Zeitgeschichte: Ein Spielkamerad fürs Einzelkind

Nr. 25 –

In den sechziger Jahren nahmen viele Schweizer Familien tibetische Pflegekinder auf. Ein Buch arbeitet jetzt die Geschichte dieser «Aeschimann-Kinder» auf – und die politische Agenda, die dahintersteckte.

Heute wäre das ein bewundertes Start-up. Schon das Tempo ist beachtlich: Im August 1959 las der Schweizer Industrielle Charles Aeschimann von dem Hilferuf, den die tibetische Führung an die Welt richtete. Nach einem von der chinesischen Armee niedergeschlagenen Aufstand waren Zehntausende TibeterInnen unter Führung des Dalai Lama nach Indien geflohen und befanden sich dort in grosser Not. Aeschimann beschloss zu helfen. Im August 1960 hatte er sein Pflegekind, im Oktober kamen weitere zwanzig tibetische Kinder in Kloten an, die für das Kinderdorf Pestalozzi in Trogen bestimmt waren. Und im August 1961 begann die Aktion «Aeschimann-Kinder». Drei Jahre später hatte Aeschimann 160 tibetische Kinder und 10 Jugendliche in Schweizer Familien untergebracht.

In ihrem Buch «Tibetische Kinder für Schweizer Familien» arbeiten Sabine Bitter und Nathalie Nad-Abonji dieses Hilfsprojekt auf. Der Blick der Autorinnen ist durchwegs kritisch, aber sie beherrschen die Kunst, die Fakten sprechen zu lassen – und dank akribischem Quellenstudium und zahlreichen Gesprächen mit Betroffenen und AkteurInnen liefert ihr Buch auch einen exakten Einblick in die Gesellschaftsstruktur der Schweiz vor 1968.

Charles Aeschimann verkörperte perfekt den herrschenden FDP-Liberalismus seiner Zeit. Der Elektroingenieur war bestens vernetzt in den mächtigen Männerbünden, die die Schweiz regierten, vom Rotary Club bis zur Schoggitalerkommission. Als Verwaltungsratsdelegierter der Aare-Tessin AG war er ein wichtiger Exponent der Schweizer Elektrizitätswirtschaft und an den Überlegungen zur «friedlichen Nutzung der Kernenergie» beteiligt.

Bewerbung im Wohnzimmer

Bei seinem Hilfsprojekt verbat sich Aeschimann jede Einmischung von Institutionen, Behörden oder SpezialistInnen. Wer ein Pflegekind haben wollte, musste sich bei ihm im Wohnzimmer bewerben. Der Chef unterhielt sich danach kurz mit seiner Familie und traf seine Entscheidung. Die Behörden liessen ihn machen, nahezu ohne Kontrolle und Auflagen.

Über die grosse Anzahl von Eltern, die ein tibetisches Pflegekind wollten, war selbst Aeschimann erstaunt. Wie ist das zu erklären? Befördert von herzergreifenden Medienberichten, befand sich die Schweiz damals in einem Hilfsfieber, was die «Tibeterli», wie sie genannt wurden, anging. Es war die Hochzeit des Kalten Krieges, aus dem «Hilfskomitee für die Opfer des Kommunismus» wurde die Schweizer Tibethilfe (STH), und die TibeterInnen waren Opfer von Rotchina. Da vereinigten sich Ängste vor der «roten» und der «gelben Gefahr».

Entscheidend auch: Aeschimann richtete sich mit seinem Projekt an den oberen Mittelstand. Diese Eltern suchten ein «Brüderchen fürs Töchterchen», einen «Spielkameraden fürs Einzelkind» oder einen «Stammhalter». Es war Hochkonjunktur, die Sitten lockerten sich. «Man» hatte Geld und ein weltoffenes Herz. Bitter und Nad-Abonji problematisieren diese heisse Hilfsbereitschaft zu Recht: Zur gleichen Zeit durften die Kinder der italienischen «Gastarbeiter» das Land nicht betreten, und Schweizer Verdingkindern wurde Bildung verwehrt.

Keine Waisenkinder

In der Öffentlichkeit hielt sich hartnäckig die Auffassung, die Aeschimann-Kinder seien Waisen. Dabei hatten die meisten sehr wohl Eltern, um deren Meinung sich weder der Dalai Lama noch Aeschimann noch die Schweizer Behörden scherten. Als diese Eltern begannen, sich um ihre Kinder zu kümmern, brach Verwirrung aus. Vor allem aber krankte die Aktion daran, dass die Kinder einem unerfüllbaren politischen Programm unterworfen waren: Sie sollten in der Schweiz gut ausgebildet werden, aber den Kontakt zur tibetischen Kultur behalten, um später als Elite zu ihrem Volk zurückkehren zu können. Die Pflegeeltern mussten in einem «Agreement» ihr Einverständnis zu diesem Programm geben. Aber die Integration von vereinzelten Kindern in der Schweiz, der verlangte Schulerfolg, das immer wieder angemahnte Bravsein: Das alles führte bei vielen zum Bruch mit der Sprache, Religion und Kultur Tibets.

Die humanitären Macher hatten auch übersehen, dass viele der Kinder traumatisiert waren, und sie ahnten wenig von den enormen Schwierigkeiten junger Menschen, die hin- und hergerissen waren zwischen einer noch feudalen Kultur und der westlichen Moderne. Umso heftiger die psychischen Probleme, als die Kinder in die Pubertät kamen. Manche Familie war überfordert. Umplatzierungen und Einweisungen in Heime für Schwererziehbare waren die Folge. Einige Pflegekinder hatten Suchtprobleme, die Suizidrate war verhältnismässig hoch.

Ihrer unmittelbaren Notlage waren die «Aeschimann-Kinder» entkommen, was die Autorinnen auch anerkennen. Doch sie weisen auch darauf hin, wie hoch der Preis dafür war.

Sabine Bitter und Nathalie Nad-Abonji: Tibetische Kinder für Schweizer Familien. Die Aktion Aeschimann. Rotpunktverlag. Zürich 2018. 220 Seiten. 40 Franken