Protest: Eritreas Diaspora auf dem Bundesplatz

Nr. 21 –

Wochenlange Mobilisierung wegen der «Verelendungspolitik»: Tausende EritreerInnen wehren sich gegen eine restriktivere Asylpraxis und die Neuüberprüfung von vorläufig Aufgenommenen.

Zwei Eritreer im selben ICE-Abteil, zehn EritreerInnen am Bahnhof Bern und Tausende auf dem Bundesplatz. Carfahrer, die ProtestteilnehmerInnen ausgeladen haben, heben die Faust zum Gruss, als sie die Menge passieren. Die Busse haben die eritreische Diaspora aus Lugano, Aarau oder Sion nach Bern gebracht. Aus den grossen Städten fuhr man mit dem Zug an. Die Soundanlage ist zu schwach. Erst als Freiwillige die Lautsprecher stundenlang in die Höhe halten, dringen die Reden bis in die hinteren Reihen. Die meisten Medien gehen von 2000 TeilnehmerInnen aus. Es sind wohl eher 3000 bis 4000.

«Diese Menschen machen Lärm»

Ein Schweizer Passant erklärt seinem Sohn das Geschehen: «Diese Menschen machen Lärm, weil sie unzufrieden mit ihrem Heimatland sind. Damit es dort in den Nachrichten kommt.» Zwei Dinge an dieser Aussage sind falsch: Eritrea liegt auf dem zweitletzten Platz des Rankings von Reporter ohne Grenzen, es gibt dort keine freien Medien; zweitens sind es nicht primär die Verhältnisse in Eritrea, es ist die Schweizer Politik, die Protest hervorruft. Zwar verschränken viele der Anwesenden die erhobenen Fäuste – ein Zeichen für Gefangenschaft und das Gefängnis, das Eritrea ist. An Kritik an den Zuständen in Eritrea sparten die RednerInnen ebenso wenig wie der Text der mit 13 000 Unterschriften übergebenen Petition.

«Stellen Sie sich mutig dagegen, liebe Schweizerinnen und Schweizer, wenn Arme gegen Arme ausgespielt werden», sagt Annelies Djellal von der Beratungsstelle Giveahand.ch in ihrer Rede. «Wir sind Flüchtlinge, keine Wirtschaftsflüchtlinge!», so der Parolenchor. Es geht der eritreischen Diaspora nicht um die öffentliche Meinung in Eritrea, sondern darum, wie das Bundesverwaltungsgericht (BVGer), das Staatssekretariat für Migration (SEM) und Justizministerin Simonetta Sommaruga das Regime darstellen.

«Meine Schulzeit fiel unter diese Diktatur. Wenn ich den Bericht des Bundesverwaltungsgerichts lese, erinnert mich das an die Propaganda im Klassenzimmer. Es wird anerkannt, dass die Quellenlage in Eritrea schlecht ist, aber trotzdem werden Aussagen des Regimes eins zu eins übernommen», sagt Yohannes Measho gegenüber der WOZ. Measho gehört zum Organisationskomitee Umbrella, in dem VertreterInnen verschiedener oppositioneller Gruppen und Unabhängige sitzen.

Es sei wichtig für die Mobilisierung gewesen, dass der Protest nicht von einer einzelnen Oppositionsgruppe ausgehe, berichtet der unabhängige Aktivist Negasi Sereke. Serekes fast täglich erscheinende Facebook-Videos erreichen Zehntausende. Im Vorfeld des Protests hat er wochenlang durch die Schweiz telefoniert. Bei dieser Mobilisierungsarbeit sei es darum gegangen, wachsende Ängste abzubauen.

Erhielten zwischen 2010 und 2015 nur ein bis drei Prozent der Asylgesuche von EritreerInnen einen Negativentscheid, waren es 2016 9,1 und 2017 14,6 Prozent. Vergangenen August legalisierte das Bundesverwaltungsgericht nachträglich die restriktive Praxis des SEM. Eine Rückkehr nach Eritrea ist laut den RichterInnen nicht generell unzumutbar. In Eritrea herrsche keine Situation allgemeiner Gewalt (siehe WOZ Nr. 15/2018 ). Im April 2018 dann die Ankündigung des SEM, gestützt auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, den Schutz von einem Drittel der vorläufig aufgenommenen EritreerInnen neu zu überprüfen.

3200 Drangsalierte

Nationalrat Balthasar Glättli nannte die Neuüberprüfung am Freitag letzter Woche «Verelendungspolitik». Der Ausdruck ist treffend: Die Schweiz kann niemanden nach Eritrea ausschaffen. Aber diejenigen, die ihren Schutzstatus infolge der Neuüberprüfung verlieren, werden vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen und müssen mit wenigen Franken Nothilfe auskommen. Die blosse Ankündigung der Neuüberprüfung traf die gesamte Community. Denn viele haben Verwandte, die betroffen sind. Die 9400 vorläufig Aufgenommenen wissen nicht, ob sie zu den 3200 Drangsalierten gehören.

Der Bundesplatz war voll. Natalie Rickli sprach bei Tele Bärn von einer «Masse von Eritrea». Da hatte der Passant mehr verstanden: Es sind Menschen. Menschen, die ihre Versammlungsfreiheit nutzen.