Russland vor der WM: Der Gamer und die Spiele

Nr. 22 –

Seit mehr als zwei Wochen befindet sich der in Russland inhaftierte ukrainische Regisseur Oleh Senzow im Hungerstreik. Er hätte dafür keinen günstigeren Zeitpunkt wählen können.

Mit dem Anpfiff der Fussballweltmeisterschaft am 14. Juni wird der unbefristete Hungerstreik des ukrainischen Regisseurs Oleh Senzow, der jenseits des Polarkreises in Russland eine zwanzigjährige Haftstrafe absitzt, in die entscheidende Phase treten. Er hungert seit dem 14. Mai für die Freilassung von 63 ukrainischen Gefangenen in Russland. Senzow, der aus der Hafenstadt Simferopol auf der Halbinsel Krim stammt und sich mit dem Film «Gamer» über einen spielsüchtigen Jugendlichen international einen Namen gemacht hatte, war im März 2014 vom russischen Geheimdienst FSB verhaftet worden.

Der Hauptzeuge spricht von Folter

Wer den Prozess gegen den Aktivisten, der Aktionen auf der Halbinsel für die weitere Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine organisiert hatte, im russischen Gericht in Rostow am Don beobachtete, begriff schnell, dass man hier einen Unschuldigen wegen einer vermeintlichen Planung von Terroranschlägen verurteilte: Mitten im Prozess zog beispielsweise einer der beiden Hauptbelastungszeugen, Gennadi Afanasjew, seine Aussage zurück. Er sei gefoltert worden, berichtete Afanasjew, habe also nur unter Zwang gegen Senzow ausgesagt. Doch das Gericht ignorierte die Aussage genauso wie die Mitteilung von Senzow selbst, er sei kurz nach seiner Verhaftung drei Stunden lang gefoltert worden.

Senzow hätte für seinen Hungerstreik keinen günstigeren Zeitpunkt wählen können. Schliesslich hat Wladimir Putin die Fussballweltmeisterschaft nach Russland geholt, um sich feiern zu lassen. Doch ein prominenter Regisseur, der sich noch vor dem Finale zu Tode gehungert hat, würde die ganze Imagepflege ad absurdum führen. So hoffen Senzows WeggefährtInnen auf eine baldige Freilassung des Regisseurs. BeobachterInnen schliessen nicht aus, dass Senzow möglicherweise gegen den in der Ukraine inhaftierten russischen Journalisten Kirill Wyschinski ausgetauscht werden könnte.

Der 41-jährige Senzow ist kein unversöhnlicher ukrainischer Nationalist. Den Vorwurf, er sei im «Rechten Sektor» aktiv, hatte er immer weit von sich gewiesen. Lange hoffte er, dass gerade die Krim eine Brücke sein könnte zwischen Russland und der Ukraine. 2014 hatte Senzow ukrainische Soldaten, die auf der Krim von russischen Einheiten eingekesselt worden waren, mit Lebensmitteln versorgt, sie bei der Evakuierung von der Krim unterstützt. Dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, im Gefängnis stundenlang mit Häftlingen zu diskutieren, die im Krieg um den Donbass auf der Seite der Aufständischen gekämpft hatten.

«Hier im Gefängnis habe ich lange mit einem russischen Offizier gesprochen, der genau die ukrainische Einheit eingekesselt hatte, die ich damals unterstützt und evakuiert habe. Und seine Brigade hatte in der Schlacht von Ilowajsk, bei der viele ukrainische Militärs getötet wurden, mitgekämpft. Manchmal spielt das Schicksal schon interessante Streiche mit einem», sagte Senzow in seinem Schlusswort vor Gericht.

Protest gegen Enteignungen

Mit seinem Hungerstreik wirft der Regisseur ein Schlaglicht auf die Verfolgung Andersdenkender auf der Krim: Linke, KrimtatarInnen, proukrainische Aktivisten und Kleinunternehmerinnen leiden gleichermassen unter den Repressalien der russischen Machthaber. Gegenüber der WOZ berichtet der in Sewastopol auf der Krim lebende linke Aktivist Igor Panjuta über die Repressionen, unter denen die linke Szene zu leiden hat. So sitze derzeit etwa der Aktivist Ewgeni Karakaschew in Untersuchungshaft. Die Behörden werfen Karakaschew, der gegen Baumassnahmen in einem Erholungsgebiet gekämpft hatte, «Terrorismus» und «Aufstachelung zum Hass» vor.

Am 4. Juni werden KleinunternehmerInnen in Sewastopol gegen die Zerstörung von Märkten und die Enteignung von Kleinbetrieben demonstrieren. Viele von ihnen berichten, dass die neuen MachthaberInnen ihre alten ukrainischen Dokumente, die ihre Geschäftstätigkeit legitimierten, nicht anerkennen oder «aus Brandschutzgründen» Kioske und Kleingeschäfte schliessen würden. Sie fürchten, dass mit der Eröffnung der Brücke über die Krim grosse Unternehmen auf die Halbinsel drängen werden. Und bei diesen Plänen stören lokale Märkte und Kleinbetriebe nur. Die VeranstalterInnen der Kundgebung rechnen mit 3000 TeilnehmerInnen.