Die Hisbollah und der Nahe Osten: Die irdische Macht der «Partei Gottes»

Nr. 20 –

Militärisch mächtig und nun politisch gestärkt: Die libanesische Hisbollah-Miliz prägt den schiitischen Aufstieg in der gesamten Region.

Dass die Termine letzte Woche fast zusammenfielen, war blosser Zufall. Doch beide Ereignisse verändern die politische Landkarte des Nahen Ostens. Am 6. Mai verschafften die libanesischen WählerInnen dem Parteienblock um die Hisbollah eine parlamentarische Mehrheit. Und am 8. Mai brach US-Präsident Donald Trump das Atomabkommen mit dem Iran.

Die Hisbollah, die strategische Verbündete des Iran, ist damit politisch gestärkt. Bis heute wird sie meist lediglich als verlängerter Arm des Iran im Libanon dargestellt – dabei hat sie sich selber zur regionalen Macht entwickelt. Und sie sieht sich einer Vielzahl unterschiedlichster Gegner gegenüber. Zuallererst dem historischen Feind Israel. Weiter dem sogenannten Islamischen Staat (IS) und al-Kaida. Seit Jahren steht die Hisbollah zudem auf der Terrorliste der USA, ihr «militärischer Flügel» auch auf der entsprechenden Liste der Europäischen Union. Und die Mehrheit der – sunnitisch dominierten – arabischen Staaten bezichtigt die Hisbollah, terroristische Gruppen zu unterstützen. Sogar der Uno-Sicherheitsrat verlangt ihre Entwaffnung. Doch die Miliz trotzt ihnen allen.

Auch militärisch ist die Hisbollah so stark wie nie zuvor. Dass sich etwa das syrische Regime nach sieben Jahren Krieg immer noch an der Macht halten kann, verdankt es zwar zweifellos den russischen Kampfjets. Aber auch der Hisbollah. Schon seit 2013 interveniert sie in Syrien, und sie schlug schon früh entscheidende Schlachten zugunsten des Regimes von Baschar al-Assad. Auch im Irak kämpfte die Hisbollah in den letzten Jahren. Seite an Seite mit irakischen schiitischen Milizen und iranischen Revolutionsgarden zog sie in den Krieg gegen den IS.

Dieser Aufstieg der Hisbollah steht für die schiitische Selbstermächtigung in der ganzen Region – das neue Selbstverständnis der arabischen SchiitInnen erklärt sich zu einem wesentlichen Teil durch die politischen und militärischen Siege der Hisbollah. Denn die Hisbollah spielt eine zentrale Rolle im sunnitisch-schiitischen Konflikt, der die arabische Welt gegenwärtig prägt.

Im Anfang war der Iran

Die Hisbollah ist eine iranisch inspirierte Schöpfung. In den frühen achtziger Jahren, während des libanesischen Bürgerkriegs, gründen libanesische Schiiten mit iranischer Unterstützung kleine bewaffnete Gruppen mit religiöser Ausrichtung. 1985 wird daraus schliesslich formell die Hisbollah, die «Partei Gottes». Die Islamische Revolution im Iran ist noch jung, sie sucht und findet Resonanz in der arabischen und muslimischen Welt, vorab in den schiitischen Gemeinschaften, aber auch generell als Auflehnung gegen die politische und kulturelle Vorherrschaft des Westens. Entsprechend positioniert sich die Hisbollah von Beginn an als «islamischer Widerstand» gegen Israel und die USA, nicht einfach als weitere libanesische Bürgerkriegspartei.

In jener Zeit verändert sich die Lage auf dem libanesischen Schlachtfeld wesentlich. Die israelische Invasion 1982 zwingt die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) zum Abzug; die mit der PLO verbündeten linken NationalistInnen, gerade auch stark verankert unter den SchiitInnen, werden deutlich geschwächt. Der libanesische Widerstand gegen die israelische Besatzung sammelt sich mehr und mehr um die Hisbollah.

Gleichzeitig entwickelt sich die Hisbollah auch zu einer zentralen schiitischen politischen Akteurin. Der libanesische Bürgerkrieg verläuft vorab entlang konfessioneller Fronten, und auf schiitischer Seite gab es bis dahin nur die Aml-Bewegung. Die Aml ist ein klientelistischer Haufen, tief verstrickt im Bürgerkrieg, aber ohne eigentliches politisches Programm. Die SchiitInnen bilden im Libanon seit Jahrhunderten eine Unterschicht, sie sind in jeder Hinsicht unterprivilegiert und unterrepräsentiert. Sie leben als BäuerInnen auf dem Land oder fliehen vor Krieg und Armut in die städtische Peripherie. Im Süden der Hauptstadt Beirut wachsen slumähnliche schiitische Vororte, teilweise dominiert von Familienclans. Geschäfte mit Drogen (der «Rote Libanese» ist eine in Europa beliebte Haschischsorte) und Entführungen gehören dort zum Alltag. Und plötzlich etabliert sich in diesem Milieu mit der Hisbollah eine nicht korrupte, disziplinierte, kampfstarke Alternative mit politischen Zielen und ohne dreckige Vergangenheit. Die Hisbollah wird zur politischen Partei.

Ende der achtziger Jahre ist der Libanon erschöpft vom Bürgerkrieg. Das Abkommen von Taif regelt 1989 die Entwaffnung der Parteien und Milizen, die Anfang der neunziger Jahre zumindest oberflächlich vorgenommen wird. Davon ausgenommen ist nur die Hisbollah – als Widerstand gegen die israelische Besatzung. Denn, so etabliert sich die Legende: Die Waffen der Hisbollah richten sich nur gegen Israel, im Bürgerkrieg wurden sie nie eingesetzt. Das stimmt zwar nur zum Teil, denn es gab durchaus heftige Kämpfe zwischen der Aml und der Hisbollah. Aber weil das innerschiitische Auseinandersetzungen waren, sahen sich die anderen Bürgerkriegsparteien davon nicht betroffen.

Populärer Widerstand

Nach Bürgerkriegsende muss der Libanon mit gleich zwei Besatzungen zurechtkommen: Im Süden beansprucht Israel eine «Sicherheitszone», und das Regime in Damaskus missbraucht den Status Syriens als Schutzmacht des Taif-Abkommens dazu, das Land zu kontrollieren und zu plündern.

Im Kampf gegen Israel steigert die Hisbollah ihre Kampfkraft und Effizienz. Ihre ständigen Guerillaaktionen zermürben die Besatzungsmacht und führen schliesslich zu deren Abzug im Jahr 2000. Wiederholt kommt es auch zu offenen Kriegen mit Israel, der grösste davon im Jahr 2006. Diese Kriege machen den «islamischen Widerstand» in der arabischen Welt nur populärer: Egal in welchem Ausmass der Libanon jeweils zerstört wird – weil die Hisbollah militärisch immer überlebt, lässt sie sich immer wieder selbst als Siegerin feiern.

Dank ihrer militärischen Macht etabliert sich die Hisbollah auch innenpolitisch als dominante Kraft (vgl. «Der Hisbollah-Putsch von 2008» im Anschluss an diesen Text). Wobei die Hisbollah realistisch genug ist, diese Dominanz auf die strategischen und militärischen Entscheide zu beschränken. Forderte sie in den Anfangszeiten noch eine Islamische Republik Libanon, ist sie längst davon abgekommen, den anderen Gemeinschaften die eigene Lebensart aufzwingen zu wollen. Mit der Hisbollah droht kein Kopftuchzwang in christlichen Dörfern. Das Leben in Hisbollahland im Südlibanon ist entspannter und freier als jenes im Iran. Im Libanon wirkt die Partei Gottes als Erweckerin und Beschützerin der schiitischen Gemeinschaft und weniger als islamisch-religiöse Sittenwächterin.

Die Rolle der Beschützerin der SchiitInnen spielt sie heute auch regional. In Syrien etwa. Sicher verteidigt sie dort vorab ihre strategische Allianz mit dem Iran und dem syrischen Regime. Den unmittelbaren Anlass für ihre Intervention 2013 bot aber der Schutz schiitischer Heiligtümer sowie einiger schiitischer Dörfer, die von sunnitischen Milizen angegriffen wurden. Dennoch argumentiert die Hisbollah selber nie antisunnitisch.

Für die Spaltung des Islam kann sie so immer andere verantwortlich machen: die saudischen Wahhabiten mit ihrer konfessionalistischen Politik oder al-Kaida und den IS, der die SchiitInnen als Ungläubige vernichten will. In Hisbollah-Kreisen macht man sich heute über solche Ultrasunniten lustig. So spottet man etwa über den Namen des nigerianischen IS-Alliierten, Boko Haram, allgemein übersetzt mit «Bildung ist Sünde». So frappant haben sich die Perspektiven und Darstellungen geändert – hier die bildungsfreundlichen, zivilisierten Menschen der südlichen Beiruter Vororte, dort die radikalsunnitischen Barbaren.

Steigende Kriegsgefahr

Angesichts der Stärke der nahöstlichen schiitischen Allianz arbeiten auch einige ihrer unterschiedlichen Feinde immer mehr und offener zusammen. Und die Gefahr eines neuen regionalen Krieges ist seit dem 8. Mai infolge des trumpschen Vertragsbruchs enorm gestiegen. Es gibt derzeit viele Varianten, wie und wo ein solcher Krieg einer israelisch-US-amerikanisch-saudischen Allianz gegen den Iran beginnen könnte. Doch gerade der Libanon erscheint nun plötzlich wieder direkt gefährdet. «Hisbollah = Libanon», hiess es als Reaktion auf den Wahlsieg der Hisbollah etwa von einem israelischen Minister; was als Drohung etwa so zu lesen ist: Wenn wir die Hisbollah angreifen wollen, gilt uns der ganze Libanon als legitimes Ziel.

Die Hisbollah zeigt sich als regionale militärische Macht derweil flexibel und selbstbewusst. In Syrien, liess sie im Frühling verlauten, werde der Krieg wohl noch mindestens zwei Jahre dauern – und man bleibe halt so lange wie nötig. Im Irak sieht die Hisbollah ihren Auftrag unterdessen erfüllt. Der IS sei dort besiegt und als militärische Struktur nicht mehr vorhanden. Man werde die vielen Ausbildner und Berater aus dem Irak zurückziehen, verkündete Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah vor ein paar Monaten – und verband den Triumph mit einer Drohung: «Unsere Brüder werden überall dorthin gehen, wo es die Führung verlangt.»

Dominanz im Libanon : Der Hisbollah-Putsch von 2008

Auch wenn die Hisbollah nur dank ihrer Verbündeten die parlamentarische Mehrheit errang und andere Parteien mehr Sitze gewannen – sie bleibt die stärkste der libanesischen Parteien. Ihre Vormachtstellung errang sie schon genau zehn Jahre zuvor. Damals stand der Libanon erneut am Rand eines Bürgerkriegs. Nach dem Abzug der syrischen Besatzungsmacht hatte sich das Land in zwei etwa gleich grosse Blöcke gespalten: eine sunnitisch-christlich-drusische Allianz gegen das syrische Regime, genannt 14. März, und die mit Syrien verbündete schiitische Allianz von Hisbollah und Aml-Bewegung, genannt 8. März, die auch von einer grossen christlichen Partei unterstützt wurde. Beide Blöcke schürten die Spannungen kontinuierlich.

Die Lage klärt sich im Mai 2008. Die 14.-März-Allianz stellt an sich banal wirkende, aber für die Hisbollah als militärische Kraft existenzbedrohende Forderungen: Der Hisbollah-nahe Sicherheitschef am Flughafen soll ausgewechselt und das Hisbollah-interne Kommunikationsnetz aufgelöst werden. Die Hisbollah reagiert entschieden. Über Nacht werden die strategisch wichtigen Orte in der Hauptstadt Beirut besetzt. Nach vereinzelten Kämpfen wird schnell klar, wem die militärische Macht gehört. Drei Tage dauert dieser Miniputsch der Hisbollah, und seither bestimmt sie die Politik im Libanon.

Das erklärt auch den Hass weiter Teile der christlichen und sunnitischen Gemeinschaften auf die Hisbollah: Die ehemals Privilegierten, die früheren libanesischen Eliten, sehen sich bis heute ohnmächtig gegenüber dem verachteten schiitischen Pöbel.

Armin Köhli