Durch den Monat mit der «grossen um_ordnung»: «Wir wollen Assistenz – ihr wollt den Mercedes-Benz»

Nr. 22 –

Rund 200 Menschen nahmen vergangenen Samstag an der politischen Kunstaktion «die grosse um_ordnung» auf dem Zürcher Helvetiaplatz teil. Eine Collage aus Stimmen des Abends.

«Wenn Aktivist*innen gegenseitig Forderungen mittragen, hat das eine grössere Kraft»: Die Hauptorganisator*innen Tim Zulauf, Sabian Baumann und Rahel El-Maawi.

Sabian Baumann, Mitorganisator*: Wer bei dieser Aktion nicht erkennbar sein will: Dort drüben ist der Maskentisch.

Ein grosses, schwarz glänzendes, protziges Auto kommt hupend auf den Platz gefahren. Seltsam vermummte Gestalten – eine trägt einen Lampenschirm auf dem Kopf – beginnen, das Auto mit Lehm zu beschmieren. Drei kleine Buben rennen begeistert herbei und machen mit.

Zuschauerin: Aber das ist wieder voll ein Klischee, nicht?

Performerin (Hermes Schneider): Ich bin kein Neger! Ich werde zum Neger gemacht! Im Dickicht meiner Gedanken negiere ich allfällige genetische Spuren von Zorn, Dummheit, Faulheit oder Schwäche. In meiner DNA ist Liebe, Mut, Zukunft. Bleibe ich geknechtet von sklavischen Psycho-Altlasten? Bleibt dies mein quälender Kollateralschaden? Nein! Ich verinnerliche mir, dass diese von alten weissen Männern dominierte, scheinbar unausrottbare, westlich geprägte Gesellschaftsform, in die ich hineingeboren wurde, im Grunde eine wahnwitzige Schimäre vortäuscht. Ich mache Geschichte. Ich habe Handlungsmöglichkeiten. Jetzt. Mit blutigen Fäusten, stetig von neuem.

Performer (Eddie Ramirez, im Rollstuhl): Vor einigen Monaten wurde ich von einem SUV überrollt. Dabei hat das rechte Vorderrad des Lenkers mein rechtes Bein zertrümmert. Es musste vier Monate lang mit Metallstangen zusammengehalten werden. Der Täter gibt mir die Schuld am Unfall. Die Mindeststrafe ist zu gering. Ich möchte Gerechtigkeit. Verlange ich zu viel? Was, wenn ich sein Leben ruiniere? Aber gottverdammt – verlange ich zu wenig? Was, wenn er noch mehr Menschen anfährt?

Sprechchor: «Wir wollen Assistenz – ihr wollt den Mercedes-Benz.» – «Wir sind nicht Fehr – Mario ist nicht fair.» – «Wir sind alles Tiere – ihr habt uns den Krieg erklärt – sie werden geschlachtet – wir sterben aus.» – «Widerstand statt Burnout, weil ihr uns das Leben klaut. Ihr macht immer weiter, aber wir lernen dazu.» – «Ein Geschlecht oder viele? Schmier dir deinen Ödipus ans Bein – du bist nicht allein.»

Künstlerin 1: Ich fühle den ganzen Abend ein leichtes Unbehagen. Ich finde die Präsenz der vielen Kameras problematisch – trotz Ankündigung im Vorfeld. Darum habe ich mich maskiert, an Demos möchte ich nicht gefilmt werden. Obwohl ich selbst gerne künstlerische Arbeiten schaue, die genau mit solchem Material arbeiten. Der explizit antikapitalistische Ansatz dieses Anlasses steht im Widerspruch zur Verwertungslogik des Kunstbetriebs. Ich schätze den Impuls, der von diesem Projekt ausgeht, finde es auch sinnvoll, dass sie versucht haben, verschiedene Gruppierungen zusammenzubringen und Slogans im Vorfeld zu entwerfen – Hand zu reichen, damit sich die Leute einbringen können. Aber mir ist es viel zu didaktisch.

Künstlerin 2: Ich finde es super, was hier stattfindet. Ich hatte Kritik am Konzept, an den Texten, in denen in einfacher Sprache geschildert wird, worum es heute Abend geht.

WOZ: Ich zitiere: «Die Aufführung zeigt, wie die ungerechte Ordnung aussieht. Sie zeigt, wem es gut geht und wem es schlecht geht. Wir können dann die Gründe verstehen, warum das so ist. Diesen Menschen geht es am besten: Sie haben weisse Hautfarbe. Sie sind Männer. Sie haben reiche Eltern. Sie haben eine gute Bildung.»

Künstlerin 2: Verständliche Sprache ist wichtig, aber ich glaube nicht, dass man deshalb die Dinge so verkürzt erklären und alle Widersprüche ausblenden muss. Da haben wir das Klötzli, da ist der böse Wolf, gegen das sind wir.

Sprechchor (übertönt ihre Stimme): «Nichts über uns ohne uns!»

Künstlerin 2: Aber was heute Abend passiert ist, ist eben doch komplexer. Da finde ich meine Kritik nicht berechtigt. Der Anlass ist super. (Vielstimmiger Gesang im Hintergrund.)

WOZ: Wie finden Sie diesen Abend?

Passantin 1: Ich mag nicht mehr.

WOZ: Warum sind Sie hier?

Passantin 2: Mir gibt ein solcher Anlass Kraft. Wenn die Aktion auf dem Platzspitz nicht wäre [vgl. Seite 3], hätte es mehr Leute hier. Aber für eine Bewegung ist es gut, wenn sie mehrere Kanäle hat. Wenn die Leute merken: Was hier gesagt wird, habe ich dort auch schon gehört. Letztes Jahr engagierte ich mich gegen die Notunterkunft Uster, da wurden auch plötzlich verschiedene Leute aktiv. Das ist gut, dann kann man den Widerstand weniger in eine Kiste sperren. Die Politik von Mario Fehr, die Schicksale in den Notunterkünften: Das macht einen fertig, wenn man das hört.

WOZ: Wie geht es weiter?

Sabian Baumann: Das Beste wäre, wenn einige Aktivist*innen aus möglichst vielen Bereichen eine feste Gruppe bilden würden, in der konkrete Handlungsanweisungen für den Alltag getauscht werden. Um an den Grundfesten des Geschlechterdualismus zu rütteln, braucht es mehr als ein paar nichtbinäre Menschen, die sich über nicht vorhandene Formulare für mehr als zwei Geschlechter beschweren. Dasselbe gilt für Umweltfragen oder Rassismus. Wenn Aktivist*innen gegenseitig Forderungen mittragen, hat das eine grössere Kraft.

Im Herbst geht die «grosse um_ordnung» mit einer Ausstellung im Zürcher Helmhaus weiter. www.diegrosseumordnung.ch