Roma in der Schweiz: Ein Leben als Projektionsfläche

Nr. 19 –

600 Jahre nachdem ihre Anwesenheit in der Schweiz erstmals verbrieft worden war, sind die Schweizer Roma noch immer nicht als nationale Minderheit anerkannt. Rina C. und Esther N. sind zwei der 80 000 Romnija und Roma in der Schweiz. Sie hoffen, dass der Bundesrat die Schweizer Roma endlich anerkennt.

Bald soll der Entscheid fallen: Die Gesellschaft für bedrohte Völker kämpft für die Anerkennung der 80 000 in der Schweiz lebenden Roma. Foto: Franziska Rothenbühler, GfbV

«Mein Mann hat bei der Scheidung vor Gericht argumentiert, ich sei eine Romni. Er hat meine Familie beschrieben wie in einem Kusturica-Film. Als würden sich alle beklauen und prügeln», erzählt Rina C. «Ein Zeuge trat auf und berichtete, wie sich meine Mutter und mein Bruder während der Hochzeit schlugen – dass es im Spass war, liess er unerwähnt.» Diese Erfahrung im Scheidungsverfahren hat die schon damals politisch denkende Rina C. dazu gebracht, auch ihre Identität als Romni politisch zu verstehen und zu vertreten. Über ihre Familie, die sie eher als überkorrekt wahrnimmt, kann vor einem Schweizer Gericht rassistisch hergezogen werden. «Der Anwalt meines Exmanns fragte, ob ich eine Kristallkugel besitze. Der Richter bestand darauf, dass ich die Frage beantworte.»

In Europa leben acht bis zwölf Millionen Romnija und Roma, in der Schweiz schätzungsweise 80 000 bis 100 000. Die meisten sind nicht als Roma erkennbar. Nur etwa ein Prozent der Roma in Europa leben als Fahrende. In manchen Ländern wie Deutschland und dem Kosovo sind sie als nationale Minderheit anerkannt. In der Schweiz nicht. Hier wurden Roma – die ursprünglich aus Nordindien stammen – erstmals 1418 dokumentiert. Man bezeichnete sie als «schwarze Heiden». Es war auch die Schweiz, die 1471 als erstes Land ein Einreiseverbot verhängte. Romnija und Roma, die mehrmals versuchten einzureisen, drohte die Hinrichtung. Der liberale Bundesstaat schaffte 1848 diese Diskriminierung ab. Und verhängte 1888 erneut ein Ein- und Durchreiseverbot.

Das Andere, das Unheimliche

«Roma waren schon immer das Andere, das Unheimliche, die Ausgegrenzten», sagt Esther N. In einem historischen Artikel ist N. auf einen Träger ihres Nachnamens im frühen 19. Jahrhundert gestossen. Der mutmassliche Vorfahre konnte sich nicht ausweisen, wurde gehenkt. Seine Leiche hängte man zur Abschreckung drei Wochen lang auf. Wofür dieser Mord? Für gestohlene Schals und ein Paar entwendete Hosen. «Kürzlich habe ich das meiner Mutter vorgelesen. Das sind wir! Wir gehören zu diesem typischen Sintigeschlecht», erzählt N. Diejenigen Romnija und Roma, die Mitteleuropa bereits in der Frühaufklärung erreichten, verstehen sich heute zumeist als Sinti – nicht den Roma zugehörig. Esther N. kommt aus einer Sintifamilie, identifiziert sich aber auch als Romni. Sie erinnert sich an ihre Kindheit, als ihre Mutter ihr eintrichterte: «‹Wir sind keine …› – sie benutzte das Unwort –, sagte mir meine Mutter als Kind. ‹Hätten wir eine Wagenburg, wären wir geschützt, aber wir sind nur zu dritt. Vergiss das – wir sind keine … mehr!›» Eine kleine Familie in der Schweiz musste im 20. Jahrhundert eine kleine, rein schweizerische Familie sein, wollte sie ungestört leben.

Alle möglichen Klischees

Rina C.s Vater sagt ihr bis heute, sie habe doch helle Haut. Weshalb thematisiert sie dann die Romawurzeln? Rina C. macht sie zum Thema, weil andere sie zum Thema machen, wenn sie es nicht selbst tut. Auch im Positiven erlebt sie immer wieder, wie sie zur Projektionsfläche für alle möglichen Klischees wird. Ihre Nachbarn – beide Lehrer – glauben, sie betriebe Zauberei, wenn sie nur im Garten gräbt. Darüber kann sie lachen, andere Vorfälle sind ernst. «An meiner früheren Arbeitsstelle gab man mir bei einem Diebstahl die Schuld, obwohl ich nachweisen konnte, dass ich an dem Tag nicht mal gearbeitet hatte. Die Kollegen liessen mich gegenüber dem Chef im Stich. Dort, wo ich jetzt arbeite, bin ich nicht als Romni geoutet.»

In Esther N.s Kindheit musste die Herkunft ein innerfamiliäres Geheimnis bleiben. Als sie volljährig wurde, stürzte sie sich dann in die Romakultur. «Die Konsequenzen sind egal, hab ich mir gesagt, ich oute mich jetzt», erzählt Esther N. heute. Damals studierte sie die Sprache Romanes, lernte Gesänge und Tänze – und von da an brachte sie Schweizer Kindern die Romakultur näher. Esther N. spricht sich für Outings aus: «Je mehr von uns sich outen, desto weniger Macht haben die andern über uns.»

Rina C. kann mit Musik und Tanz wenig anfangen. Sie komme aus einer Familie von Kalderasch, jener Gruppe der Roma, die traditionell als Kupferschmiede gearbeitet haben. «Ich weiss, was ich bin. Ich fühle mich als Schweizerin mit Romawurzeln», sagt Rina C. heute selbstbewusst.

«Roma» bedeutet «Mensch»

1971 entschied sich der erste World Romani Congress für «Roma» als Bezeichnung für alle, die die Sprache Romanes sprechen. «Roma» bedeutet «Mensch» in Romanes. In der Schweiz war den Roma bis 1972 Aufenthalt, Ein- und Durchreise verboten. Während des Zweiten Weltkriegs bedeutete es den Tod im KZ. Aber auch später mussten Romnija und Roma, die nur von Deutschland nach Italien reisten, mit Verhaftung, Ausschaffung und Beschlagnahmung des Besitzes rechnen. Als das Verbot 1972 fiel, lebten bereits die ersten Roma einer neuen Generation von MigrantInnen in der Schweiz: Sie kamen als jugoslawische GastarbeiterInnen. Die Nachkommen jener, die zwischen 1848 und 1888 eingewandert sind, und jener, die danach als Nichtroma eingereist und geblieben sind, lebten damals schon lange hier. Trotzdem müssen die Roma in der Schweiz auch 2018 noch bangen, ob ihr vor drei Jahren eingereichter Antrag auf Anerkennung als nationale Minderheit angenommen wird. Ein Schreiben der RomavertreterInnen an den verantwortlichen Bundesrat Ignazio Cassis, das dem Antrag nochmals Nachdruck verleihen sollte, blieb bis jetzt unbeantwortet.

Kemal Sadulov, Präsident des Vereins Romano Dialog, gehört zu den VerfasserInnen des Briefs. Seine Zugehörigkeit zu den Roma lässt sich leicht mit einer Google-Suche herausfinden. «Für das Engagement in einem politisch tätigen Verein ist es zwangsläufig notwendig, sichtbar zu sein. Viele Roma schützen sich aber vor Diskriminierung bei der Wohnungssuche, im Bildungs- und Arbeitsbereich, indem sie Sichtbarkeit vermeiden», sagt Kemal Sadulov. Der Status als nationale Minderheit brächte den Schweizer Romnija und Roma einige konkrete Vorteile. Es gäbe Förderungsmöglichkeiten für Kulturanlässe und ihre Sprache Romanes. Christoph Wiedmer, Kogeschäftsleiter der Gesellschaft für bedrohte Völker, die Roma in Diskriminierungsverfahren unterstützt, hofft auch auf eine stärkere Argumentationsbasis vor Gericht. Was aber für Rina C., Esther N. und Kemal Sadulov im Vordergrund steht, ist die Symbolwirkung: Die Romaidentität könnte man selbstbewusst in die Öffentlichkeit tragen – und erlebte Traumata könnten zu heilen beginnen.

1998 hat die Schweiz in der Umsetzung des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarats die «Fahrenden» als nationale Minderheit anerkannt. 2016 kam der Bundesrat dem Wunsch nach Selbstbezeichnung teilweise nach. Die Jenischen und Sinti wurden anerkannt; Alain Berset hielt an der Feckerchilbi 2016 auch eine bewegende Rede. Sie trug den Titel «Jenische und Sinti bereichern die Schweiz», begann mit «Liebe Sinti, liebe Jenische …» und mündete im Satz: «Wir sind alle Minderheiten – sprachlich, religiös, kulturell, sozial – und finden trotzdem immer wieder zueinander.» Gross war die Freude bei Sinti und Jenischen; gross war das Unverständnis bei den Romaverbänden. Berset hatte im Mittelteil gesagt: «Mit Sprache schafft man Realität.»

Bundesrat stellt Entscheid in Aussicht

Die Realität, die dieser Akt geschaffen hatte, war, dass zwischen Jenischen, Roma und Sinti – die eine Geschichte als Ausgegrenzte teilen – ein neues Anderes geschaffen wird. Etwa 2000 Sinti leben in der Schweiz, die genaue Zahl der Jenischen ist nicht bekannt, man geht von einer tiefen fünfstelligen Zahl aus. Der Sprecher des EDA erklärte auf Anfrage der WOZ, dass der Bundesrat bald einen Entscheid über die Anerkennung der 80 000  Romnija und Roma in der Schweiz als nationale Minderheit fällt. Zur momentanen Situation meint Rina C.: «Das nützt der SVP. Solange die Roma nicht als Minderheit anerkannt sind, kann sie hetzen gegen die, die neu kommen.» Der Bundesrat hat die Roma den Rechten als Projektionsfläche für SVP-Werbung und «Weltwoche»-Zerrbilder überlassen. Dabei geht es bei der Anerkennung als nationale Minderheit nicht einmal um Migration. «Wir sprechen von Familien, die teilweise schon Jahrhunderte hier sind», sagt Rina C.

Esther N. und Rina C. engagieren sich mit dem Solidaritätsprojekt «80 000 Blumen für die Anerkennung». Es startete auf Facebook und soll auf dem Bundesplatz enden. Die Blüten erinnern an das Rad auf der internationalen Romafahne, und jede einzelne von ihnen steht für eine Romnija, einen Rom in der Schweiz. In einer Facebook-Gruppe laden sie Roma und Nichtroma, SchweizerInnen und NichtschweizerInnen dazu ein, selbstaufgenommene Fotos von Blüten zu posten. Ob einmal oder jeden Tag eine, bleibt offen. «Jeder Blume teilen wir ein Wort in Romanes zu. Es geht bei der Anerkennung ja auch um den Erhalt unserer Sprache», sagt Esther N. In den Diskussionen unter den Blütenfotos – momentan sind es etwa 2000 – zeigen sich auch Roma und Nichtroma aus anderen europäischen Ländern überrascht bis schockiert, dass die Roma in der Schweiz nicht anerkannt sind. Sobald der Bundesrat über den Anerkennungsantrag befunden hat, wollen Esther N. und Rina C. die auf Facebook gesammelten Bilder aufs Bundeshaus projizieren. Ob die Bundeshausfassade als symbolisches Dankeschön oder als harmlose Guerillaaktion verschönert wird, entscheidet also der Bundesrat.

Roma in Europa

Acht bis zwölf Millionen Romnija und Roma leben in Europa. Damit sind sie die grösste ethnische Minderheit des Kontinents. Nur manche leben bis heute als Fahrende oder in segregierten Siedlungen. Über vier Millionen Roma leben in Südosteuropa, knapp die Hälfte in Rumänien. Aber auch in Spanien beträgt ihre Zahl etwa 800 000, in Frankreich 400 000, in Deutschland 100 000 – unwesentlich mehr als in der Schweiz. In Rumänien, Deutschland, Österreich, Serbien und im Kosovo sind Roma als nationale Minderheit anerkannt.

Diese Anerkennung ist von Staat zu Staat mit unterschiedlichen Rechten verbunden. Da Roma vielerorts mit Rassismus und sozialer Diskriminierung konfrontiert sind, verschweigen viele ihre ethnische Zugehörigkeit.