Indische Ökopolitik: Sogar der Journalist will aufs Biofeld

Nr. 13 –

Ein Staat, der zu hundert Prozent biologisch wirtschaftet – das ist ein Traum vieler Linker und Grüner. Im kleinen Bundesstaat Sikkim ganz im Norden Indiens ist dieser Traum Realität geworden – auf Befehl von oben. Ein Besuch beim Volk der Biobäuerinnen und -bauern.

Vielfalt der Formen und Farben: In Sikkims Hauptstadt Gangtok hat die Regierung einen eigenen Biomarkt eingerichtet. Foto: Robert Harding, Alamy

Die Strasse schlängelt sich der Bergflanke entlang, hinter jeder Kurve tut sich ein neues Panorama auf: Steile Hänge, von dunkelgrünen Wäldern bedeckt, die Häuser kleben verstreut an den Hängen. Zwischendurch geben die Wolken die Aussicht auf den schneebedeckten Kangchendzönga frei, mit seinen 8586 Metern der dritthöchste Gipfel der Welt. Mitten in dieser Landschaft liegt auf 1500 Metern der Mandarinenhain von Monmaia Chetri.

Die zierliche Bäuerin steht barfuss auf einem Felsen und greift nach einer Frucht. «Unsere Mandarinen sind beliebt, weil sie süss und säuerlich zugleich sind», sagt sie. Wie alle LandwirtInnen in Sikkim hat auch Chetri ihren Betrieb vor einigen Jahren auf Bio umgestellt. Mit dem Mist ihrer zwei Kühe düngt die Bäuerin den Boden, zusätzlich produziert sie raffinierte Kompostarten mit Würmern und Mikroorganismen. Fruchtfliegen bekämpft sie mit Pheromonfallen, die die Insekten mit biologischen Botenstoffen anlocken. Die Fallen bekommt sie von einer Filiale des Landwirtschaftsamts. Der Staat verteilt auch Samen und Kompostbehälter und lädt Bäuerinnen und Bauern zu Weiterbildungen ein.

Bio-Image lockt TouristInnen an

Initiant der ehrgeizigen Mission, Sikkim zu hundert Prozent auf Bio umzustellen, ist der charismatische Regierungspräsident Pawan Chamling. Seit 24 Jahren sitzt der Bauernsohn in der Regierung des Bundesstaats und ist bis heute sehr populär in der Bevölkerung. Er ist überzeugt, dass der Biolandbau eine Antwort auf viele Probleme in Indien darstellt, von Umweltzerstörung bis zu Jugendarbeitslosigkeit. Schritt für Schritt hat seine Regierung die Subventionen für Kunstdünger und Pestizide reduziert. 2014 hat sie die Einfuhr chemischer Mittel gar ganz verboten, und seit 2016 sind alle Nutzflächen in Sikkim biozertifiziert.

Die «stille Revolution» Sikkims ist ein Prestigeprojekt, mit dem sich der zweitkleinste indische Bundesstaat auch international einen Namen gemacht hat: 2017 ist er mit dem One World Award geehrt worden, einem Preis des internationalen Biodachverbands Ifoam. Das Bio-Image lässt sich auch touristisch gut vermarkten: 2016 besuchte ein Fünftel mehr TouristInnen Sikkim als noch im Vorjahr.

In der Hauptstadt Gangtok, im dritten Stock des Landwirtschaftsamts, liegt das Büro von S. Anbalagan, dem Leiter der Sikkim Organic Mission, die die Umstellung auf Biolandbau lanciert und begleitet hat. «Es war nicht so schwierig, die Bauern für unsere Strategie zu gewinnen. Sie setzten traditionell wenig Kunstdünger ein – nur acht bis zehn Kilo Stickstoff pro Hektare verglichen mit siebzig Kilo im nationalen Mittel», sagt Anbalagan. «Wir befinden uns an einem Hotspot der Biodiversität. Hier gibt es viel Biomasse, und der Boden ist reich an Humus.» Zudem reichen die Vegetationsstufen in Sikkim von subtropisch bis hochalpin, von terrassierten Reisfeldern auf 200 Metern über Meer über Obst- und Gemüsefelder an den Hügeln des Mittellands bis hin zu kargen Bergregionen, wo nur noch Roggen und Buchweizen wachsen.

Die grössere Herausforderung sei es gewesen, die eigenen FunktionärInnen von der Umstellung zu überzeugen, sagt Anbalagan. Zu den SkeptikerInnen gehörte der Agrarwissenschaftler P. W. Bhutia. «Während des Studiums hat man uns die Vorteile des Kunstdüngers gepredigt, um die wachsende Bevölkerung zu ernähren», erinnert er sich. «Und jetzt plötzlich sollten wir auf Bio umstellen.» Doch dann las Bhutia die aktuellsten Studien, die besagen, dass die Biolandwirtschaft in Bergregionen wie Sikkim sogar bessere Ernten hervorbringen kann als konventioneller Landbau. Seither ist er ein überzeugter Anhänger der biologischen Mission.

Importgemüse als Konkurrenz

Nicht alle in Sikkim sehen die Politik der Regierung so positiv wie er. In einer Umfrage des Center for Science and Environment, einer NGO in Delhi, sagten sieben von vierzehn befragten BäuerInnen, sie hätten bei der Umstellung auf Bio keinerlei Unterstützung von der Regierung bekommen. Bei einigen blieben die Ernten auch mehrere Jahre nach der Umstellung hinter den Erträgen aus konventionellem Anbau zurück. Biologische Bewirtschaftung ist anspruchsvoll; umso wichtiger wären Beratung und Ausbildung bei der Umstellung. Doch offensichtlich erreichten die Fördermassnahmen in Sikkim nicht alle.

Die indische Landwirtschaftspolitik arbeitet häufig mit «progressive farmers», Modellbauern und -bäuerinnen, die offen sind für Veränderungen, in der Hoffnung, andere orientierten sich dann an deren Erfolg und kopierten ihre Strategien. In Sikkim hat die Regierung manchen dieser ModellbäuerInnen sogar ganze Gewächshäuser aufs Feld gestellt, gratis und franko. Doch diese Politik hat teilweise den entgegengesetzten Effekt: Die nicht begünstigten KollegInnen sehen den prosperierenden Nachbarbetrieb und erwarten, dass der Staat ihnen auch ein Gewächshaus schenkt. So weit reicht das Geld aber nicht. Die Regierung setzt andere Prioritäten und hat einen grossen Teil des Budgets der Sikkim Organic Mission in die Zertifizierung investiert.

Auch Bauern und Bäuerinnen, die wie Monmaia Chetri in den Genuss staatlicher Unterstützung kommen, haben Probleme: Auf dem Markt konkurrieren ihre Mandarinen und ihr Chili mit Gemüse und Früchten aus konventionellem Anbau, die aus den Nachbarbundesstaaten importiert werden. Zwar war diese Konkurrenz immer schon hart, weil in den Ebenen ein intensiverer und darum günstigerer Anbau möglich ist als im gebirgigen Sikkim. Doch seit der Umstellung auf Biolandbau hat sich das Gefühl, nicht mit gleich langen Spiessen zu kämpfen, verstärkt.

«Niemand ist bereit, uns einen fairen Preis zu bezahlen», erklärt Chetri. «Wir sind gezwungen, unsere Mandarinen billiger zu verkaufen.» Zwar hat die Regierung in der lokalen Markthalle vier eigene Stände für das einheimische Biogemüse aufgestellt. Doch sie liegen versteckt auf der ersten Etage, wo es keine Laufkundschaft gibt. Auch können sich die Leute auf dem Land höhere Preise gar nicht leisten.

«Wir wollen keine Pestizide im Essen»

In der Hauptstadt Gangtok sieht das anders aus. Neben der grossen Markthalle hat die Regierung einen eigenen Biomarkt eingerichtet. Bäuerinnen und Bauern aus den Regionen haben sich zusammengeschlossen und bieten hier ihre Produkte an. Kundin Ranjita Devi hat in ihrem Korb einheimisches Blattgemüse, Bohnen, Chili und Tomaten. «Wir wollen keine Pestizide im Essen, wir wollen gesund leben», sagt sie. Die 36-jährige Dozentin ist stolz auf ihre Regierung, wie viele andere, die an diesem Morgen auf dem Biomarkt einkaufen – Bankangestellte, Hausfrauen, Lehrerinnen und pensionierte Regierungsbeamte.

Doch auch in Gangtok herrscht in der grossen Markthalle ungleich mehr Betrieb. HändlerInnen aus anderen Bundesstaaten kommen jeden Tag mit grossen Ladungen Früchten und Gemüse, Reis und Linsen, Produkte, die in den weiten Ebenen Indiens mithilfe von Kunstdünger und synthetischen Pflanzenschutzmitteln produziert werden. Die einheimischen LandwirtInnen haben das Nachsehen. Regierungspräsident Pawan Chamling hat darum vor kurzem einen radikalen Schritt angekündigt: Ab April 2018 soll kein Gemüse mehr aus anderen Staaten eingeführt werden. Sikkim soll nicht nur hundert Prozent Bio sein, sondern sich auch komplett selbst versorgen.

«Wenn die Regierung das schafft, wäre das wunderbar», sagt die Bäuerin Monmaia Chetri. «Dann würden wir für unsere Mandarinen endlich einen guten Preis bekommen.» Auch an einem Treffen der BäuerInnenvereinigung, bei dem Regierungsvertreter die neue Politik erklären, herrscht Aufbruchstimmung. Zuvorderst im rappelvollen Saal sitzt ein junger Mann, der aufmerksam zuhört und sich eifrig Notizen macht. Für den jungen Journalisten Raju Pradhan sind es spannende Zeiten. «Vor vier Jahren, als ich in Delhi studierte, wusste noch kaum jemand etwas von Sikkim. Heute sind wir landesweit bekannt.» Pradhan, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, verfolgt die Politik seines Bundesstaats mit einer Mischung aus Skepsis und Enthusiasmus.

Der Grenzstaat Sikkim ist nur am südlichen Ende mit Indien verbunden. Der Weg dorthin führt zwangsläufig durch den Nachbarbundesstaat Westbengalen. Nicht nur Gemüse und Früchte, auch Benzin und Baumaterial bezieht Sikkim von dort. Ein Streik in Westbengalen im letzten Sommer traf auch Sikkim hart. «Das geplante Importverbot ist auch eine Rote Karte unseres Präsidenten an seinen Amtskollegen in Westbengalen», sagt der Journalist. Mit der Selbstversorgerpolitik wolle sich Präsident Chamling aus der Abhängigkeit vom grossen Nachbarn befreien.

Neue Jobs für Arbeitslose

«In Sikkim schliessen jedes Jahr 6000 junge Männer und Frauen ihr Studium ab», sagt Raju Pradhan. «Doch die Jugendarbeitslosigkeit grassiert.» Die Regierung ermutige die Menschen nun, in die Landwirtschaft einzusteigen, und stelle dafür zinslose Darlehen zur Verfügung. Auch der junge Journalist denkt über ein zweites Standbein als Bauer nach. Wie viele andere zog sein Vater vor Jahren aus einem Dorf in die Hauptstadt und liess die Landwirtschaft hinter sich. Die Familie besitzt noch Land in Ostsikkim. «Bei der Lokalzeitung verdiene ich nicht viel. Warum nicht Maschinen kaufen und ein paar arbeitslose Dorfbewohner anstellen, die auf unserem Land Gemüse anbauen?»

Im vergangenen November hatte Pawan Chamling sein Importverbot für Anfang April 2018 angekündigt. In der Zwischenzeit hat er seinen ehrgeizigen Plan revidiert. Reis, Kartoffeln, Zwiebeln und Knoblauch – die Grundzutaten der indischen Küche – dürfen weiterhin eingeführt werden. Die Einfuhr von Gemüse und Früchten wird nicht an sich verboten, sondern nur der Verkauf von Gemüse aus konventionellem Anbau. Dennoch hält die Regierung am Ziel fest, den Bedarf komplett durch die einheimische Produktion zu decken. «Wir haben unsere Anbauflächen vergrössert und sind mehr oder weniger vorbereitet», sagt S. Anbalagan von der Sikkim Organic Mission diplomatisch.

Auf den 66 000 Bäuerinnen und Bauern des kleinen Sikkim lastet eine grosse Verantwortung. Schaffen sie es, genügend zu produzieren, um die ganze Bevölkerung zu ernähren? Zu den rund 650 000 EinwohnerInnen kommen während der Hochsaison im Frühsommer ebenso viele TouristInnen. Und können sich alle in Sikkim dann auch die Biolebensmittel leisten? Zumindest kurzfristig scheint es kaum realistisch, dass Pawan Chamling sein ambitioniertes Ziel erreicht.

Ein Biowunderland ist Sikkim nicht. Aber ein interessantes Experiment, das die Chancen und Tücken einer Umstellung auf Bio durch einen Regierungsentscheid zeigt.

Dieser Text wurde finanziell durch den Medienfonds «real21 – die Welt verstehen» unterstützt.

Sikkim – wie Graubünden

Sikkim ist der zweitkleinste Bundesstaat Indiens und liegt ganz im Norden, an der Grenze zu Nepal, China und Bhutan, an den Ausläufern des Himalaja.

Mit einer Fläche von rund 7100 Quadratkilometern ist Sikkim so gross wie Graubünden, und auch landschaftlich gibt es Ähnlichkeiten. Zudem hat auch Graubünden schweizweit im Biolandbau die Nase vorn mit dem höchsten Anteil an Biobetrieben.

Allerdings leben dreimal mehr Menschen in Sikkim als in Graubünden, nämlich fast 650 000. Die Bevölkerung ist sehr heterogen, Hauptsprache ist Nepali. Die meisten SikkimesInnen arbeiten im Tourismus, beim Staat oder in der Landwirtschaft, in den letzten Jahren haben sich aber auch grosse Pharmaunternehmen hier angesiedelt. Lange Zeit ein eigenes Königreich, wurde Sikkim erst 1975 ein eigener indischer Bundesstaat und geniesst gewisse Autonomierechte.