Von oben herab: Käsezukunft

Nr. 16 –

Stefan Gärtner über das Revival des Fondues

Man hat ja eine Ahnung, wie Qualitätsjournalismus funktioniert, aber schön, es schwarz auf weiss zu haben, wie etwa in der jüngsten Frauenwirtschaftsbeilage (gemeint: Wirtschaft von Frauen, nicht «Frauenwirtschaft») der «Süddeutschen Zeitung», genannt «Plan W» (= Weib/Wirtschaft!). Und weil die Wirtschaft ja nach wie vor männlich ist und Frauen das aber genauso gut können, war es diesmal, genau: «ein Heft über Emotionen». (An der Pinnwand neben meinem Schreibtisch hängt der Ausriss eines Interviews, das die Kinderbuchautorin und linke politische Kolumnistin Christine Nöstlinger im vergangenen Jahr der nämlichen «SZ» gegeben hat; resignatives Fazit nach fünfzig Arbeitsjahren: Dummheit anzeigen ist keine Aufgabe, die am Ergebnis zu messen sei.)

Eine emotionale Nachricht hatte jetzt auch das Qualitätspresseerzeugnis «Blick» im Angebot, der britische Berichte aufgriff, wonach das lokale Interesse am Schweizer Käsefondue rasant gestiegen sei und sich «die Verkäufe von Fondue-Sets im letzten Jahr verdreifacht» hätten: «Auch die Online-Suche nach Fondue-Rezepten erlebt einen Boom.» Im «International Journal of Gastronomy and Food Science» habe ein «Food-Psychologe» («Blick»), Professor an der Universität Oxford, sich das alles erst überhaupt nicht erklären können – Käsefondue sei fettig und unfotogen, im Instagram-Zeitalter also doppelt trendavers –, dann aber die Vermutung geäussert, die neue Lust am Heisskäse sei erstens der unsicheren weltpolitischen Lage und zweitens dem Brexit geschuldet: Die Schweiz sei seit dem britischen Austrittsbeschluss ein Vorbild fürs Vereinigte Königreich, weil sie, obzwar nicht in der EU, gute Beziehungen zu Europa pflege. Und in unruhigen, ja kriegerischen Zeiten brauche es zu Hause nun einmal «Nostalgie und Sicherheit», und dafür stehe das Käsefondue, dieser «flüssige Käse für die Zukunft» (ebd.).

In meiner Kindheit gab es Fondue immer an Heiligabend, wenn auch mit Fleisch statt Käse, und Fondue gab es deshalb, weil es die Familie eine Zeit lang beschäftigt hielt. Denn wer spiesst und isst, streitet nicht, und durch die kleinen Einzelportionen und das Warten auf den fertigen Spiess verlängerte sich der Hunger und verlängerte sich das Essen und verkürzte sich die Zeit, die man mit Auseinandersetzungen hätte füllen müssen. Das Fondue als Sinnbild von Nostalgie und Sicherheit, das kenne ich.

Ich habe es dann nach dem Zivildienst mit meinem Elternhaus gehalten, wie es Britannien mit Europa halten möchte: Austritt bei guten Beziehungen. Jetzt sind die Eltern tot, und das ist sicher ein guter Moment, um die Analogie abzubrechen, wo Europa, mag man finden, ja ebenfalls im Sterben liegt und die Faschisten und Faschistinnen es gar nicht mehr erwarten können, die fantastische Souveränität über ihre fantastischen Vaterländer zurückzubekommen, wenn auch ohne das schöne Geld aus dem elenden Brüssel. Meine liebste Brexitgeschichte ist ja die von dem englischen Seebad, das erst mit grosser Mehrheit gegen Europa stimmte und dann von London die jährlich fünfzig Millionen aus dem EU-Tourismusfonds erstattet haben wollte; und darum, genau darum, braucht es Hefte über Emotionen, um die wirklich unerträgliche Dominanz der Ratio abzufedern: «Warum man im Job nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Bauch entscheiden sollte.»

Und zwar mit einem, der so voll mit Käsefondue ist wie die Birne mit Käse. Küss die Hand, Frau Nöstlinger.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er sonst das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.