Bianca Bellová: Das Geheimnis des Seegeistes

Nr. 21 –

Ein tieftrauriger Roman: In «Am See» erzählt die tschechische Autorin Bianca Bellová, wie der ökologische Raubbau an einem See eine ganze Region verändert.

Hat eine Parabel verfasst, die nur ganz selten einmal ins Klischee abdriftet: Schriftstellerin Bianca Bellová. Foto: Marta Rezova

Die sichtbarste Gemeinsamkeit der DorfbewohnerInnen sind die Ekzeme. Insbesondere die Kinder kratzen sich ständig, denn der See ist verseucht. Noch gibt es Fische darin, die das Überleben der Fischer sichern und der Fischfabrik, des wichtigsten Arbeitgebers im Dorf. Deshalb ist der «Tag des Fischfangs» auch ein grosses Ereignis mit Zuckerwatte und Krapfen und einer Rede des Fabrikdirektors.

An all dies erinnert sich Nami ebenso wie an den aussergewöhnlichen Tag, den er mit den Grosseltern und der jungen Frau in den drei roten Dreiecken am See verbrachte und an dem er unfreiwillig schwimmen lernte. «Täubchen» nennt ihn die Frau, bevor sie am nächsten Tag wieder verschwindet. Noch bleibt Nami eine kleine Frist unbeschwerter Kindheit zwischen Blinis und Kaviar, den er eimerweise isst, bis sich eines Tages der Blick seiner Grossmutter ahnungsvoll über den See richtet, mit der Hand über den Augen: Der Grossvater ist zusammen mit sechs anderen Fischern beim «Seegeist» geblieben, einem recht böswilligen Naturgott, der das Denken der BewohnerInnen bestimmt.

«Am See» nennt Bianca Bellová ihren Erstlingsroman lapidar, doch der See ist mehr als eine Landschaftserscheinung, er ist ein Symbol. Angesiedelt irgendwo in einer nicht näher bestimmten zentralasiatischen Republik der zerfallenen Sowjetunion, noch kontrolliert von russischem Militär und Ingenieuren, ist das am See liegende Boros symptomatisch für die sozialen Fliehkräfte, die durch ökologischen Raubbau und ideologische Verwerfungen befördert werden. Wo bislang Fischerhäuschen, Plattenbausiedlungen für die RussInnen, Aberglaube und Technikgläubigkeit koexistierten, beginnt mit dem unaufhaltsamen Rückzug des Sees aufgrund der Ölförderung der allmähliche Zerfall.

Fliehen oder kämpfen

Mit dem Tod der Grossmutter und der Aneignung ihres Hauses durch die Familie des Kolchosevorsitzenden ist die Jugendphase für Nami endgültig beendet. Als seine Freundin Zaza vor seinen Augen von russischen Soldaten vergewaltigt wird, verlässt er das Dorf und landet in der Hauptstadt, wo er sich in der Schwefelproduktion verdingt. Sein eigentliches Ziel ist es, nach einer Frau, seiner Mutter, zu suchen, «deren Existenz genauso real ist wie die des Seegeistes».

Bildstark und eng angeschmiegt an die erlebte Gegenwart des Protagonisten begleitet die 1970 in Prag geborene Autorin mit bulgarischen Wurzeln diese Reise, bei der Wetterphänomene ebenso ihren Platz haben wie symbolträchtige Träume und beissender Naturalismus: Wuchtige Wolken erinnern an einen «alten dicken Mann, der sich in der Hochzeitsnacht auf seine frischgebackene Ehefrau schiebt», die Arbeitsbörse der Hauptstadt ist «bevölkert von Männern in Dreier- oder Viererreihen, die in allen Farben der Traurigkeit gekleidet sind und den Duft nach Menschlichkeit und ungewaschener Unterwäsche verströmen», und in den frisch ausgebrachten Asphalt zeichnet Nami «unauffällig seinen Schmerz hinein, Grossmutters grosse Hände, die Rundungen eines Frauenkörpers, die Hühner im stinkenden Stall», in den ihn der Kolchoseleiter wochenlang eingesperrt hatte, und eben jene «drei Dreiecke», nach denen er sucht.

In Nami wütet eine Bestie, die sich gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen ebenso auflehnt wie gegen den neureichen Johnny – dem er zwischendurch den Haushalt führt und den es erregt, harmlose Tiere zu töten – und gegen seine gesamte schreckliche Existenz, die mit dem See und der geschundenen Natur verbunden bleibt. «Du musst jederzeit bereit sein, zu fliehen oder zu kämpfen, Junge», gibt ihm die alte Dame, in deren Villa es ihn zufällig verschlagen hat, mit auf den Weg ins Dorf seiner Mutter, wo er die Wahrheit über seine Herkunft zu erfahren hofft.

Gewaltsame Zeugung

In diesem nach «Ei» und «Larve» «Puppe» genannten dritten Teil trifft Nami nicht nur seine Mutter wieder, sondern wird auch Zeuge der zunehmenden Islamisierung der Einheimischen, der die Russen nichts mehr entgegenzusetzen wissen. Er verfolgt, wie die Wüste an die Hauptstadt herangekrochen kommt, die Baumwolle das letzte Wasser auffrisst und das Denkmal des «Staatslenkers» gestürzt wird. «Ich konnte nichts dagegen tun», versucht Namis Mutter seine gewaltsame Zeugung zu erklären. Nami versteht, dass er zurückmuss an den Ursprung, nach Boros, um das Geheimnis, das der Seegeist hütet, zu lüften.

Das mit Namis Suchbewegung voranschreitende, nur ganz selten einmal ins Klischee abdriftende Entdeckungsdrama offenbart am Ende nicht nur den in Boros herrschenden Aberglauben, mit dem selbst ein Mord legitimiert wird, sondern auch die soziale Zerstörungskraft ungehemmter Naturausbeutung. Bellová will ihren mit dem tschechischen Buchpreis Magnesia und dem Europäischen Literaturpreis ausgezeichneten tieftraurigen Roman deshalb auch nicht konkret verstanden wissen, sondern als Parabel.

«Imago» heisst der letzte kurze Teil, der davon handelt, wie Nami mit seinem vermeintlichen zweiten Grossvater beginnt, die Dinge aus dem vergifteten See zu retten, um sie ihren BesitzerInnen zurückzugeben und dabei endlich dem «verfluchten Seegeist» zu begegnen.

Bianca Bellová: Am See. Roman. Aus dem Tschechischen von Mirko Kraetsch. Verlag Kein & Aber. Zürich 2018. 231 Seiten. 30 Franken