälde wird ab- und eine Woche später wieder aufgehängt. An einer Hauswand soll ein Gedicht durch ein anderes ersetzt werden. Das alte Gedicht ist dadurch nicht zerstört, man kann es weiterhin als Buch und in Anthologien kaufen, ja, es darf auch öffentlich rezitiert oder meinetwegen skandiert werden, es ist so kurz, dass man es im Nu auswendig gelernt hat. Die Kunst ist hier nicht bedroht, also worum geht es wirklich in diesem Stellvertreterkrieg?

Die Lust am musealen Busen

Kunst komme nicht von korrekt, wie es in der NZZ hiess: «Wenn Kunst nicht mehr anstössig sein darf – welchen Sinn könnte sie dann überhaupt haben?» Nun, da würden einem schon noch ein paar Dinge mehr einfallen. Aber gut, bleiben wir mal dabei: Der Sinn der Kunst liegt also darin, dass sie anstössig sein darf. Demnach wäre es doch zu begrüssen, wenn sie, wie in Berlin geschehen, Anstoss erregt. Weil das die Kunst in ihrem Sinn beglaubigt.

Zwei Dinge aber fallen besonders auf in dieser übersteuerten Debatte, wo mit Begriffen wie «Zensur» oder «Kunstfreiheit» hantiert wird und diese derart strapaziert werden, bis sie alles und nichts bedeuten. Erstens: Der Furor derer, die die künstlerische Freiheit gefährdet sehen, entzündet sich am Umgang mit älteren, längst kanonisierten Werken. Sie treten also nicht für eine Kunst ein, die sich ihre Geltung erst noch erkämpfen müsste. Sondern was angeblich auf dem Spiel steht, ist ein gut konservierter und musealisierter Kanon, an dem ein bisschen gerüttelt wird.

Zweitens: Die Sorge um die scheinbar bedrohte Kunstfreiheit wird oft dort besonders laut geäussert, wo es darum geht, Darstellungen des weiblichen Körpers und den Blick auf diesen zu problematisieren. Die hysterischen Parteinahmen für den viktorianischen Softporno von Manchester tragen denn auch Züge einer antifeministischen Abwehrschlacht in Zeiten von #MeToo: Jetzt wollen die auch noch die barbusigen Frauen aus unseren Museen abhängen! Aber wir lassen uns die Lust an nackten Brüsten nicht verbieten!

Dabei hätte man sich doch zumindest fragen können, weshalb gerade das Gemälde von Hylas und den Nymphen für den historischen Wimpernschlag auserkoren wurde. Prüderie kann es nicht sein, sonst hätte man einen Grossteil der Sammlung in Manchester abhängen müssen. Nur vereinzelt wurde auf eine interessante zeitgenössische Resonanz dieser mythologischen Szene hingewiesen: Sieben Nymphen locken einen jungen Mann, der seine Verführbarkeit mit dem Tod bezahlen wird. Die siebenfache Femme fatale, der arglose Jüngling, der zum Opfer eines sexuellen Übergriffs wird: Erscheint das nicht wie eine verblüffende szenische Umkehrung von #MeToo? Und was sind das für kulturelle Normen, die wir in diesem Motiv verewigt sehen? Aber klar, wer in erster Linie kulturhistorisch nobilitierte Busen sieht, die abgehängt wurden, braucht sich um solche Fragen nicht zu kümmern.

Umgekehrt: Wer die Wirkung von Kunst allein darauf reduziert, was sie uns an Identifikationsmöglichkeiten anbietet, ist blind für ihre Ambivalenzen. Und wer kulturelle Bilder und erfahrene Wirklichkeit in eine eindeutige Analogie zueinandersetzt, wie man den StudentInnen in Berlin unterstellen darf, entschärft nicht nur die reale Gewalt politischer Herrschaft, sondern unterschätzt gleichzeitig die Macht der Darstellung. Bilder und Zeichen sind nicht stabil, sie können immer gegen sich selbst gelesen werden. Mit einer Militanz der Betroffenheit kommt man da nicht weit. Die besten Waffen gegen die Zumutungen des Kanons sind immer noch: Lektüre, Analyse, Interpretation. Und wer ab und zu blinzelt, hat nicht etwa verloren. Sondern den schärferen Blick.