Durch den Mai mit Karl Marx (4): «Genossen, ihr müsst wirtschaften wie der Kapitalismus»

Nr. 21 –

Die DDR hat stets behauptet, sich nach der Lehre von Karl Marx zu richten. Max und Marta haben beide in der DDR gelebt und hinterfragen diese Behauptung – und sie zeigen, was sie heute noch an Marx wichtig finden.

Die DDR und die Sowjetunion haben im Westen das Bild von Karl Marx wesentlich geprägt. Insbesondere für Leute im deutschsprachigen Raum bot die ehemalige DDR ein negatives Beispiel von «Sozialismus». Für viele hatte sich deshalb mit deren Ende auch Marx erledigt.

Doch was denken ehemalige DDR-BürgerInnen heute über Marx? Zum Beispiel Max und Marta. Sie berichten, wie das marxsche Gedankengut sie in ihrem Leben begleitet hat und wie die DDR mit Marx umging. Die beiden sind Mitte sechzig. Marta lebt heute noch in Berlin, Max ist vor einigen Jahren in die Schweiz gezogen. Sie wollen nicht mit ihrem echten Namen zitiert werden, weil sie offen reden möchten, ohne sich deswegen im privaten oder beruflichen Umfeld zu exponieren.

Das Opium blieb haften

Marta: «Zum ersten Mal habe ich im Geschichtsunterricht noch im Ruhrgebiet von Karl Marx gehört, ich war elf oder zwölf Jahre alt. Im Geschichtsbuch war der Anfang des «Kommunistischen Manifests» abgedruckt. Unser Lehrer sagte zur einen Gruppe: ‹Ihr tut jetzt mal so, als wärt ihr Kommunisten. Die andern spielen Kapitalisten.› Ich war bei den Kommunisten. Natürlich hatten wir überhaupt keine Ahnung vom Kommunismus und haben völlig versagt, die anderen waren viel brillanter.

Die Frage nach der Gerechtigkeit hat mich immer umgetrieben. Sicher politisierte mich dann auch der Vietnamkrieg. Und meine Schwester, die viel älter ist als ich, beeinflusste mich stark. Sie lebte damals in Frankreich und war früh der französischen KP beigetreten.

Mit neunzehn las ich von Karl Marx den Satz von der Religion als dem ‹Opium des Volkes›. Das hat mich sehr beeindruckt. Danach bin ich sofort aus der Kirche ausgetreten. Aber wenn ich ehrlich bin, ist es das Einzige von Marx, was so richtig haften geblieben ist. Seine wirtschaftlichen Abhandlungen, zum Beispiel ‹Das Kapital›, habe ich teilweise gelesen, aber nicht richtig verstanden.

Das ‹Kommunistische Manifest› endet mit dem Aufruf: ‹Proletarier aller Länder, vereinigt euch!› Das klingt gut und schön. Aber es ist Theorie – bis heute. Die Kapitalisten vereinigen sich, nicht die Proletarier, die waren sich noch nie grün. Das haben wir schon früh erfahren. Als Studentin habe ich zum Beispiel vor einer grossen Fabrik in Essen Flugblätter verteilt. Wir wollten, dass die Arbeiter für einen Tarifvertrag streiken. Die haben sich totgelacht über uns.


In die DDR übergesiedelt bin ich im Sommer 1977 – wegen der Liebe. Ich hatte im Urlaub in Bulgarien einen DDR-Bürger kennengelernt. Er war angehender Journalist und wollte nicht in den Westen ausreisen. Es war aber nicht so einfach, in die DDR zu ziehen – es ging dann aber doch. Ich musste Mitglied der Einheitspartei SED werden und wurde DDR-Bürgerin.

Der Parteilehrgang und die Parteiversammlung fanden einmal im Monat statt. Das war für Genossen Pflicht. Da wurde die Tagespolitik der SED diskutiert, es war meist sehr einschläfernd. Ich kann mich nicht erinnern, dass sich jemals jemand auf Marx berufen hätte. Man berief sich eher auf Politbüromitglieder oder auf einen Kader in der Sowjetunion, der erklärt hatte, warum dieser Fünfjahresplan wichtig sei. Aber marxistische Theorie, nein, das gab es nicht. Ich besuchte zwar Lehrgänge zu marxistisch-leninistischen Schriften, die gemeinsam besprochen werden mussten – sehr abgehoben. Mit der Realität hatte das wenig zu tun. Was darin stand, weiss ich nicht mehr. Es waren Merksätze und runtergebetete Theorien. Die Stalin-Zeit oder Dinge, die in der DDR schiefliefen, wurden nie thematisiert. Das Argument war immer: Wenn der Klassenfeind das mitkriegt, ist es noch schlimmer, also reden wir lieber nicht darüber.»

Missverständnis Planwirtschaft

Max: «Jeder hörte bei uns schon als Kind von Marx und der Idee, dass man die Gesellschaft verändern und nicht nur interpretieren soll. Natürlich war das ‹Kommunistische Manifest› das Erste, was man uns in der Schule beigebracht hat. Der Geschichtsunterricht war durchdrungen von der Idee, dass die Gesellschaftsordnungen ineinander übergehen und eine Höherentwicklung stattfindet: von der Urgesellschaft zur Sklavenhaltergesellschaft, zum Feudalismus, zum Kapitalismus und dann zu Sozialismus und Kommunismus – das war der Kanon.

Es gab aber eine erhebliche Kluft zwischen dem sogenannten real existierenden Sozialismus und dem Marxismus. Warum hat die DDR überhaupt vom real existierenden Sozialismus gesprochen? Sie gab damit zu, dass sie nicht der marxistische Idealzustand ist! Einerseits trug man Marx vor sich her – andererseits machte man nicht, was er empfohlen hatte.

Ich bringe immer das Beispiel der Planwirtschaft. Das steht meiner Meinung nach nirgends in Marx’ Schriften. Ich habe zwar nicht alles gelesen, aber das eine oder andere musste ich schon durchlesen. Ich studierte in Moskau Ingenieurwesen. Wir hatten neben Physik, Mathematik oder Chemie auch Vorlesungen zur Politökonomie des Sozialismus oder zur Philosophie des Marxismus-Leninismus. Am Ende des Studiums gab es ein Staatsexamen zum wissenschaftlichen Kommunismus. Für mich war das meiste logisch. Ich bin Materialist, ich glaube an die Dialektik, an dieses Wechselspiel … Der dialektische Materialismus hat etwas Überzeugendes: Es gibt die Negation der Negation, die immer auf einem höheren Niveau endet.

Aber zurück zur zentralen Planwirtschaft: Sie ist meiner Meinung nach ein Missverständnis. Marx hat gesagt: ‹Passt mal auf, wenn ihr Sozialismus macht, müsst ihr die Ware-Geld-Beziehung aufrechterhalten und genau so wirtschaften wie im Kapitalismus. Der einzige Unterschied ist: Ihr seid dann die Eigentümer der Produktionsmittel. Das heisst, ihr verfügt auch über den Mehrwert.›

Der Wert einer Ware ist die vergegenständlichte Arbeitskraft. Der davon unterschiedene Preis einer Ware definiert sich im Kapitalismus über unterschiedliche Produktivität. Sagen wir mal, das Unternehmen A stellt Bier her. Das Unternehmen B macht auch Bier, aber effizienter. Dann nimmt B mehr ein, weil der Preis höher ist als der Aufwand, also der Wert. Bei hoher Produktivität braucht man etwa weniger Angestellte. Auf dem Markt kann Unternehmen B eine Weile einen Superprofit machen, weil es billiger produziert als die andern, der Verkaufspreis sich aber nach der durchschnittlichen Effizienz der Konkurrenten richtet. Das ist die Triebkraft des Kapitalismus, die Effizienz zu erhöhen. Und das führt nach Marx in die Krise. Im Sozialismus soll das nicht mehr in die Krise führen, weil wir planen, was wir mit dem Mehrwert machen.

Jetzt kommt aber das grosse Missverständnis der zentralen Planung – und da kommen wir zu Lenin. Lenin war ja Praktiker. Er war in der Schweiz und hatte dort den Föderalismus kennengelernt. Das schwebte ihm dann auch für Russland vor. Lenin wollte kleine Einheiten ähnlich wie Gemeinde- oder Kantonsräte, Mitbestimmung bis ganz runter.

Unter dem Druck von aussen musste er nach der Revolution den Kriegskommunismus einführen. Doch danach wollte er die Planwirtschaft aufbrechen und ermöglichen, dass auf allen Ebenen individuell geplant wird. Deshalb hat er ein Buch über die wirtschaftliche Rechnungsführung geschrieben. Darin heisst es, die Rechnungsführung müsse so sein, dass die Ware-Geld-Beziehung funktioniere. Kein Diktat von oben! Jeder Betrieb muss schliesslich rechnen. Er muss investieren, nach der Investition muss er abschreiben. Dann muss er Geld aufwenden, um die Arbeitskraft zu bezahlen. Wenn der Betrieb dann Mehrwert produziert, ist es das Einzige, was er neu verteilen kann.

Und was hat die DDR gemacht? Da ist alles neu verteilt worden! Da ist der gesamte Wert, den ein Betrieb produziert hat, neu und zentral verteilt worden. Das war eigentlich Kriegskommunismus.


Dabei hat man geglaubt, dass man die Rechnungsführung im Sinne von Marx umgesetzt hat. Aber in Wirklichkeit hat die Planwirtschaft den Betrieben den Preis ihres Produkts diktiert. Jede Bäckerei in der DDR musste zum Beispiel das Brötchen für fünf Pfennige verkaufen, obwohl der Wert der darin steckenden Arbeit inzwischen bei über einer Mark lag. Für einen Farbfernseher zahlte man hingegen 5000 DDR-Mark, obwohl die Herstellung vielleicht 800 gekostet hat – so wollten sie die Grundversorgung quersubventionieren. Hätten sie die Ware-Geld-Beziehung spielen lassen, hätte sich alles eingependelt, davon bin ich überzeugt.

Die Betriebe waren immer unterwegs wie Unternehmen, die eigentlich pleitegehen müssten. Sie haben ihre eigene Grundreproduktion nicht hinbekommen, Weiterentwicklung lag überhaupt nicht mehr drin.

Ich habe dieses absurde System an Versammlungen kritisiert und gesagt: ‹Jungs, das geht so nicht weiter.› Ich habe mit Marx’ ‹Kritik des Gothaer Programms› gewinkt: ‹Hier steht es drin. Marx hat den Gothaer Sozialisten gesagt, dass sie nicht willkürlich Produkte umverteilen oder das Geld abschaffen können. Ihr müsst so wirtschaften wie der Kapitalismus, nur über den Mehrwert als Mehrprodukt dürft ihr verfügen.› Die Antwort war: ‹Genosse, das geht nicht – Punkt.› Es gab keine Begründung für die Ablehnung einer Diskussion.»

«Du konntest durchkommen»

Marta: «Was die DDR gemacht hat, war kein Sozialismus und schon gar nicht Kommunismus. Aber das System war ja nicht von Haus aus gewollt, sondern wurde von Stalin aufoktroyiert. Die Kräfte, die die Gesellschaft wirklich verändern wollten, waren schnell mundtot gemacht. Dann schlich sich die Gewohnheit ins System ein.

Die Leute in der DDR wollten auch nicht Marx – sie wollten einfach, dass es ihnen immer ein bisschen besser geht, so wie im Westen. Die DDR hatte grosse wirtschaftliche Probleme. Es herrschte Mangel an Materialien. Man konnte vieles nicht importieren, weil kein Westgeld da war. Doch der Druck, der im Kapitalismus herrscht, ungeheuer produktiv sein zu müssen und immer alles aus sich rauszuholen – den gab es so nicht in der DDR. Jeder hatte eine Arbeit. Du konntest durchkommen, auch wenn du nicht viel gemacht hast.

Heute vernichtet der Kapitalismus mit seiner hohen Produktivität seine eigene Existenzgrundlage. Ein grosses Thema sind die Automatisierung und die Robotik. Aber was macht der Mensch, wenn er keine Arbeit mehr hat? Was macht er mit seiner Freizeit? Noch eine Stunde am Tag arbeiten, der Rest wird von Robotern gemacht? Die Menschen definieren sich zu einem Grossteil über ihre Arbeit. Was, wenn das völlig wegfällt?»

Der Wert der Ware

Max: «Marx hat vorausgesehen, dass sich die Produktivkräfte immer weiterentwickeln, immer effizienter werden und es nirgendwo ein Ende gibt. Wir kommen heute an den Punkt, wo wir viel weniger menschliche Arbeit aufwenden müssen.

Die Konkurrenz treibt die Unternehmen dazu an, über das bedürfnisbefriedigende Mass hinaus zu produzieren. Eine Ware hat aber nur dann einen realen Wert, wenn man ihn realisieren kann. Die Ware verkörpert zwar theoretisch einen Wert – den haust du aber auf den Müll, wenn du sie nicht verkaufen kannst. Und da sind wir wieder bei der Haupterkenntnis von Marx: Krisen sind Überproduktionskrisen. Da ist bislang keine Lösung in Sicht.»

«MarxnoMarx»

Dieser Text ist ein gekürzter Vorabdruck aus dem Sammelband «MarxnoMarx», der Anfang Juni erscheint. Darin versuchen 33 AutorInnen aus dem gewerkschaftlichen und linksalternativen Umfeld, Marx für die Gegenwart zu aktualisieren.

Cédric Wermuth und Beat Ringger (Hrsg.): «MarxnoMarx». Edition 8. Zürich 2018. 200 Seiten. 23 Franken.