Eskalation im Gazastreifen: Der Widerstand trägt Trauer

Nr. 20 –

Sechzig DemonstrantInnen wurden Anfang der Woche beim «Grossen Marsch der Rückkehr» von israelischen Militärs erschossen. Die PalästinenserInnen hatten daraufhin auf internationale Solidarität gehofft – doch die fiel relativ verhalten aus.

Das Shifa-Krankenhaus in Gaza ist hoffnungslos überfüllt. «Uns fehlt es an Orthopäden und Anästhesisten», klagt Doktor Ayman al-Sahbani, Chef der Notaufnahme. Fast 3000 Verletzte zählte das palästinensische Gesundheitsministerium allein am Montag dieser Woche. In den Krankenzimmern stehen drei bis vier Betten dicht nebeneinander. Die PatientInnen tragen Strassenkleidung. Viele haben Schussverletzungen an den Beinen, einige sind frisch amputiert. Auf den Gängen herrscht ein wirres Durcheinander. «Wir haben nicht ausreichend Medikamente, keine Schmerzmittel und Antibiotika», sagt Sahbani. Schuld daran, so heisst es im Krankenhaus, sei die palästinensische Führung der Fatah in Ramallah, die öffentliche Gelder für den Gazastreifen zurückhalte.

Den zwanzigjährigen Moas erwischte schon vor zwei Wochen eine Kugel am Unterschenkel, als er sich bis auf wenige Meter an den Grenzzaun vorwagte. Er verzieht voller Schmerz das Gesicht, als ihn versehentlich jemand am Bein berührt. Der junge Palästinenser, der auch im Krankenbett seine Sportmütze nicht absetzt, ist in den Augen seiner FreundInnen ein Held. «Ich habe keine Angst vor dem Tod», sagt er und kündigt an, wieder an den Protesten teilzunehmen, sobald er laufen könne. «Dies ist mein Land.» Gleich nach seiner OP darf Moas nach Hause. «Wir haben keine Kapazitäten», sagt Chefarzt Sahbani, «wir müssen viele Fälle vorzeitig entlassen.»

Enttäuschte Hoffnungen

Die Hamas lässt die Protestaktion «Grosser Marsch der Rückkehr» vorläufig ruhen. Drei Tage Trauerzeit rief die islamistische Führung im Gazastreifen nach dem Tod von sechzig DemonstrantInnen Anfang der Woche aus. Bei der Bestattung der Toten machte sich Ernüchterung breit. «Es war alles umsonst», sagt ein junger Mann, der auf ein Ende der Belagerung gehofft hatte und auf mehr internationale Solidarität. Seit dem 30. März demonstrierten die PalästinenserInnen im Grenzgebiet zum Gazastreifen jeweils freitags, um das Recht der vor siebzig Jahren vertriebenen Flüchtlinge auf Rückkehr in ihre Heimat einzufordern und um auf die zunehmende wirtschaftliche Misere der Bevölkerung aufmerksam zu machen. Die Hamas hatte zum friedlichen Protest aufgerufen mit dem Ziel, die Grenzanlagen nach Israel zu durchbrechen.

Israels Sorge ist, dass es Hamas-Kämpfern unter dem Schutz ziviler DemonstrantInnen gelingen könnte, die Grenzanlagen zu durchbrechen, einen israelischen Soldaten in ihre Hände zu bekommen und in den Gazastreifen zu entführen. Vor zwölf Jahren war der damals knapp zwanzigjährige Gilad Shalit durch einen geheimen Tunnel in den Gazastreifen verschleppt worden, wo er gut fünf Jahre in Gefangenschaft war, ehe Israel den Soldaten im Austausch gegen mehr als tausend palästinensische Sicherheitshäftlinge freikaufte. Einige der entlassenen PalästinenserInnen waren später erneut an Terroranschlägen beteiligt.

«Mit allen Mitteln», so hatte Verteidigungsminister Avigdor Lieberman angekündigt, werde Israel die DemonstrantInnen von den Grenzanlagen fernhalten. Das harte Vorgehen von Israels Sicherheitsapparat, der Scharfschützen auf Unbewaffnete schiessen liess, stiess auf internationalen Protest. Nicht Israels Führung sei für das Blutvergiessen verantwortlich, sondern die Führung der Hamas im Gazastreifen, sagte Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu und lobte den «entschlossenen Einsatz der Sicherheitsdienste». Die Luftwaffe hatte die Bevölkerung gewarnt und warf Zettel über dem Gazastreifen ab. «Die Hamas missbraucht euch, um von ihrem Versagen abzulenken», stand darauf. «Sie bringt euch und eure Familien in Gefahr.»

Hohe Risikobereitschaft

Der palästinensische Politologe Mhkaimar Abusada verbietet seinen 17, 21 und 23 Jahre alten Söhnen, an den Protesten an der Grenze teilzunehmen. In Gaza leben rund zwei Millionen Menschen. Selbst bei «optimistischer Rechnung waren es am Montag nicht mehr als 50 000 Demonstranten», sagt Abusada. Die Hamas rufe zwar dazu auf, am «Grossen Marsch der Rückkehr» teilzunehmen, letztendlich entscheide aber jeder selbst, ob er hingehe oder nicht. Die hohe Risikobereitschaft der Männer, die sich bis dicht an den Grenzzaun heranwagen, wohlwissend, dass auf der anderen Seite die israelischen Scharfschützen auf sie zielen, erklärt der Politologe mit der hoffnungslosen Lage in Gaza. «Vor allem Jugendliche denken, dass sie nichts zu verlieren haben. Sie empfinden das Leben im Gazastreifen als einen langsamen Tod», so Abusada.

Appell an Ägypten

Die Arbeitslosenquote liegt bei über vierzig Prozent. Frisches Trinkwasser und Strom gibt es nur sporadisch. Dazu kommt, dass Israel und Ägypten die Grenzen geschlossen halten. Als das grösste Freiluftgefängnis der Welt bezeichnen PalästinenserInnen den Gazastreifen. Dem erbärmlichen Leben zögen deshalb viele, insbesondere religiöse Männer den Freitod vor. «Die Muslime gehen davon aus, als Märtyrer direkt ins Paradies zu kommen, wenn sie sich für ihr Heimatland opfern.» Dennoch sei Israel «an diesem Wahnsinn» schuld, der umgehend gestoppt werden müsse. Abusada fordert eine internationale unabhängige Untersuchung, «ob es den USA gefällt oder nicht». Im Uno-Sicherheitsrat kursierte Anfang der Woche ein Vorschlag für eine gemeinsame Stellungnahme zur Gewalt, in der eine Untersuchung gefordert wurde, was die USA aber blockierten.

Auch Omar Shaban, Wirtschaftswissenschaftler und Leiter des palästinensischen Forschungsinstituts Pal-Think for Strategic Studies in Gaza, denkt, dass die hohe Arbeitslosigkeit und die Armut vor allem junge PalästinenserInnen dazu motivieren, an den Demonstrationen teilzunehmen. «Niemand will sterben», sagt Shaban, die Leute «wollen auf ihre Not aufmerksam machen», die immer unerträglicher werde. Hauptgrund dafür sei die Belagerung, die seit der Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen vor elf Jahren begann. Ägypten müsse die Grenze öffnen, was möglich wäre, sobald die Fatah erneut das Kommando über den Gazastreifen bekommt. Der Wirtschaftswissenschaftler appelliert an die arabischen Staaten, ihren Einfluss auf die Führungen von Hamas und Fatah zu nutzen, damit diese ihren Zwist beilegen, der mit Grund für die Not sei.

Wenig Solidarität

Ungeachtet der zahlreichen Toten hält sich die internationale Solidarität mit dem Gazastreifen in Grenzen und bleibt vorerst «überwiegend deklarativ», resümiert Barak Ben-Zur vom Internationalen Antiterror-Institut in Herzlia. Nur drei Länder, Südafrika, die Türkei und Neuseeland, riefen infolge des harten Vorgehens von Israels Armee gegen die DemonstrantInnen ihre Botschafter zurück. Das sei für Israel «keine allzu erschreckende Bilanz». In New York könne sich Israel auf «die absolute Rückendeckung der USA verlassen», sagt Ben-Zur, räumt jedoch ein, dass der Mangel an internationalen Reaktionen eine weitere Eskalation der Lage provozieren könnte. «Wenn es der Hamas nicht gelingt, breite Unterstützung für ihre Sache in der Welt zu gewinnen, könnte das zu noch mehr Gewalt führen.» Ein Krieg sei für die palästinensischen Islamisten allerdings keinesfalls wünschenswert. Der letzte Krieg habe sie gelehrt, dass «die Macht der Hamas, Israel wehzutun, begrenzt ist, umgekehrt Israel aber der Hamas grossen Schaden zufügen kann». Denkbar wäre vielmehr neuer Terror, sei es im Grenzgebiet zum Gazastreifen, im Westjordanland oder auch innerhalb Israels. «Es könnte überall passieren.»

Vorläufig bleibt sogar die Solidarität der PalästinenserInnen im Westjordanland begrenzt. Fatah-Vertreter in Ramallah begrüssten, dass sich die Hamas «für den rechten Weg des unbewaffneten Kampfes» entschieden habe, den die Fatah seit 25 Jahren verfolgt. Am Nakba-Tag, der an den Beginn der Flüchtlingskatastrophe vor siebzig Jahren erinnert, gab es zwar einige Demonstrationen im Westjordanland, und am Vortag protestierten in Ostjerusalem einige Hundert PalästinenserInnen gegen die Entscheidung von US-Präsident Donald Trump, die Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen. Der Umzug des diplomatischen Korps diente der Hamas als zusätzlicher Zündstoff. Jihia al-Sinwar, Chef des Hamas-Politbüros, lud zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt Anfang letzten Jahres die JournalistInnen zu sich. «Der Gazastreifen ist wie ein hungriger Tiger, den man seit elf Jahren gefangen hält», meinte er. «Dieser Tiger ist jetzt los.» Spätestens am 5. Juni, dem Naksa-Tag, der den Beginn der israelischen Besatzung markiert, sollen die Demonstrationen weitergehen.