Türkische Wahlen: Schweizer Stimmungen: Und immer sind die anderen schuld

Nr. 25 –

Die türkische WählerInnenschaft ist auch in der Schweiz zutiefst gespalten – etwa beim Urnengang in Zürich Oerlikon.

Wählen zum Zuckerfest in Oerlikon: Die TürkInnen sind in der Schweiz eher oppositionell eingestellt als in den Nachbarländern.

Die Sonne scheint, vor einem hässlichen Gebäude bilden sich lange Menschenschlangen – Zürich Oerlikon, Messehalle. Für ihre Begrüssungsküsse haben die Menschen neben den türkischen Wahlen noch einen anderen Anlass: Heute ist das Zuckerfest, es markiert das Ende des muslimischen Fastenmonats Ramadan. Zur Belohnung stopft man sich möglichst viele Süssigkeiten in den Mund.

Letzten Freitag hatten überall in der Schweiz die türkischen Wahllokale geöffnet. Gewählt werden der Präsident und das Parlament. Nach der Wahl wird das neue türkische Präsidialsystem umgesetzt – zumindest, falls Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan gewinnt, der dieses auf sich zugeschnitten und durchgesetzt hat. KritikerInnen befürchten, Erdogans Wahl könnte der definitive Schritt in die Autokratie sein.

Bei den letzten Wahlen im November 2015 konnten die türkischen StaatsbürgerInnen in der Schweiz über einen Zeitraum von zwei Wochen wählen. Dieses Jahr stehen dafür nur fünf Tage zur Verfügung.

Folgen des Putschs von 1980

Die Wahlurnen befinden sich im ersten Stock der Messehalle. Im Eingangsbereich gibt es ein Café, in dem die Menschen über den Wahlausgang diskutieren und sich verköstigen können. Es gibt Lahmacun und Ayran – verschieden belegtes Fladenbrot und Joghurtwasser.

Fast siebzig Prozent der Stimmen aus der Schweiz gingen bei den letzten Wahlen an die Opposition, davon fünfzig Prozent an die linke HDP. Erdogan und seine AKP erhielten in der Schweiz lediglich dreissig Prozent der Stimmen. Das ist wenig im Vergleich mit anderen europäischen Ländern wie Österreich, Deutschland oder Belgien, wo die meisten TürkInnen die AKP wählen. Dass in der Schweiz die Regierungspartei eine untergeordnete Rolle spielt, liegt unter anderem daran, dass die Schweiz nie in der Türkei ArbeiterInnen angeworben hat. Hierher kamen nach dem Militärputsch von 1980 und dem Konflikt mit der PKK vielmehr politisch verfolgte Flüchtlinge – in der Mehrheit waren und sind es KurdInnen.

Alle WählerInnen haben sich herausgeputzt wie für ein Hochzeitsfest. Manche tragen ein Kopftuch, andere sind sommerlich gekleidet, es sind auch Tattoos und Piercings zu sehen. Tülay Korkmaz ist eine der vielen WahlbeobachterInnen. Sie rennt hin und her. Sie sei Lehrerin und vor 29 Jahren beim Unterrichten in der Türkei festgenommen worden. Danach floh sie in die Schweiz. Sie wirkt sehr motiviert. «Ja, ich will, dass dieses Mal die Demokratie gewinnt.» Korkmaz wohnt seit langer Zeit in der Schweiz. Weshalb ihr starkes Interesse an den Wahlen? «Ich vermisse die Türkei sehr», sagt sie, «und jedes Mal, wenn ich dort bin, macht es mich sehr traurig, dass sich das Land in eine Autokratie verwandelt. Ich will aber meine Meinung frei äussern können, unbehelligt im kurzen Rock durch die Strassen gehen und am Strand Bikini tragen.» Tülay Korkmaz ist Türkin, wählt aber die HDP. Diese Partei sei nicht nur eine kurdische Partei, sondern auch eine für Frauen, Arbeiter und Minderheiten, eine Volkspartei.

Was erreichte die Republik?

Ibrahim Bilen sitzt an einem Tisch, an dem sich nur Männer befinden. Der Doppelbürger ist Finanzanalyst und lebt seit 1989 in der Schweiz. Warum geht er zur Wahl? Die Türkei sei seine Heimat, daher interessierten ihn auch deren Belange. Er wählt die sozialdemokratische CHP. «Sie ist die Partei von Republikgründer Atatürk. Die Republik ist die grösste Errungenschaft. Wir müssen alle hinter ihr stehen», sagt Bilen. Nachfrage, ob die Republik nicht Fehler gemacht und KurdInnen sowie andere Minderheiten unterdrückt habe. Ein anderer Wähler mischt sich ein: «Die Republik musste hart handeln, sie war gefährdet.» Die Hoffnung der Atatürk-Anhänger ist gross, dass die AKP die Mehrheit im Parlament verliert und sich Muharrem Ince, der Kandidat der CHP, durchsetzt und die Türkei Erdogan loswird.

Zwei Frauen kommen dazu. Eine trägt Kopftuch. Ja, man dürfe ihnen Fragen stellen, sagt die Kopftuchträgerin. «Aber schreiben Sie keine Lügen, nur die Wahrheit.» Cigdem Ipek lebt seit 1990 in der Schweiz und arbeitet bei Nestlé. «Die Türkei ist meine Heimat, und ich besuche sie oft. Ich werde irgendwann wieder dort leben», sagt sie. Sie wählt Erdogan und die AKP. Denn er habe die darniederliegende Wirtschaft wieder stark gemacht, die Türkei sei wirtschaftlich sehr erfolgreich.

Die Einwände, dass die türkische Wirtschaft inzwischen stark leide, die Lira allein dieses Jahr dreissig Prozent an Wert verloren habe und die Arbeitslosigkeit stark gestiegen sei, unterbricht Ipek: «Das sind alles Lügen der Schweizer Medien. Die sollen sich um ihre Angelegenheiten kümmern. Ich sehe in den Medien, dass Erdogan immer als Diktator bezeichnet wird. Die Schweiz ist eine Diktatur!» Und welche Partei wählt sie in der Schweiz? «SP, weil sie für die Rechte der Ausländerinnen eintritt.»

In der Oerliker Messehalle fühlt es sich an, als wäre man in der Türkei: eine tief gespaltene WählerInnenschaft, Verschwörungstheorien – und immer sind die anderen schuld.