Durch den Monat mit der «grossen um_ordnung»: Muss Theater politisch sein?

Nr. 20 –

Der Theaterregisseur Tim Zulauf ist Mitorganisator der Kunstaktion «die grosse um_ordnung». Er mag es, wenn sich komplexe Fragen in Unterhaltung einmischen, glaubt an kleine, beharrliche Kämpfe und denkt, dass sich das Theater überschätzt.

Tim Zulauf: «Theater muss politisch sein, wenn es nicht Kunsthandwerk sein will.»

WOZ: Tim Zulauf, was ist Ihre Aufgabe in der «grossen um_ordnung»?
Tim Zulauf: Mich um den Text und die Inszenierung zu kümmern. Es ist ja eine inszenierte politische Aktion – mit allen Widersprüchen. Gestern haben wir geprobt: Wir versuchen, die Slogans thematisch ineinanderfliessen zu lassen. Manchmal wirkt das sehr merkwürdig, manchmal auch sehr einleuchtend. Die verschiedenen Anliegen stecken einander an.

Ihre Theaterstücke drehen sich fast immer um politische Inhalte: Überwachung, Kontrolle, Gentrifizierung, Sexarbeit, Care-Arbeit …
Oft geht es um immaterielle Arbeit, bei der kein greifbares Produkt im Vordergrund steht, sondern die Einrichtung von Gesellschaft: Verwaltung, Programmierung und Arbeiten mit Körpernähe, die oft tabuisiert und schlecht bezahlt sind – und gleichzeitig ja das Wesentlichste überhaupt. Anlass zum Stück «Striche durch Rechnungen» war die Hetze gegen «Zwangsprostitution in Roma-Clans» im Vorlauf zu Zürichs Sexboxen. Auf die Altenpflege und die damit verbundene Pendelmigration aus Osteuropa, um die es im Stück «Pflege und Verpflegung» geht, bin ich dank der Soziologin Sarah Schilliger aufmerksam geworden. Wie da polnische Frauen als «von Natur aus herzensgut» angepriesen und nebenher als raffgierige Rabenmütter gebrandmarkt werden, die ihre eigene Familie vernachlässigen …

Also entstehen die Stücke aus der intellektuellen Beschäftigung mit einem Thema?
Nur zum Teil. Denn in der Einrichtung von Gesellschaft stecken wir ja alle tief mit drin. Das wird nur ständig unterdrückt. Als hochdeutsch sprechendes Kind machte ich in der Schweiz noch in den achtziger Jahren heftige Fremdheitserfahrungen. Auch den Rassismus gegenüber fremdländisch aussehenden Kindern fand ich krass. Das sind Erfahrungen, die körperlich nachwirken. In der Schule hatte ich zum Teil auch Stress mit meiner Art, zu denken.

Wie meinen Sie das?
Ich denke kaum linear, eher räumlich geballt, in clusterförmigen Einfällen, die auf einer vorsprachlichen Ebene stattfinden.

Manche fühlen sich von meinen Stücken provoziert: Sie sind befremdet von dieser Spannung, der Gleichzeitigkeit verschiedener Gedanken, kombiniert mit ganz einfachen, linearen Strukturen. So habe ich oft Stücke gebaut.

In Ihren Stücken fällt auf, dass es bei aller Komplexität eine Handlung gibt, die packt und auch eine gewisse Identifikation mit den Figuren ermöglicht.
Andreas Storm, mit dem ich oft arbeite, hat das «Genre-Folien» genannt. Zum Beispiel «Der Bau der Wörter»: Das war vom Genre her eine Spukhausgeschichte – eine Person ist im ehemaligen Contraves-Hauptsitz in Zürich Seebach verschwunden. Aber eigentlich ist es eine Arbeit über Stadtentwicklung und verdrängte Geschichte. Ich mag es, wenn sich komplexe gesellschaftliche Fragen in Unterhaltungskultur einmischen.

Eine Szene in «Pflege und Verpflegung» ist mir stark in Erinnerung geblieben: Da sitzen die Toten im Jenseits zusammen und rüsten Gemüse. Wie kommen Sie auf solche Bilder?
Da ist der Notstand in der Pflege, da ist das generelle Desinteresse am Alter – wir gehen nicht mehr davon aus, dass alte Menschen Wissensschätze hüten oder dass demente Menschen eine Realität mit uns teilen. Ich habe dieses Szenario überspitzt und mir einen Alterstrotz überlegt, der antwortet: Wenn ihr uns nur als Kostenfaktor ernst nehmt, dann pflegen wir uns eben selber. Das sollte fein sein, in der Unmöglichkeit aber wehtun. Gemischte WGs für Alt und Jung sind ja ein tolles Modell, brauchen aber unglaubliches Know-how – das kaum wo zu lernen ist.

Muss Theater politisch sein?
Da bin ich im Clinch. Einerseits muss es das, wenn es nicht Kunsthandwerk sein will. Aber der Theaterzirkus überschätzt seine Rolle als Einrichtung, in der sich das Bürgertum einmal gespiegelt hat. Als würde nun im Umkehrschluss alles, was in diesem Spiegelraum gemacht wird, das Bürgertum verändern – das es so gar nicht mehr gibt. Krude ist auch der Mythos der Theateraufführung als genialischer Befreiungsschlag, der eine politische Lawine auslöst.

Das ist aber auch sehr naiv.
Ja, und es bringt uns genau weg von einer politischen Einsicht, die mir wichtig ist: Ein politisches Theaterprojekt kann nicht etwas sein, das isoliert stattfindet, sondern muss sich verknüpfen mit lokalem Wissen, an dem andere auch immer schon arbeiten. Oft in vielen kleinen, beharrlichen Kämpfen. Aber in der Linken wird stattdessen lieber ein falscher Gegensatz konstruiert: Es heisst, die Postmoderne habe mit Anerkennungspolitik und der Dekonstruktion von Herrschaftswissen die politischen Grundlagen zerstört. Jetzt müssten wir wieder zu einem universalistischen Verständnis zurück – die harten Fakten für alle verändern. An dieser Schuldzuweisung geht viel kaputt. Für mich ist klar: Wir brauchen Umverteilung und Anerkennung gleichzeitig. Gerade weil diese Gleichzeitigkeit schwierig ist.

Tim Zulauf (44) ist Autor und Theaterregisseur in Zürich. Die politische Kunstaktion «die grosse um_ordnung» findet am 26. Mai auf dem Zürcher Helvetiaplatz statt, davor weitere Veranstaltungen: www.diegrosseumordnung.ch.