Biodiversität: Jedem Käfer einen Götti

Nr. 24 –

Eine Insektensuche mit zwei Fachfrauen im Norden des Kantons Zürich zeigt: Viele Arten sind in der Schweiz in Bedrängnis. Warum? Was tun? Und braucht es die überhaupt alle?

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Adrienne Frei spannt am Bahnhof Hüntwangen ihren Schirm auf. Er ist weiss, das ist wichtig. Sie hält ihn am nahen Waldrand unter einen Busch, klopft auf die Zweige – schon krabbeln verschiedenste Käfer im Schirm herum. Der winzige Buchenspringrüssler, der Tabakfarbene Schmalbock, der blaugrün glänzende Zipfelkäfer. Frei nimmt ihn in die Hand, drückt leicht auf seinen Hinterleib: Der Käfer presst knallrote Ausstülpungen unter den Flügeln und den Halsschildseiten hervor. «Damit schreckt er Fressfeinde ab», erklärt die Käferspezialistin. Auch Hoplia argentea, der Goldstaub-Purzelkäfer, macht auf Abschreckung: Als Frei ihn anstupst, streckt er seine Hinterbeine in die Höhe, um grösser auszusehen. «Man muss nicht weit gehen, um Käfer zu finden», sagt Frei. Auch nicht hier, im stark verbauten Kanton Zürich, am Rand des Rafzerfelds.

Aha-Erlebnis mit Borkenkäfer

Zu den Käfern ist Adrienne Frei per Zufall gekommen. Als in ihrem Studium zur Forstingenieurin an der ETH Zürich Forstentomologie auf dem Plan stand, musste sie wie die meisten KommilitonInnen zuerst nachschauen, was das ist: Aha, es geht um Insekten. Ein weiteres Aha-Erlebnis prägte ihre Laufbahn: «Borkenkäfer waren mir aus meiner Kindheit ein Begriff, aus dem Lied von Peach Weber in der Zeit, als alle vom Waldsterben sprachen. Ich stellte sie mir gross vor – ein Tier, das ganze Wälder bedrohte, konnte doch nicht klein sein. Erst in der Entomologievorlesung sah ich: Sie sind winzig – und wunderschön.» Frei schrieb ihre Diplomarbeit 2005, fünf Jahre nach «Lothar», über Käfer auf Sturmflächen. Heute ist sie Spezialistin für Käfer, vor allem für sogenannte Xylobionten, die auf Holz angewiesen sind. Auf ihrem Halstuch prangt der neben den Borkenkäfern wohl bekannteste von ihnen: der Hirschkäfer mit seinem seltsamen Geweih.

Auch dass Simone Bossart bei den Tagfaltern landete, war nicht geplant. Sie studierte Geografie und Umweltwissenschaften, weil sie von den Beziehungen zwischen Menschen und der Umwelt schon lange fasziniert war. Nach dem Studium betreute sie eher zufällig die Finanzen eines Schmetterlingsprojekts. Heute kennt sie jeden Tagfalter der Schweiz.

Insekten sind die artenreichsten Lebewesen der Welt. Und zwar bei weitem: Von 1,75 Millionen beschriebenen Arten – Tieren, Pflanzen, Pilzen – machen Säugetiere nur knapp 5500 aus, die Insekten hingegen allein eine Million. Trotzdem interessierten sich bisher fast nur Fachleute für diese riesige Tierklasse – die Öffentlichkeit wird erst aufmerksam, seit die Zahl der Insekten dramatisch abnimmt. Nicht nur zum Bestäuben sind sie unersetzlich: Ameisen und Holzkäfer zersetzen Totholz zu fruchtbarer Erde, viele Vögel ernähren sich allein von Insekten, und ohne Insekten, die andere Insekten fressen, wären die Schäden an Nutzpflanzen dramatisch.

In der Schweiz sind rund 30 000 verschiedene Insektenarten dokumentiert, davon allein etwa 6700 verschiedene Käfer. Darum kennen auch InsektenspezialistInnen längst nicht alle Arten eines Gebiets. Als auf dem Weg durchs Rafzerfeld ein kurioses Tier vorbeifliegt – es sieht aus wie eine magersüchtige Wespe, die die Wespentaille auf die Spitze getrieben hat –, sieht Frei sofort: «Das ist eine Fliege: Sie hat zwei Flügel und zwei Schwingkölbchen, grosse Augen und kurze Fühler.» Wie die Art heisst, weiss sie aber nicht. Schliesslich ist sie nicht Fliegenspezialistin.

Die schönen Tagfalter erregten schon früh das Interesse der NaturforscherInnen. «Über Käfer weiss man viel weniger», sagt Frei. «Man kennt vor allem grosse, gut sichtbare Arten.» Als sie im Niderholz forschte, einem Eichenwald im Zürcher Weinland in der Nähe des Rheinufers, fand sie diverse Holzkäferarten, die in der Schweiz noch nie nachgewiesen worden waren. Frei hat an den Roten Listen mitgearbeitet, die erfassen, welche Arten bedroht sind. «Aber wir haben in der Schweiz erst 4 von 74 Holzkäferfamilien für die Roten Listen dokumentiert.» Im Moment sei nicht vorgesehen, dass die Roten Listen über alle Insektengruppen vervollständigt würden, heisst es beim Bundesamt für Umwelt.

Nicht alle Bläulinge sind blau

Simone Bossart sprintet über die Hauptstrasse, die beim Bahnhof unter den Gleisen hindurchführt. Die Autos kommen hier gefährlich schnell. Bossarts Ziel ist die Bahnböschung auf der anderen Seite. Es zirpt und flattert: eine Trockenwiese, wie sie im Mittelland selten geworden ist. Hier wachsen Sonnenröschen, Hufeisen- und Wundklee, alle drei mit gelben Blüten. Von ihnen ernähren sich die Raupen verschiedener Bläulinge, einer Tagfalterfamilie, die noch vor wenigen Jahrzehnten in der Schweiz weitverbreitet war. Bei vielen (aber nicht allen) Bläulingsarten haben die Männchen leuchtend blaue Flügel.

Sonnenröschen, Hufeisen- und Wundklee sind auch heute keine seltenen Pflanzen – «aber an den Sonnenhängen stehen heute Einfamilienhäuser», sagt Bossart, «und in den stark gedüngten Wiesen haben diese Arten keinen Platz.» Dann packt sie ihr Schmetterlingsnetz aus und fängt einen Bläuling – wie eine Schmetterlingsjägerin des letzten Jahrhunderts. Nur wird sie ihn natürlich nicht mit einer Nadel auf ein Brett pinnen, sondern nach der Bestimmung wieder freilassen.

Arten suchen geht langsam. Man kommt nur meterweise voran, sieht dafür aber plötzlich überall Lebewesen. Im Schaum, der an manchen Pflanzenstängeln klebt, leben die Larven der Schaumzikaden. Auf einer Blüte hockt ein Sackträger, der wie ein in die Länge gezogener Marienkäfer aussieht. Adrienne Frei fängt einen Mausgrauen Schnellkäfer. Wenn er auf den Rücken fällt, kann er sich mithilfe eines Brustfortsatzes wieder in die richtige Lage spicken. «So kann er sich mit Glück sogar aus einem Vogelschnabel befreien.»

«Die Umgebung von Eglisau und Hüntwangen ist ein Topgebiet im Kanton Zürich», sagt Simone Bossart. «Hier gibt es alte, nie gedüngte Magerwiesen in guter Qualität und Grösse, einen engagierten Naturschutzbeauftragten, einen aktiven Schmetterlingsverein – und die Kiesgruben.» Seit langem wird im Rafzerfeld Kies abgebaut, den die Gletscher in den Eiszeiten hier abgelagert haben. Nach dem Abbau sind die Betreiberfirmen im Kanton Zürich verpflichtet, fünfzehn Prozent der Grubenfläche naturnah zu gestalten und unter Schutz zu stellen.

«Das ist eine Chance für viele Arten, die in der intensiven Landwirtschaft nicht überleben können», sagt Bossart. «Allerdings bedingt dies, dass diese Arten in der näheren Umgebung noch vorkommen.»

Mit «unberührter Natur» hat dieses Gebiet nichts zu tun: Die Blumenwiese am Bahndamm bei Hüntwangen ist eine sogenannte Ausgleichsmassnahme. Weil die SBB ein zusätzliches Gleis gebaut haben, sind sie verpflichtet worden, eine ökologisch wertvolle Böschung anzulegen. Dass von Menschen extrem veränderte Räume wie ehemalige Abbaugebiete enorm artenreich werden können, zeigen die stillgelegten, renaturierten Teile der Kiesgruben im Rafzerfeld genauso wie etwa die ehemalige Tongrube Rehhag in Bern (siehe WOZ Nr. 22/2018 ). Aber auch die alten Magerwiesen auf dem Rafzerfeld sind «künstlich»: Ohne menschliche Nutzung wäre das Schweizer Mittelland flächendeckend bewaldet. Bis ins 19. Jahrhundert hinein hat die menschliche Nutzung der Biodiversität in der Schweiz kaum geschadet, sondern zur Vielfalt beigetragen: Viele Wälder waren licht, weil man viel Holz brauchte, davon profitierten zum Beispiel Orchideen. Die BergbäuerInnen mähten auch abgelegene, steile Hänge und düngten sie kaum oder gar nicht. Ob sie die vielen Blumen darauf bewunderten oder zu erschöpft waren dafür, lässt sich nicht mehr herausfinden. Auch auf den Äckern blühte vieles, was nicht angesät war. Solange man von Hand oder mit Tieren arbeitete, blieben die Parzellen klein, die Landschaft vielfältig.

Die Zerstörung, die im 19. Jahrhundert begann, hatte vorerst plausible Gründe. Es ging auch nicht einfach um Profit. Der Alpenrhein zwischen Sargans und Bodensee zum Beispiel trat immer öfter über die Ufer: Wegen der Unmengen von Geröll, die er aus den Bergen brachte, lag die Flusssohle mit der Zeit höher als der Rest des Tals. Also begradigte man ihn. Moore wurden trockengelegt in der Sorge, die wachsende Bevölkerung nicht ernähren zu können.

Wann überbordete der «Fortschritt»? Wann wurde er irrational? Nach dem Zweiten Weltkrieg beschleunigte sich der Wandel der Landwirtschaft: mit Maschinen, Kunstdüngern, Spritzmitteln – und Ämtern, die es beim Roden von Hecken und Hochstammbäumen, Begradigen der Bäche und Einebnen alles Ungeordneten besonders genau nahmen. Autobahnen, Flusskraftwerke, Chemiefabriken und Einfamilienhäuser erledigten den Rest. Dazu kommt die Zerstörung in anderen Ländern, für die die SchweizerInnen verantwortlich sind: mit ihren Flugreisen, ihren Importprodukten, ihren Rohstofffirmen und Banken.

Wenn das Hirn schrumpft

Am nächsten Waldrand kommt wieder Adrienne Frei zum Zug. Hier liegt ein Stapel alter Eichenstämme, aus Naturschutzgründen zum Verrotten deponiert. Mit dem grossen Messer, das an ihrem Gürtel hängt, beginnt Frei die Rinde zu lösen. Manche versteckt lebenden Käfer erkennt sie an den Frassgängen. Bossart amüsiert sich: «Ich war einmal auf einer Exkursion mit lauter Käferspezialisten. Die haben eine ganze Holzbeige zerhackt!» Frei hat eine Feuerkäferlarve entdeckt. Sie ist rotbraun und lang wie ein Tausendfüssler, hat aber nur sechs Beine wie alle Insekten. «Den ökologischen Wert eines Waldes kann man am besten an den xylobionten Käfern ablesen. Wenn man einen Wald kahl schlägt und alle alten Bäume entfernt, verschwinden auch die Käfer. Einen Kahlschlag sieht man noch 200 Jahre später am Artenspektrum, auch wenn der Wald längst nachgewachsen ist.»

«Bei manchen Arten funktionieren einfache Fördermassnahmen, und sie erholen sich», sagt Bossart. Der Alpenbock ist ein solcher Fall. Der grosse blaue Laufkäfer mit schwarzen Tupfen ist so hübsch, dass er in vielen Ländern auf Briefmarken abgebildet wurde, sogar in Somalia. «Seit man gezielt Totholz in den Wäldern lässt, um ihn zu fördern, hat sich der Bestand erholt», sagt Frei. Bei anderen Arten gibt man sich alle Mühe, und trotzdem kommen sie nicht zurück. Zum Beispiel der Perlgrasfalter. Er lebte früher hier am Waldrand bei Hüntwangen. Man hat sogar schon Tiere ausgesetzt – ohne Erfolg. «Man weiss nicht, warum», sagt Bossart. «Die Raupen fressen verschiedene Gräser, daran kann es nicht liegen. Ist das Gebiet zu klein? Passt ihm das Mikroklima nicht mehr? Oder schaden ihm die Pestizide vom benachbarten Acker?»

Die Agrarpolitik versucht, dem Artenschwund entgegenzuwirken: Bauernbetriebe müssen sieben Prozent ihres Landes als Biodiversitätsförderflächen pflegen – etwa ungedüngte Wiesen, Hecken oder Hochstammobstgärten. In Vernetzungsprojekten arbeiten mehrere Betriebe zusammen. Manchen Arten, etwa dem Wiesensalbei, dem Gartenrotschwanz oder dem Wiesel, hilft das. Andere wie der Perlgrasfalter sind aber so spezialisiert, dass sie ganz spezifische Förderungsmassnahmen brauchen.

Warum diesen riesigen Aufwand treiben, um einzelne Arten zu erhalten? «Solange eine Art da ist, haben wir die Verantwortung, dass sie Platz bekommt», sagt Adrienne Frei. Sie vergleicht die Biodiversität mit einem Netz, in dem jede Art einen Knoten bildet: «Das Netz ist sehr fein, und vieles, was darin geschieht, bekommen wir gar nicht mit. Es ist unbestritten, dass wir noch sehr wenig wissen, gerade etwa über Pilze und Insekten. Je mehr Arten aussterben, desto grobmaschiger wird das Netz. Im Moment spüren wir nichts davon in unserem Alltag, aber wir wissen nicht, was die Folgen für die zukünftigen Generationen sind.»

Simone Bossart erzählt vom Kleinen Moorbläuling: Die Schmetterlinge legen ihre Eier am Lungen- oder Schwalbenwurz-Enzian ab. Die Raupe frisst davon, bevor sie sich im Spätsommer zu Boden fallen lässt und von bestimmten Ameisenarten ins Nest getragen wird. Die Ameisen adoptieren die Raupe und füttern sie im Nest. Nur zusammen mit dem Enzian und genau diesen Ameisen kann der Bläuling existieren. «Das ist doch faszinierend! Diese Vielfalt hat einen Wert an sich, egal ob sie uns Menschen etwas bringt.»

Frei betreut ein Schutzgebiet direkt am Flughafen Kloten. «Vor dreissig Jahren flogen dort noch Kiebitzschwärme, erzählen die Bauern. Jede Generation erlebt weniger Vielfalt. Das ist auch ein Verlust an Farben und Formen, an Wahrnehmung. Die Kinder sehen nur noch Löwenzahnwiesen – da schrumpft ja das Hirn.» Oft arbeitet sie mit begeisterten LaiInnen, zum Beispiel Orchideenfans. «Die haben eine Beziehung zu jeder einzelnen Pflanze. Aber Orchideen sind halt auch auffällig. Ich wünsche mir, dass jedes Gras, jeder Käfer, jede Maus solche Göttis und Gotten hat.»