Jugend in Afrika: Das langsame Aufbegehren

Nr. 15 –

Immer mehr Jugendliche in Afrika konkurrieren um immer weniger Jobs. Viele versuchen, sich selber eine Zukunft aufzubauen.

«Die Verfassung ist meine Bibel.» Dieser Satz der dreissigjährigen Juristin Natasha Kimani klingt im überwiegend christlichen Kenia wie eine Gotteslästerung – oder eine politische Kampfansage. Kimani ist Expertin für gute Regierungsführung und berät die Bezirke, die mit der föderalen Verfassung von 2010 geschaffen wurden, bei deren Umsetzung in Gesetze und Richtlinien. In ihrer Freizeit diskutieren sie und ihre FreundInnen oft mit jungen Leuten über die neue Verfassung, ein progressives, ja revolutionäres Schriftstück: «Wir brauchen eine junge Generation, die politisch aufgeklärt ist.»

Aber der politische Aufbruch gelingt nur, wenn sich dieser jungen Generation auch wirtschaftliche Perspektiven eröffnen. Kimani ist oft auf dem Land unterwegs und bestens vertraut mit der prekären Situation junger Frauen und Männer: Sie finden keine Jobs. War für die vorangehende Generation ein Universitätsabschluss praktisch eine Garantie für einen Arbeitsvertrag, suchen heute auch AkademikerInnen oft Jahre nach einer Stelle. Immer mehr junge Menschen in Afrika haben heute eine Bildung, die über das Grundschulwissen hinausgeht. Doch das Jobangebot vermag mit der grossen Zahl von UniabsolventInnen in keiner Weise Schritt zu halten. Die Anzahl junger AfrikanerInnen zwischen 15 und 24 Jahren könnte sich von heute rund 200 Millionen bis im Jahr 2055 mehr als verdoppeln. AfrikanerInnen sind im Durchschnitt 19 Jahre jung, EuropäerInnen 42,6 Jahre alt.

Eine Antwort auf korrupte Eliten

Nicht nur Kenias Jugend ist von ihrer politischen Führung masslos enttäuscht: In ganz Afrika haben viele junge Leute die Hoffnung aufgegeben, dass PolitikerInnen ihnen eine Zukunft bieten werden. Die Eliten bereichern sich selber, statt Steuergelder in die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit oder grundlegende staatliche Reformen zu investieren. Internationale Handelsschranken verschärfen die Situation. Da die verarbeitende Industrie oft schwach entwickelt ist oder gar nicht existiert, exportiert Afrika vor allem Rohstoffe – nicht selten zum Vorteil korrupter Politiker, mit denen der Westen als Rohstoffempfänger allzu oft paktiert.

Viele junge Leute wählen als Antwort auf die Ohnmacht und Apathie der politischen Klasse den Weg in die Selbstständigkeit. Kleine Handelsgesellschaften für landwirtschaftliche Produkte, Schulen, Mini-Dienstleistungsbetriebe – sie alle zeugen von eigener Initiative und vom unerbittlichen Willen, eigene Ideen für ein wirtschaftliches Auskommen umzusetzen.

Viele nutzen dazu die digitale Technologie. Das ist nicht überraschend, Afrika hat den Weg von der Petrollampe ins digitale Zeitalter quasi ohne den Umweg über die analoge Technologie vollzogen. Per Mobiltelefon Geld übermitteln oder Rechnungen und Einkäufe bezahlen? Was in Europa zaghaft versucht wird, gehört in vielen afrikanischen Ländern längst zum Alltag. Grossunternehmen, traditionell eher desinteressiert an Kundenbeschwerden, werden in den sozialen Medien offen für schlechten Service kritisiert und versuchen, den Schaden an ihrem Image schnellstmöglich zu beheben. Fremde treten übers Internet in Kontakt, um Informationen zu teilen und sich gegenseitig zu beraten. Politische Diskussionen finden im Internet statt; so mancheR PolitikerIn mag die Erfindung von Twitter schon verwünscht haben. Die Leute nutzen Technologie, um sich zu emanzipieren – und um sich gegenseitig zu helfen.

Auch die 28-jährige Ingenieurin Josephine Godwyll aus Ghana glaubt an die Möglichkeiten der Technologie. «Ich träume von einem Ghana, in dem digitale Hilfsmittel unser Dasein vereinfachen», sagt sie, während sich GrundschülerInnen des Dorfes Boti um ihren Computerbildschirm drängen. Boti liegt vier holprige Busstunden von der Hauptstadt Accra entfernt und kennt weder Strom- noch Wasserversorgung. In einer Internetsuchmaschine ist der Wasserfall des Dorfes eingetragen, sonst ist die Gegend in der digitalen Welt ein weisser Fleck. Dass die SchülerInnen überhaupt im Internet surfen können, ist Godwyll zu verdanken. Ihre Organisation Young at Heart vermittelt GrundschülerInnen in ländlichen Gebieten digitale Kompetenz, die über das reine Schreiben am Computer hinausgeht: «Sie sollen ihre Fähigkeiten am Computer nutzen lernen, um ihre persönlichen Möglichkeiten auszuloten und Perspektiven zu entwickeln.»

Eigeninitiative, Innovation, Courage

In Ghana hat gemäss Statistiken zwar jede und jeder Dritte Zugang zum Internet, doch dieser beschränkt sich fast ausschliesslich auf die Städte. «Ich setze mich für eine digitale Revolution ein», sagt Godwyll. Sie und ihre freiwilligen HelferInnen haben in den vergangenen vier Jahren über 200 Kinder betreut. Einer ihrer ehemaligen Schüler etwa baute eine Website für den Friseursalon seiner Mutter und entwarf dazu eine Werbebroschüre. «Der Computer eröffnet den Kindern ein neues Spektrum an Möglichkeiten», sagt Godwyll. «Die Welt sollte allen offenstehen, egal wo jemand geboren ist.» Technologie sei ein wichtiges Werkzeug, um in diese Welt einzudringen.

Godwyll ist überzeugt, dass das grosse Problem für viele junge Leute darin besteht, dass sie die Dinge, die sie gelernt haben, nicht mit dem täglichen Leben in Verbindung bringen oder in Jobmöglichkeiten umsetzen können. Und sie lernen oft nicht das, womit sie ihren Lebensunterhalt sichern könnten.

William Senyo pflichtet dem bei. Der dreissigjährige Ghanaer schürft in Accra in einem «Bergwerk von Ideen», wie er es formuliert: Vor vier Jahren gründete er zusammen mit jungen Leuten seine Firma Impact Hub, die wagemutige Köpfe zusammenbringt und die Gründung von Unternehmen mit sozialem Ansatz fördert. Zurzeit beschäftigt sich das Team um Senyo mit den Bereichen Gesundheit, Bildung, Landwirtschaft, nachhaltige Energie und finanzielle Inklusion. So entstanden etwa Kanalisationsdeckel aus recyceltem Plastik, die mit einem 3-D-Drucker hergestellt werden können. «Die Leute glauben die Dinge erst, wenn sie sie sehen», sagt Senyo und lacht.

Senyo konzentriert sich mit seiner Firma nicht auf Jobsuchende, sondern auf Jobschaffende. «Deren Arbeit wird dann hoffentlich Jobs für die Masse der Arbeitslosen schaffen. Nicht jeder kann Unternehmer sein.» Senyo vertraut nicht darauf, dass die Regierung Ghanas das Problem der Jugendarbeitslosigkeit lösen wird. Wie Natasha Kimani aus Kenia glaubt er an die Wirkung eines politischen Bewusstseins: «Eine sozial und politisch aufgeklärte Gruppe junger Leute, die sich ihrer Macht bewusst ist, ist eine riesige Bedrohung für jede Regierung.» Im Moment setzt er auf Unternehmer: «Sie haben mehr Kapazität gezeigt, uns aus der Misere zu ziehen. Unsere politische Führung hat uns ständig im Stich gelassen.» Senyo fragt nicht nach den Wegen, auf denen diese Unternehmer reich geworden sind, ob sie ihre MitarbeiterInnen fair bezahlen oder welche Motive hinter ihrer Unterstützung stecken. Noch nicht. Im Moment sind ihm die Unternehmer nützlich.

Auch der Steuerexperte Mabutho Mthembu in Südafrikas Metropole Johannesburg vertraut auf die Energie und den Tatendrang seiner Generation. «In einer Gesellschaft, in der Jobs Mangelware sind, braucht es junge Leute mit Eigeninitiative, Innovation und Courage», sagt der 32-Jährige. Sein Kommentar ist auch eine Kritik am Bildungssystem. Mthembu wuchs bei seiner Grossmutter im ländlichen Kwazulu Natal auf, wo GrundschülerInnen in der lokalen Sprache Zulu unterrichtet wurden. «Auf dem Land passiert nicht viel», erinnert sich Mthembu. «Keiner hat uns aufgeklärt, welche Möglichkeiten Südafrika in Bezug auf Ausbildung und Berufschancen bietet. Englischlernen wurde vernachlässigt. Deswegen fiel mir mein Studium anfangs schwer, dort war Englisch die Unterrichtssprache. Die Uni war ein Schock.»

Praxisfernes Bildungssystem

Aus der Erkenntnis, dass ein Mangel an Informationen, Bildung und sozialen Netzen jungen Leuten Chancen versperrt, gründete Mthembu vor knapp zehn Jahren die Youth Managers Foundation: Etwa 2000 SchülerInnen zwischen vierzehn und achtzehn Jahren an insgesamt 37 Gymnasien auf dem Land und in Townships haben seither von der Foundation Berufsberatung erhalten, sind von MentorInnen aus der Wirtschaft betreut und auf Führungsaufgaben vorbereitet worden. «Diese jungen Leute haben eine enorme Energie, die wir in die richtige Richtung zu lenken versuchen, um verantwortungsbewusste und konstruktive Persönlichkeiten aus ihnen zu machen», sagt Mthembu. Nur so könnten Südafrika und Afrika insgesamt eigene Zukunftsvisionen entwickeln – und zwar nicht nur auf wirtschaftlicher Ebene.

Mthembu ist mit dieser Meinung nicht allein. Auch Godwyll, Senyo und Kimani sehen ein grosses Manko in Afrikas praxisfernen Bildungssystemen, in denen Kreativität und der Umgang mit kritischem Denken fehlen. Frontalunterricht von der Primarschule bis zu den Universitäten, veraltete, theorielastige Lehrpläne, strikte Hierarchien zwischen den Generationen, aber auch die überragende Autorität und Entscheidungsmacht der Eltern, gerade was die Berufswahl ihrer Kinder betrifft – all dies ändert sich nur ganz langsam. Doch der Riss im Gebälk ist sichtbar. Etwa im kenianischen Lehrplan: Um nicht nur akademische, sondern auch praktische Fähigkeiten zu vermitteln und jungen Leuten so grössere Chancen zu eröffnen, ihre Talente zu verfolgen, sollen Kreativität, das Denken und die Eigeninitiative gefördert werden.

Mthembu, Godwyll, Senyo und Kimani sind VertreterInnen einer jungen Generation Afrikas, die von Bildungschancen profitieren konnte und nun versucht, für sich und andere einen Kontinent neu zu erfinden, der von ihren Ideen geprägt ist und koloniale Denkstrukturen hinter sich lässt. Sie sind emanzipiert genug, ihre Zukunft nicht der alten Politikerriege zu überlassen, mit der sie sich ebenso wenig identifizieren wie mit vorgefertigten Entwicklungsmodellen des Westens. Eine politische Neugestaltung, die auch das afrikanische Unternehmertum infrage stellen könnte, mag dann nur eine Frage der Zeit sein.

Dieser Beitrag wurde finanziell unterstützt vom Medienfonds «real21 – Die Welt verstehen», der von der Schweizer Journalistenschule MAZ und von Alliance Sud getragen wird.