Durch den Monat mit Silva Semadeni (Teil 3): Ist das Puschlav das Nordirland der Schweiz?

Nr. 16 –

Kindheit und Jugend verbrachte Silva Semadeni im Mittelpunkt der Welt, dem Puschlav. Vom Generalstreik in der Schweiz hörte sie zum ersten Mal während ihrer Zeit an der Universität Zürich.

Silva Semadeni: «Wenn man jemanden kennengelernt hatte, war die erste Frage zu Hause: Ist er katholisch oder reformiert?»

WOZ: Frau Semadeni, Sie sind in Poschiavo in Graubünden bei den Grosseltern aufgewachsen. Wie war Ihre Kindheit in diesem Bergtal?
Silva Semadeni: Ich hatte eine glückliche Kindheit. Mit den vielen Kindern der Umgebung habe ich viel draussen gespielt, Versteckspiel, Fussball oder «Banditen» im Wald. Im Sommer verbrachte meine Familie jeweils drei Monate auf der Alp. Wir hatten sehr lange Sommerferien, weil die Schule Rücksicht auf die Landwirtschaft nahm. Bis 1969 gab es in Poschiavo für katholische und reformierte Kinder getrennte Schulen. In meiner reformierten Klasse waren wir lediglich vier Kinder, im Mehrklassensystem nie mehr als fünfzehn, das war ein Privileg. Allein in der katholischen Parallelklasse gab es um die fünfzig SchülerInnen.

Wie weit ging diese konfessionelle Trennung? Gab es Kontaktverbote?
Verbote gab es nicht. Im Quartier wohnten katholische Kinder, mit diesen habe ich gespielt. Aber es waren schon zwei verschiedene Welten. Die Konfession war gleich zu erkennen: am unterschiedlichen Dialekt, am Nachnamen. Die beiden Gemeinschaften lebten jahrhundertelang im selben Dorf nebeneinander.

Das Puschlav wurde wegen der konfessionellen Spaltung auch schon als das Nordirland der Schweiz bezeichnet. Ein passender Vergleich?
Nein. Richtige Feindschaften traten auch in der Geschichte selten auf. Und meine eigene Erfahrung sieht gegenüber den nordirischen Erfahrungen harmlos aus. Interkonfessionelle Hochzeiten waren, beispielsweise, nicht gern gesehen. Sie kamen aber vor. Wenn man jemanden kennengelernt hatte, war die erste Frage zu Hause: Ist er katholisch oder reformiert? Gehörte er der anderen Konfession an, war das suboptimal. Früher bestimmte der Familienbesitz den politischen Einfluss der Konfessionen.

Geografisch ist das Puschlav sehr abgelegen. Wie sehr abgeschottet von der Aussenwelt fühlten Sie sich in Ihrer Kindheit?
Ich fühlte mich im Mittelpunkt der Welt. Durch das Radio Monte Ceneri kamen die italienische Schweiz und der Rest der Welt in unser Haus. An das Kennedy-Attentat oder die Ermordung von Martin Luther King erinnere ich mich noch gut. In der Sonntagsschule wurden wir von sozial engagierten Pfarrern, zum Teil Waldenser aus Italien, unterrichtet. Sie thematisierten auch die Armut und den Hunger in der Dritten Welt, das hat mich sehr betroffen gemacht. Dass ich links stehe, ist sicher auch ihrem Engagement zu verdanken.

Die Religion hat Sie politisiert?
Die mir vermittelte Auffassung des Christentums war, dass Christ sein bedeutet, an die anderen zu denken. Der Grundsatz «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst» hat mich geprägt. Dadurch hat sich bei mir der Gerechtigkeitssinn gestärkt.

Sind Sie gläubig?
Ich schätze die evangelische Botschaft. Aber ich würde mich eher als Agnostikerin bezeichnen.

Als die 68er-Bewegung 1969 in den Kanton Graubünden überschwappte, waren Sie als Siebzehnjährige am Lehrerseminar in Chur. Was haben Sie mitbekommen?
Die Beatles und die neue Musik mochte ich! Internationale Ereignisse dagegen verfolgte ich kaum. Lokal spürte ich aber den neuen Wind. Am Lehrerseminar wurde eine Schülerorganisation gebildet. Sie sollte die Interessen der Schülerinnen und Schüler wahrnehmen. Das hat mich angesprochen, und ich wurde Klassenvertreterin. In der Buchhandlung Schuler lernte ich dann Anna Ratti kennen, die sich politisch sehr engagierte. Sie hat mich für die Problematik der Militärdienstverweigerer sensibilisiert. Damals wurden diese – für mich inakzeptabel – noch ins Gefängnis gesteckt. Für den Landschaftsschutz setzte ich mich wegen überrissener Tourismusprojekte ebenfalls ein.

1973 gingen Sie für Ihr Studium nach Zürich.
Die Universität war für mich eine komplett neue Welt. Zum Glück gab es ältere MitstudentInnen, die sich der Neulinge annahmen. Vom landesweiten Generalstreik habe ich an der Universität zum ersten Mal gehört. Unser Geschichtsunterricht in Chur endete mit der Einigung Italiens um 1860. Dass ich von einem solch zentralen Ereignis der neueren Schweizer Geschichte wie dem Landesstreik erst so spät erfuhr, hat mich erschüttert. Entsprechend musste ich mein Weltbild neu ordnen. Die Arbeiter- und die Frauenfrage interessierten mich sehr, ich las «Das Kapital» und feministische Literatur. Mein Lizenziat habe ich zur Geschichte der italienischen Arbeiterinnen geschrieben.

Gleichzeitig haben Sie an der Abendschule für italienische Fremdarbeiter unterrichtet.
Die Scuola professionale emigrati, SPE, war für mich wie eine zweite Universität. Das Unterrichten von Erwachsenen, vor allem selbstbewussten süditalienischen Männern, stellte eine grosse Herausforderung dar. Die Lebensumstände meiner Schüler, der Fremdarbeiter, waren teilweise erschreckend. Viele lebten in Baracken, fürs Duschen mussten sie extra bezahlen. Einige Frauen wohnten in Fabrikheimen. Sie haben mir die Lage der Arbeiterschaft in der Schweiz vor Augen geführt und gezeigt, wie wichtig es ist, für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen für alle zu kämpfen.

Nach ihrem Studium in Zürich, Florenz und Berlin kehrte Silva Semadeni (66) zurück nach Graubünden, wo sie am Lehrerseminar und an der Kantonsschule in Chur unterrichtete.