Massenproteste in Armenien: Aufstand der Politikverdrossenen

Nr. 18 –

Die armenische Regierungspartei hat Oppositionsführer Nikol Paschinjan die Wahl zum Ministerpräsidenten verweigert. Um einen echten Wandel zu bewirken, müssten die anhaltenden Proteste in eine politische Strategie übergehen.

Eine schwarze Baseballmütze, schwarz-grauer Vollbart, T-Shirt mit Tarnfarbenmuster, Rucksack auf dem Rücken – man könnte Nikol Paschinjan für einen Durchschnittsmann von der Strasse halten. Und tatsächlich hat der 42-Jährige die vergangenen vier Wochen überwiegend auf den Strassen Armeniens verbracht. Nur an wenigen Tagen kleidete er sich, wie man es von Abgeordneten gewohnt ist, in einen schwarzen Anzug und ein weisses Hemd. Es waren die Tage, an denen Paschinjan seine Funktion als Anführer des oppositionellen Fraktionsbündnisses Yelk (Ausweg) im Parlament wahrnahm.

So stand er am Dienstag neun Stunden lang im Zentrum einer Parlamentsdebatte, denn er war der einzige Kandidat für die Wahl zum Ministerpräsidenten. Zwar verweigerte ihm die bisherige Regierungspartei, die Republikanische Partei Armeniens (RPA), mit ihrer Mehrheit die Zustimmung. Doch nach der Entscheidung feierten Zehntausende ArmenierInnen in der Hauptstadt Eriwan den Tag wie einen Sieg. Nicht Wut und Enttäuschung überwogen, sondern Entschlossenheit und Einigkeit. Auf dem zentralen Platz der Republik rief Paschinjan die Menschen, die den ganzen Tag in der Innenstadt ausgeharrt hatten, einmal mehr zum friedlichen Ungehorsam auf und forderte den Generalstreik im ganzen Land.

Viele folgten am Mittwoch seinem Aufruf, blockierten Strassen und bestreikten Lehreinrichtungen – so wie sich in den vergangenen vier Wochen immer mehr Menschen den Protestaktionen angeschlossen und bereits einen Sieg errungen hatten: den Rücktritt des gerade erst gewählten Ministerpräsidenten Sersch Sargsjan, der zuvor zehn Jahre lang Präsident gewesen war. Ein drittes Mal hätte Sargsjan als Präsidentschaftskandidat nicht antreten dürfen. Seine Partei übertrug 2015 per Verfassungsreferendum viele Befugnisse auf das Amt des Ministerpräsidenten, während Sargsjan versprach, nicht auf dieses Amt wechseln zu wollen. Als er es doch tat, war es keine Überraschung mehr, aber es kostete ihn das letzte Vertrauen der Bevölkerung.

Ziviler Ungehorsam

Nikol Paschinjan ist einer der wenigen PolitikerInnen in Armenien, die als integer gelten. Es gibt keine öffentlichen Belege dafür, dass er mit den verhassten Oligarchen verbandelt oder selbst Geschäftsmann wäre und Offshorefirmen besässe. Angesichts der grundlegenden Vertrauenskrise der Politik verschafft ihm das einen entscheidenden Vorteil gegenüber den VertreterInnen anderer Parteien. Er ist von Beruf Journalist – und Rebell. Er organisierte bereits Proteste gegen Sargsjan, als dieser vor zehn Jahren erstmals die Präsidentschaftswahl gewonnen hatte.

Damals wurden die Demonstrationen gewaltsam niedergeschlagen, zehn Menschen wurden getötet. Paschinjan versteckte sich zunächst und wurde dann zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Nach zwei Jahren kam er im Rahmen einer Amnestie für politische Gefangene frei.

Sein jetziger Erfolg wäre aber nicht ohne seine MitstreiterInnen denkbar. 2013 verbündete er sich mit AktivistInnen der Zivilgesellschaft zunächst zum politischen Bündnis Civil Contract, das sie später zur Partei Yelk formten. Ihre Forderungen sind liberal. Neben dem Kampf gegen Oligarchen und Korruption stehen sie für mehr Gleichheit für Frauen ein. In der Aussenpolitik sprachen sie sich für eine grössere Nähe zu Europa aus. Paschinjan betonte jedoch immer wieder, dass eine Abkehr vom sicherheitsstrategischen Partner Russland nicht zur Debatte stehe.

Die AktivistInnen haben in den vergangenen Jahren immer wieder erfolgreiche Protestaktionen organisiert – etwa als es um die Verhinderung eines Shoppingcenters auf einem Grünstück in einem Wohngebiet ging oder gegen die Erhöhung von Fahrpreisen für Busse. Sie verabredeten sich kurzfristig über die sozialen Netzwerke und sammelten Erfahrungen in friedlichen Aktionen zivilen Ungehorsams.

Charismatiker mit Kehrseite

Der Politik und dem konventionell organisierten Sektor der Nichtregierungsorganisationen wollten diese AktivistInnen fernbleiben. Beide Bereiche hatten in der Bevölkerung an Vertrauen verloren. Sämtliche Versprechungen punkto Demokratie, Chancengleichheit und Wohlstand waren unerfüllt geblieben.

Viele AktivistInnen wollten aber mehr erreichen als einzelne Erfolge. Sie streben grundlegende Veränderungen in Armenien an, wo es immer noch zu sehr darauf ankommt, für das Fortkommen die richtigen Bekanntschaften und Kontakte zu haben. So begann eine Debatte darüber, politisches Parkett zu betreten und eine Leaderfigur zu suchen, die breit unterstützt würde.

Mit Paschinjan war der Richtige gefunden. Unter jenen, die sich ihm damals anschlossen, war auch Lena Nazarjan, die 2017 ins Parlament gewählt wurde. Heute spielt sie eine wichtige Rolle bei der Koordination der Proteste. Viele Losungen wie «Das ist unser Land» wurden in den vergangenen Jahren entwickelt und in die Bevölkerung getragen, ebenso wie Formen des zivilen Ungehorsams, die nicht gegen Gesetze verstossen. Als erfolgreich erwies sich in den vergangenen zwei Wochen etwa die Methode, Strassen zu blockieren: Kleine Gruppen zumeist junger Leute gehen auf Zebrastreifen auf und ab oder legen sich auf die Strasse, um den Autoverkehr zum Halten zu bringen – Aktionen, gegen die die Polizei nichts unternehmen kann, weil sie nicht verboten sind.

Doch auch wenn sich in den vergangenen Wochen zwei Protestbewegungen namens «Lehnt Sersch ab» und «Mach einen Schritt» Paschinjan anschlossen, bleibt Skepsis gegenüber dem charismatischen Anführer, der inzwischen wie ein Popstar gefeiert wird und dessen Konterfei auf T-Shirts zu finden ist. Und zwar nicht nur, weil er seine MitstreiterInnen in seinen Schatten verweist: Seine patriotischen und gelegentlich frauenfeindlichen Töne sorgen für Widerspruch insbesondere bei Frauen, die sich in der Protestbewegung engagieren. Bisher ging Paschinjan zwar geschickt vor und legte sich auf moderate Positionen und keine zu grossen Versprechen fest. Aber sollte er zu viele Fehler begehen, so werden die Menschen ihn fallenlassen, sagen viele. Auch ist fraglich, ob er vom Modus des Revolutionärs auf eine Arbeitsweise umschalten kann, die auf langfristige Veränderungen und Kompromisse angelegt ist.

Das Beispiel Michael Saakaschwili im Nachbarland Georgien zeigt, wie schwierig das ist: Saakaschwili gelang zwar in vielen Bereichen eine schnelle Modernisierung, doch brachte seine neoliberale Wirtschaftspolitik keine Verbesserungen der sozialen Lage mit sich. Am Ende wurden Saakaschwili und seine Partei auch wegen eines zunehmend autoritären Führungsstils abgewählt.

Im Moment jedoch macht es die Regierungspartei Paschinjan leicht. Die Reden der RepublikanerInnen bei der Parlamentsdebatte am 1. Mai sorgten für Buhrufe auf dem Platz der Republik, in Cafés und auf Strassen, wo die Menschen per Liveübertragung zuhörten und zusahen. Die Taktik der Republikanischen Partei, Paschinjan als unfähig zu diskreditieren, verfing nicht. Dafür ist das Misstrauen gegen sie zu gross.

Lähmende Vertrauenskrise

Letztlich ist die bestehende Machstruktur mit der Republikanischen Partei an der Spitze ein Ergebnis der Entwicklungen nach dem Fall der Sowjetunion, als sich der Konflikt um die Region Berg-Karabach mit dem Nachbarn Aserbaidschan zu einem Krieg entwickelte. Nachdem die armenische Seite die Kontrolle über Berg-Karabach und weitere Gebiete übernommen hatte und der offene Krieg damit beendet worden war, gingen Kriegsveteranen wie Sargsjan in die Politik und errichteten ein enges Geflecht aus Politik und Geschäft mit derzeit fünf bis sechs Oligarchen. Diese kontrollieren im kleinen Land mit einer Bevölkerung von weniger als drei Millionen vor allem den Import und damit die Preise für wichtige Produkte wie Zucker und Mehl.

Vieles ist dabei bekannt über Korruption und die Verbindungen zwischen Politik und Wirtschaft. Sogar das Kirchenoberhaupt wird als korrupt angesehen. Dass die RepublikanerInnen ihre Glaubwürdigkeit verspielt haben, zeigt sich auch daran, dass Warnungen zur Sicherheitslage kaum ernst genommen werden. Mehrfach erklärten republikanische Abgeordnete, dass der feindliche Nachbar Aserbaidschan die politische Krise ausnutzen und einen Angriff starten könnte. Sogar von einem Truppenaufmarsch und von Zwischenfällen an der Front war die Rede. Doch auch damit gelang es nicht, den Protest einzudämmen.

Soll verhindert werden, dass aus der politischen eine konstitutionelle Krise und der Staat damit weiter geschwächt wird, bleibt nur die Suche nach Kompromissen mit der Opposition um Paschinjan, die in der derzeitigen Krise den überwiegenden Teil der Bevölkerung hinter sich weiss – zumindest jetzt, in einem Moment des Aufbruchs. Für die AktivistInnen der Protestbewegung, die sich Paschinjan angeschlossen haben, bedeutet das aber auch, sich noch stärker auf den politischen Prozess einzulassen, den sie ursprünglich meiden wollten.