Rhetorik und Literatur: Wie ein Seefahrer im Winde

Nr. 18 –

Wer seine LeserInnen bei der Lektüre behalten möchte, muss mit Bildern arbeiten. Das wussten schon die Gelehrten in der Antike.

Wie kann man mit blossen Worten Wirkung erzielen? Das ist die Kernfrage der Rhetorik. Die Rede ist älter als die Schrift: Bevor die Menschen Romane schrieben, erzählten sie einander Geschichten. Die Regeln der Rhetorik gelten für die Kunst des Schreibens ebenso wie für die Kunst des Redens. Wer das beim Schreiben missachtet, schreibt am Ende Texte, die niemand lesen will.

Rhetorik lehrt, wie man Ziele verfolgt. Wer andere mit seinen Worten von etwas überzeugen will, wer ihnen etwas beibringen oder sie auch nur unterhalten will, ist auf den Einsatz rhetorischer Mittel angewiesen. Das griechische Wort «ergon» bedeutet «Wirkung». Energie ist etwas, das Wirkungsmacht in sich trägt. Sprache, die wirken soll, braucht demnach Energie. Rhetorik ist Energiemanagement. Es geht darum, Sprache sozusagen physikalisch mit Energie aufzuladen, damit sie in einem fremden Kopf ihre Wirkung entfaltet.

Auch Arthur Schopenhauer verwendet in seinem Aufsatz «Über Schriftstellerei und Stil» ein Bild aus der Physik. Ein Autor müsse stets daran denken, «dass die Gedanken insofern das Gesetz der Schwere befolgen, als sie den Weg vom Kopfe auf das Papier viel leichter, als den vom Papier zum Kopfe zurücklegen». Um die Gravitationskraft zu überwinden, muss sich einer der beiden Köpfe anstrengen: entweder die Autorin, indem sie die Wörter mit Energie auflädt, oder der Leser, indem er sich beim Verstehen abmüht. Doch auf den Leser ist kein Verlass. Er ist ein unstetes Wesen, das entweder gleich wieder davonfliegt oder einschläft. Aus freien Stücken wird kein Leser der Autorin die Arbeit abnehmen. Daher führt kein Weg an der Rhetorik vorbei, wenn man gelesen werden möchte.

Wörter als «kleine Kraftprotze»

Wer schreiben lernt – sei es unbewusst durch die eigene Praxis oder unter Anleitung in einem Schreibkurs –, erlangt ein Bewusstsein für die Kraft der Worte. Man lernt etwa, dass Substantive Substanz in den Satz bringen sollen, und stellt dann fest, dass nicht alle Substantive gleichermassen mit Materie gefüllt sind. Wörter wie «Vater», «Zwerg» oder «Schnaps» seien «kleine Kraftprotze», sagt die Schriftstellerin Felicitas Hoppe, die in ihrer Prosa fast ausschliesslich mit solchen Wörtern arbeitet. Meistens sind diese Wörter sprachgeschichtlich alt und in ihrer Lautgestalt kurz. Man kann sie sehen, hören, riechen, deshalb lösen sie in unserer Vorstellungskraft etwas aus, und deshalb wiederum lässt sich mit ihnen so gut erzählen. «In einem Dorfe wohnte eine arme alte Frau, die hatte ein Gericht Bohnen zusammengebracht und wollte sie kochen. Sie machte also auf ihrem Herd ein Feuer zurecht, und damit es desto schneller brennen sollte, zündete sie es mit einer Handvoll Stroh an. Als sie die Bohnen in den Topf schüttete, entfiel ihr unbemerkt eine, die auf dem Boden neben einen Strohhalm zu liegen kam; bald danach sprang auch eine glühende Kohle vom Herd zu den beiden herab. Da fing der Strohhalm an und sprach …» Märchen leben von solchen Wörtern, und in diesem Märchen der Brüder Grimm besteht schon der Titel aus nichts anderem als «Strohhalm, Kohle und Bohne».

Verben wiederum haben die Aufgabe, Bewegung in den Satz zu bringen, also Energie. Doch das können Verben nur leisten, wenn sie tatsächlich etwas tun, zum Beispiel in Friedrich Schillers «Glocke»:

«Kochend wie aus Ofens Rachen Glühn die Lüfte, Balken krachen, Pfosten stürzen, Fenster klirren, Kinder jammern, Mütter irren …»

Solche Verben sind grosses Kino, nicht nur, weil sie uns etwas sehen, hören, riechen lassen, sondern auch, weil sie im Aktiv stehen. Die sicherste Methode, einem Text und seinen LeserInnen Energie zu entziehen, besteht im Verwenden der «awful passive voice», wie Stephen King es in seinem Schreibratgeber «On Writing» nennt: Nach zwei Seiten im Passiv wolle er nur noch schreien.

Adjektive werden gern als Schmuck verwendet, so haben manche von uns in der Primarschule gelernt, doch sie haben einen schlechten Ruf. Wenn ein Adjektiv nur Dekorationszwecke erfüllt und keine echte Arbeit leistet, ist es Ballast für den Text. Und die meisten Adjektive, die einem ohne viel Nachdenken einfallen, verrichten keine Arbeit. Sie wiederholen entweder Eigenschaften, die im Substantiv bereits enthalten sind («eine grüne Wiese»), oder sie benennen Eigenschaften, die man ohnehin erwartet («eine schöne Wiese»). Sie schwächen das Substantiv, weil sie parasitisch von seiner Kraft leben. Als Faustregel gilt Voltaires Satz: «Das Adjektiv ist der Feind des Substantivs.» Das gilt erst recht für jene Wörter, die man im Deutschen seltsamerweise «Intensifikatoren» nennt, denn in der Energiebilanz bewirken sie genau das Gegenteil. Wörter wie «ziemlich», «ein bisschen», «besonders», «sehr» – das seien «Egel im Teich der Prosa, die den Worten das Blut aussaugen», heisst es in «Elements of Style» von William Strunk und E. B. White, einem Klassiker unter den Schreibratgebern.

Unsere Vorstellungskraft hungert nach Bildern. Wir wollen etwas sehen, wenn wir uns Reden anhören oder Texte lesen. Gelungene Metaphern wirken auf unser Bewusstsein wie ein kleiner Energiestoss. «Solange er in seinem Amt war, konnte keine heilige Kuh in Ruhe grasen.» Anfangs sei er wie ein Seefahrer von einladenden Winden vorangetragen worden, schreibt Quintilian in «Ausbildung des Redners» («Institutio Oratoria»), und solange er sich im allgemein Bekannten aufgehalten habe, nah am Ufer, habe er viele Begleiter gehabt, die sich von den gleichen Winden hätten tragen lassen wie er selbst. Doch nachdem er sich in Regionen der Eloquenz vorgewagt habe, die erst kürzlich entdeckt worden seien, habe er kaum mehr einen Navigator gesehen, der sich ebenso weit vom Hafen entfernt habe wie er selbst. «Nun beginne ich zu fühlen, wie weit der Ozean ist, auf dem ich segle, und ich sehe auf allen Seiten Himmel und auf allen Seiten Meer.»

Quintilians «Ausbildung des Redners» aus dem 1. Jahrhundert nach Christus ist ein Vorläufer der heutigen Schreibratgeber, und wie in jedem guten Schreibratgeber setzt Quintilian die rhetorischen Tricks, die er predigt, gleich um. Bilder sind ein effizientes Transportmittel für den beschwerlichen Weg der Gedanken vom Papier in den Kopf. Es kostet uns keine Mühe, Quintilians Bild von der Seefahrt zu verarbeiten, denn Quintilian hat uns die Arbeit abgenommen, indem er das abstrakt Gedachte in etwas bildhaft Gesehenes übersetzte. In dieser Übertragungsleistung steckt die Energie, mit der das Bild aufgeladen ist.

In der Antike war die Rhetorik allerdings nicht nur ein Handwerk, sondern eine der sieben freien Künste. Bekanntlich sind nach Aristoteles Ethos, Pathos und Logos die Grundlagen jeder guten Rede. Logos steht für die überzeugende Argumentation, Pathos für die mit dem Publikum geteilten Gefühle, Ethos für die Glaubwürdigkeit des Redners. Nach antikem Verständnis muss ein Rhetor nicht nur gut reden können, sondern auch ein guter Mensch sein. Quintilian war der erste Rhetoriklehrer im alten Rom, später dann Prinzenerzieher, und für ihn war das eine untrennbar mit dem anderen verbunden. In seiner Rhetorikschule steht der «vir bonus» – der Ehrenmann – im Zentrum. Auch Quintilian musste allerdings damit rechnen, dass schlechte Menschen gute Redner sein können; für diesen Fall hatte er Vorkehrungen getroffen: Dann nämlich verkehre sich das Talent der Rede in ein Laster.

Die ganze Welt ums digitale Lagerfeuer

Wir haben heute ein anderes Verhältnis zur Rhetorik, vor allem hinsichtlich der Idee des «vir bonus». Das Demagogentum wurde schon im Altertum diskutiert, doch das 20. Jahrhundert hat neue Massstäbe gesetzt mit dem hetzerischen Missbrauch, den Adolf Hitler und Joseph Goebbels mit dem Pathos getrieben haben. In der Moderne hat sich auch der Kapitalismus der Rhetorik bemächtigt: Rhetorik ist auch die Kunst, etwas mit Worten zu verkaufen. Die Werbung ist durchtränkt mit rhetorischen Verfahren, und natürlich holt sie uns dort ab, wo wir am leichtesten auf sie hereinfallen.

Schon Quintilian empfiehlt den angehenden RednerInnen das Storytelling, wenn auch unter anderem Namen: Wenn man seine ZuhörerInnen erreichen wolle, solle man seine Rede mit Beispielen anreichern. Wir wollen Bilder sehen und Geschichten hören, denn Geschichten handeln von uns, wir erkennen uns in ihnen wieder. Und Beispiele sind nichts anderes als Minigeschichten. Storytelling ist die Geheimwaffe aller Rhetorik, man findet es in der Literatur, in der Werbung und in der Politik – Bundesrat Willi Ritschard wusste, warum er sich seine Reden vom Geschichtenerzähler Peter Bichsel schreiben liess.

2006 begann der Unternehmer Chris Anderson, die Reden der Innovationskonferenz TED (Technology, Entertainment, Design) im Internet auf Video zu veröffentlichen. Die Talks dauern exakt achtzehn Minuten und werden durch ein Coaching vorbereitet – ein Format, das eine Renaissance des öffentlichen Redens angestossen hat. Die Möglichkeiten der Onlinevideos hätten «ein interaktives Ökosystem» geschaffen, «in dem wir alle voneinander lernen», so Anderson in seinem TED-Talk-Ratgeber. Die Fähigkeit, eine effektive Rede zu halten, gehöre im 21. Jahrhundert zu den Kernkompetenzen. Etwas zu sagen haben und dies auf authentische Weise tun – das ist laut Anderson das ganze Geheimnis eines gelungenen TED-Talks. Gerade das Authentische allerdings ist das Ergebnis bewussten Lernens und Übens, sonst hätte Anderson keinen 270-Seiten-Ratgeber darüber geschrieben. Letztlich geht es auch hier um die Rhetorik des Storytelling. Der menschliche Geist habe sich parallel zum Geschichtenerzählen entwickelt, so eine These Andersons. Früher tat man es am Lagerfeuer, heute am Bildschirm, wo sich potenziell die ganze Welt ums digitale Lagerfeuer versammelt.

Die Energie des Ausgesparten

Gute Redner sind gute Geschichtenerzähler. «Show, don’t tell», oder in der Formulierung von Stephen King: «Never tell us a thing if you can show us, instead» (Erzähle nie etwas, wenn du es stattdessen zeigen kannst). Dieser Satz benennt das Wesen des Erzählens. Er ist nicht von ungefähr das Credo aller Creative-Writing-Kurse: Wer etwas nur sagt, bewegt damit nichts in den Köpfen seiner LeserInnen. «Traurig schaute sie aus dem Fenster» – dieser Satz behauptet die Traurigkeit, er erzählt sie nicht. Wenn es heisst: «Weinend schaute sie aus dem Fenster», sehen wir die Traurigkeit, und überdies haben wir die Freiheit, dieses Weinen zu interpretieren (vielleicht ist sie gar nicht traurig?). Wir machen es zu unserem Weinen, indem wir es in unserer Vorstellungskraft lebendig werden lassen. Das können wir nur, weil es uns nicht gesagt wurde, denn paradoxerweise ist es gerade das Ausgesparte, das in den Köpfen Energie freisetzt.

Sprache ist Dialog, ein Energiefluss zwischen Redner und Hörerin, Autorin und Leser. Rhetorik ist die Kunst, die Köpfe der anderen mitzudenken. Mag das Geschäft des Schreibens und des Lesens von aussen betrachtet auch eine einsame Tätigkeit sein, in Wahrheit entsteht hier durch Worte eine Beziehung zwischen zwei Menschen. Wenn der rhetorische Funke überspringt, beleben sich Senderin und Empfänger gegenseitig.

Sieglinde Geisel ist Journalistin, Kritikerin, Buchautorin, Lektorin und Schreibcoach.