Krise der Sozialdemokratie: «Der Wille der Basis hat kaum eine Chance»

Nr. 17 –

Die frühere SPD-Spitzenpolitikerin Andrea Ypsilanti über mediterranen Sozialismus, sozialdemokratische KarrieristInnen und die Sehnsucht nach Freiheit.

Andrea Ypsilanti: «Wenn Politik sich wieder eine Haltung zulegen würde, gäbe es durchaus Gestaltungsmacht.» Foto: Tina Giotitsa, Hessischer Rundfunk

WOZ: Frau Ypsilanti, kürzlich ist Ihr Buch «Und morgen regieren wir uns selbst» erschienen – ein Debattenbeitrag zur Zukunft sozialdemokratischer Politik. Anders als man erwarten könnte, geht es dann allerdings weniger um Jeremy Corbyn als um den französischen Schriftsteller Albert Camus.
Andrea Ypsilanti: Ich habe etwas gesucht, das über die Verhältnisse hinausweist. Ich bin keine ausgemachte Camus-Kennerin, aber drei Dinge finde ich an ihm beeindruckend: Erstens schreibt er, dass wir eine organische Intoleranz gegenüber Ungerechtigkeit benötigen. Das halte ich für eine sehr gute Grundlage, um Politik zu machen. Zweitens hat er, obwohl er kein Pazifist war, Gewalt als politisches Mittel immer abgelehnt. Und drittens hat er zwar von der Revolte gesprochen, aber als Migranten- und Arbeiterkind nie unterschätzt, dass es auch unter den bestehenden Verhältnissen kleine Schritte der Veränderung braucht.

Ausserdem hat Camus – wie Sie im Buch hervorheben – vom «mediterranen Sozialismus» gesprochen …
Ja, ein sehr guter Begriff. Ich verbinde damit das gute Leben, das «buen vivir». Das heisst, dass Menschen frei entscheiden können, wie sie leben wollen, und auch über ihre Zeit verfügen können. Voraussetzung dieser Freiheit ist das solidarische Miteinander. Eine Freiheit, die darauf Rücksicht nimmt, dass ich nicht auf Kosten anderer lebe.

Sie gewannen 2008, als sich die deutsche Sozialdemokratie bereits im Niedergang befand, spektakulär die Wahlen in Hessen. Mit einem dezidiert linken Programm – für einen ökologischen Umbau und eine Einheitsschule für alle Kinder – wurde die SPD ebenso stark wie die CDU. Bei den Wahlen davor hatte die Union noch zwanzig Prozentpunkte vor der SP gelegen. Sie gewannen damals die Wahlen, durften aber keine Regierung bilden. Warum?
Es war wirklich ein sehr erfolgreicher Wahlkampf, was auch daran lag, dass wir früh einen Programmentwurf ins Netz gestellt und dann alle Akteure eingeladen hatten, den Inhalt mitzugestalten. Es gab ein Team, das herausfilterte, was wir als sozialdemokratische Partei an Vorschlägen aufgreifen konnten. Viele Gruppen und Einzelpersonen hatten deshalb das Gefühl, das SPD-Programm mitgeschrieben zu haben, und durch diese Beteiligung wurde der Wahlkampf zu einem Selbstläufer. Gescheitert ist das Projekt daran, dass die Gegner der geplanten Reformen – unter anderem Energiekonzerne und konservative Kreise in Hessen – nach den Wahlen noch einmal mobilgemacht haben.

Das Argument der sozialdemokratischen Parteiführungen ist ja immer, dass linke Wahlprogramme die Leute verschrecken. Ihre Erfahrung, aber auch der Jeremy-Corbyn-Effekt in Britannien belegen eher das Gegenteil: Das Aufzeigen von Alternativen mobilisiert die Menschen. Hatte die Führung der Bundes-SPD kein Interesse an besseren Wahlergebnissen?
Die Verantwortlichen hätten dann ihre eigene Politik infrage stellen müssen. Die Neoliberalisierung der SPD war schon so weit vorangeschritten, dass man davon keinen Abstand mehr nehmen konnte. Sie dürfen nicht vergessen, dass es immer auch um persönliche Karrieren geht. Die Verantwortlichen der Agenda-Politik, also der Hartz-IV-Reformen und Sozialkürzungen, hätten ihr Scheitern eingestehen müssen, und das hätte sich natürlich auch auf ihre persönlichen Projekte ausgewirkt.

Sie sagen, die Sozialdemokratie brauche einen Gegenentwurf, der eine konkrete Utopie formulieren müsse. Aber ist das an der SPD-Basis mehrheitsfähig? In der deutschen Sozialdemokratie hat Opportunismus ja immer schon eine Rolle gespielt: von den Kriegskrediten 1914 bis zum autoritären Kanzler Helmut Schmidt.
Wenn wir in der Bundespartei von der Basis her ein Reformprogramm entwickelt hätten, dann bin ich mir sicher, dass wir 2008 eine Mehrheit für eine solche Politik gehabt hätten. Wir wurden von so vielen Parteimitgliedern als Beispiel einer progressiven Politik gelobt. Heute hingegen bin ich mir nicht mehr so sicher. Während der Agenda-Zeit sind Hunderttausende GenossInnen aus der SPD ausgetreten, weil sie die neoliberale Wende nicht mittragen wollten. Die Parteilinke, die eine Veränderung will, existiert heute so nicht mehr. Es gibt Einzelpersonen, Menschen mit Haltung und Mut, aber das ist keine relevante Grösse mehr. Und eine Erneuerung ist auch nicht in Sicht. Wie nach jeder verlorenen Wahl hat es ein Stühlerücken gegeben, aber im Grunde haben wir das alte Führungspersonal. Und es gibt keine Rebellion an der Basis.

Die Neoliberalisierung der Sozialdemokratie war ein Trend in ganz Europa. Und es war auch überall zu beobachten, dass es giftige Medienkampagnen gab, wenn jemand auszuscheren versuchte. Warum ist die Sozialdemokratie von solchen Angriffen immer besonders stark betroffen?
Ich denke, auch andere Parteien bekommen so etwas zu spüren. Im Übrigen gibt es auch bei Grünen, Linken und Christdemokraten gerade heftige Auseinandersetzungen darum, wie es weitergehen soll. Mein Eindruck ist deshalb eher, dass das Konstrukt Partei in einer schweren Krise steckt. Die Parteibasis hat in den festen Strukturen kaum eine Chance. Ihr Wille wird auf dem Weg nach oben gekappt. Die Vermögenssteuer etwa haben wir in der SPD gefühlte fünfzig Mal beschlossen. Sie stand im Wahlprogramm, wird aber einfach nicht weiterverfolgt. Derartige Erfahrungen führen dazu, dass viele Menschen Parteien einfach nicht mehr für den richtigen Ort halten, um Politik zu machen. Das kann auch zu einer Chance werden: Wenn Menschen erkennen, dass die Parteien die notwendigen Veränderungen nicht bewältigen, kann das dazu führen, dass sich die Zivilgesellschaft in Bewegung setzt.

Hat das Versagen linker Parteien auch damit zu tun, dass Parlamente als Orte der Macht überschätzt sind und wirklich relevante Entscheidungen woanders getroffen werden?
Das würde ich so nicht unterschreiben. Wenn Politik sich wieder eine Haltung zulegen würde, gäbe es durchaus Gestaltungsmacht. Parlamente und Regierungen können durchaus Gesetze beschliessen, die die Macht der Unternehmen beschneiden, Reiche besteuern, die Arbeitszeit verkürzen und die Ungleichheit zwischen Frauen und Männern bekämpfen. Das Problem ist, dass die Haltung fehlt. Das drückt sich auch darin aus, dass die Parlamente von Lobbygruppen durchsetzt sind. Die Übergänge zu den Unternehmensvorständen sind fliessend geworden – bei allen Parteien, mit Ausnahme vielleicht der Linkspartei.

Trotzdem gibt es durchaus auch noch Erfolge: Die Energiewende etwa, die Ihr Mitstreiter, der 2010 verstorbene Politiker Hermann Scheer, 25 Jahre lang einforderte, wurde durchgesetzt und hat die Stromkonzerne Milliarden gekostet. Beschlossen wurde diese Wende paradoxerweise allerdings von einer CDU-FDP-Regierung.
Ja, aber diese Wende kam nur, weil sich in Fukushima der schreckliche AKW-Unfall ereignet hatte. Aber es ist tatsächlich so, dass es ohne den Druck sozialer Bewegungen und ohne die Vorarbeit von Menschen wie Hermann Scheer nicht zu dieser Wende gekommen wäre. Als sich der Unfall von Fukushima ereignete, hatten Leute wie Scheer eine Antwort vorbereitet. Ich denke, so müssen wir uns Transformation vorstellen: Wir müssen uns vorbereiten auf die Fragen, die kommen.

Was wären denn die zentralen Inhalte für einen Gegenentwurf?
Ich sehe vor allem drei Themen, die wir auch mit dem Institut Solidarische Moderne stark zu machen versuchen: Erstens eine Umverteilung von Arbeit und Reichtum, damit alle Menschen wieder über ihr Leben entscheiden können. Zweitens die Ökologie- und Wachstumsfrage. Wie müssen wir unsere Lebensweise, die auf Kosten anderer und der Umwelt geht, verändern? Und das Dritte schliesslich ist die Demokratisierung aller Lebensbereiche, also auch der Arbeitsbeziehungen.

Könnten Sie das noch etwas konkretisieren?
Auf all diesen Feldern gibt es bereits Initiativen, Projekte und Modelle, wir müssen also nicht bei null anfangen. Mein zentraler Ansatzpunkt wäre die Arbeitszeitverkürzung. Das wäre eine sehr nachhaltige Transformation der Gesellschaft, die auch Kräfte freisetzen würde für demokratische Beteiligung. Wir brauchen ja auch Zeit, um die notwendigen Veränderungen als Gesellschaft gemeinsam zu entwickeln. Der zweite grosse Ansatzpunkt wäre für mich, dass wir die Geschlechterrollen neu definieren. Es kann nicht länger sein, dass die Männer die Lohnarbeit und die Frauen die unbezahlte Pflegearbeit leisten – oder oft sogar beides.

Sie treten auch für ein Grundeinkommen ein. Armutsforscher und Gewerkschaften kritisieren, dass ein solches Grundeinkommen auch an diejenigen ginge, die es nicht benötigten, nämlich an die Reichen, und deshalb nichts zur Umverteilung beitragen würde.
Es gibt völlig unterschiedliche Grundeinkommensmodelle, und man muss natürlich aufpassen, dass das nicht zu einer Subventionierung von Niedriglöhnen wird, wie sich manche Unternehmer das wünschen. Aber das könnte man verhindern. Und auch die Trennung zwischen Umverteilung und Grundeinkommen kann man aufheben. Man kann die Steuern für Reiche erhöhen und ein Grundeinkommen einführen. Das wäre kein Widerspruch. Sie müssen sehen, dass die Forderung nach einem Grundeinkommen ungeheure Dynamik annimmt. Viele Menschen fragen sich, was passiert, wenn …

… die Maschinen kommen.
Genau. Die Automatisierung wird viele Tätigkeiten überflüssig machen. Und ein Grundeinkommen ist für viele Menschen das letzte Netz. Da machen es sich die Gewerkschaften zu einfach. Selbst Superreiche wie Bill Gates reden heute über eine Maschinensteuer. Das gehört auch zur Umverteilung von Reichtum.

Frau Ypsilanti, Sie verlassen nach zwanzig Jahren die Berufspolitik. Was ist das vorherrschende Gefühl?
Eine grosse Sehnsucht nach Freiheit. Ich möchte ohne Terminkalender leben, für mich selbst bestimmen, was ein gutes Leben ist. Aber ich bleibe ein politischer Mensch und möchte meine Kenntnisse dort zur Verfügung stellen, wo sie nützlich sein können – bei ausserparlamentarischen Bewegungen.

Linke Vordenkerin

Andrea Ypsilanti war lange Jahre eine der renommiertesten VertreterInnen des linken Parteiflügels in der SPD. Sie war hessische Landesvorsitzende, Mitgründerin der linken Programmwerkstatt Institut Solidarische Moderne und erklärte Gegnerin der neoliberalen Hartz-IV-Reformen, denen sie allerdings unter dem Druck von Gerhard Schröder auf dem entscheidenden SPD-Bundesparteitag zugestimmt hatte.

2008 wurde Ypsilanti trotz eines Wahlsiegs von innerparteilichen Gegnern gestürzt und in die dritte Reihe verbannt. Zum Ende ihres zwanzigjährigen Abgeordnetenlebens hat sie nun das Buch «Und morgen regieren wir uns selbst» (Westend-Verlag) veröffentlicht – eine Streitschrift über die Krise der Sozialdemokratie.

Nahles an der SPD-Spitze

Zum ersten Mal in der 154-jährigen Geschichte der SPD hat eine Frau den Vorsitz der Partei übernommen: Auf dem Parteitag in Wiesbaden wählten am vergangenen Sonntag rund 66 Prozent der Delegierten Andrea Nahles an die Spitze der Partei. Die 47-jährige bekennende Katholikin war zwischen 1995 und 1999 Vorsitzende der Jusos und galt lange als Parteilinke; inzwischen ist Nahles aber politisch in die Mitte gerückt. Sie tritt die Nachfolge des glücklosen Martin Schulz an.