Von oben herab: Bei sich

Nr. 19 –

Stefan Gärtner über bourgeoise Marx-Versteher

Als Kind wollte man, dass die Zeit vergehe, damit man gross würde; jetzt ist man es und fürchtet ihr Tempo. Nicht auszudenken freilich, man hätte das sog. Marx-Jahr als Kind erlebt, denn für ein Kind ist ein Jahr eine Ewigkeit und ein ewig langes Marx-Jahr nur dann kein Albtraum, wenn man sich für Marx noch gar nicht interessiert, falls nicht zufällig ein Fussballspieler so heisst oder eine Mitschülerin, die man gut findet, aber bloss insgeheim, weil Mädchen ja eigentlich doof sind.

Wo war ich? Ah, Marx. Dem gratulieren Feuilleton und Wirtschaftsteil jetzt zum 200. Geburtstag, weil er den Kapitalismus als erster so richtig verstanden, ja sogar bewundert hat und es für die Systemproblemchen unserer Tage ohne Marx gar kein Vokabular gäbe. Dass alle Marx um den Rauschebart gehen, liegt natürlich daran, dass nichts mehr von ihm droht, und das ist deprimierend genug; noch deprimierender wird es da, wo unsere Kapitaldackel ihr Beinchen heben und Marx als einen der ihren markieren. In der NZZ vom 4. Mai hat der Feuilletonvorsitzende René Scheu das «Kommunistische Manifest» gelesen und ist darüber tatsächlich originell geworden: «Würde Marx wiederauferstehen, würde er wohl erst einmal staunen – und sich dann fragen: Wie kann man bloss auf die verrückte Idee kommen, die real existierende semikollektive Ordnung als turbokapitalistisch zu bezeichnen? (…) Marxens Kritik zielt also, bei Lichte besehen, nicht auf den Unternehmer und Eigentümer als solchen, sondern auf den Bourgeois, der auf der faulen Haut liegt und auf Kosten anderer lebt. (…) Anderseits stellt Marx den Arbeiter als jemanden dar, der stets zu viel gibt – er allein produziert den Mehrwert, den andere abschöpfen. Das ist zweifellos eine überraschende Einsicht der Marxschen Anthropologie: Gerade jenes Menschenwesen, das unter prekären Bedingungen als Knecht tätig ist, bewährt sich als Gebewesen, dessen erste Tugend die Grosszügigkeit ist.»

Eine Grosszügigkeit, von der sich Scheu («Gedanken-Scheu») eine dicke Scheibe abgeschnitten hat, denn dass die, denen das Kapital den Mehrwert abpresst, ihre Arbeitskraft von Natur aus gern herschenken, damit bourgeoise Anthropologen es sich auf ihre Kosten zwischen Redaktion, Dienstwagen und Altbauetage bequem machen können, das ist dann schon ein Grund, sich die Rote Armee zurückzuwünschen. «Hätte sich Marx, der gegen das leistungslose Einkommen polemisiert und ein Arbeitsethos pflegt, das jedem Kapitalisten alle Ehre machte, für ein bedingungsloses Grundeinkommen eingesetzt? Wohl kaum. Denn der Mensch – das darf als eine seiner wichtigsten Lektionen in Erinnerung bleiben – ist nur da bei sich, wo er nicht nur nehmen kann, sondern auch etwas zu geben hat.»

Gern möchte man dem Scheu da etwas geben, nämlich eins auf die Nuss; aber uns ehemaligen Zivildienstleistenden muss es reichen, unserer marianengrabentiefen Verachtung Ausdruck zu geben und einem schambefreiten Leistungsethiker, der Marx konform zurechtlügt, den guten Rat, mal wieder in die Zeitung zu sehen, es muss ja nicht die eigene sein: «Briefträger dürfen nicht oft krank werden: Eine Festanstellung bei der Post bekommt nur, wer binnen zwei Jahren maximal 20 Tage fehlt» («Süddeutsche», 7. 5.). Dies nämlich das, was als eine der wichtigsten marxschen Lektionen in Erinnerung bleiben darf: Wer nicht hat, muss geben, wer hat, kann nehmen. Und wenn er nur einen Knall hat.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.