St. Galler Kulturstreit: Stadtpräsident auf Stelzen

Nr. 23 –

Der St. Galler Stadtpräsident Thomas Scheitlin hat ein Hobby: die Standortförderung. Neben der Fachstelle für Kultur hat er eine für Standortförderung geschaffen. Wenn immer er eine Ausstellung eröffnet wie zuletzt die von Roman Signer (vgl. «Haben Sie am Geburtstag eine Rakete abgefeuert?» ), spricht er gerne von ihrer Bedeutung für den Standort.

Scheitlins Sehnsucht, die Stadt ein bisschen grösser zu machen, hat Eingang in ein Lied von Manuel Stahlberger gefunden. Ein Stadtpräsident steigt darin auf Stelzen, um den grössten Mann der Welt bei einem Besuch zu begrüssen.

Nun aber hat der FDP-Politiker St. Gallen gerade wieder kleiner gemacht. Der Stadtrat hat die Empfehlung der Kulturkommission abgelehnt, den in St. Gallen aufgewachsenen und heute international bekannten Theaterregisseur Milo Rau mit dem Kulturpreis auszuzeichnen. Den Preis vergab er stattdessen an Kunstgiesser Felix Lehner. Auf kritische Fragen aus dem Parlament flüchtete sich Scheitlin in Ausreden: Man habe sich nicht gegen, sondern für einen Preisträger entschieden, der Entscheid sei bestimmt nicht politisch gemeint. Drei Mitglieder der Kulturkommission sind nach dieser Desavouierung zurückgetreten.

Scheitlins Einmischung in Kulturpreis-Verleihungen hat eine Geschichte: 1990, als Niklaus Meienberg den Preis erhielt, protestierte Scheitlin als damaliger Stadtparlamentarier bei der Regierung. Meienberg habe nichts zur positiven Entwicklung St. Gallens beigetragen, schrieb er in einem Brief. «Im Gegenteil: Er verstand es, die Stadt und ihre Einwohner schlecht zu machen.» Die Vorstellung, ein Künstler mache die Stadt schlecht, wenn er heikle Themen anspreche, steht wohl auch hinter dem jetzigen Entscheid: 2010 setzte das Theater St. Gallen auf Druck des Stadtrats ein Stück von Milo Rau über die Ermordung eines Lehrers und deren Auswirkungen auf die Integrationsdebatte ab.

Beim jetzigen Streit haben alle den Schaden: Regisseur Rau wurde öffentlich beleidigt, Kunstgiesser Lehner kann sich nur halb freuen, die Kulturkommission hat wichtige Mitglieder verloren, der Kulturpreis ist beschädigt, der Stadtrat hat sich als feiges Gremium erwiesen, und der Stadtpräsident ist von den Stelzen gefallen.