Siegreiche US-Sozialistin: Wer hat Angst vor dem S-Wort?

Nr. 27 –

Die Politlandschaft der USA wird zunehmend von links umgepflügt: In New York gewann die bekennende Sozialistin Alexandria Ocasio-Cortez eine wichtige Vorwahl der DemokratInnen.

Vergangenen Dienstag gewann die 28-jährige Alexandria Ocasio-Cortez eine demokratische Vorwahl in New York. Der 14. Bezirk gilt als felsenfest demokratisch – die bekennende Sozialistin wird dort wohl die Kongresswahl im November gewinnen und die jüngste weibliche Abgeordnete in der Geschichte der USA werden.

Demokratisches Erdbeben

Ocasio-Cortez’ Sieg kommt einem Erdbeben in der Demokratischen Partei gleich. Ihr Gegner, John Crowley, war nicht irgendein Abgeordneter: Zwanzig Jahre vertrat er den 14. Bezirk New Yorks, zu dem die Bronx und Teile von Queens gehören, vierzehn Jahre davon war er unangefochten. Crowley war die offizielle Nummer vier der Partei und galt als möglicher Nachfolger der Fraktionsvorsteherin Nancy Pelosi. Nun hat er sein Amt verloren, obwohl er zehnmal so viel Geld für den Wahlkampf ausgegeben hatte wie Ocasio-Cortez.

Es sei an der Zeit zu erkennen, dass nicht alle DemokratInnen gleich seien, sagt sie in ihrem Wahlkampfvideo. Manche nähmen Spenden von Grosskonzernen, wohnten nicht im Bezirk, dessen Menschen sie vertreten, schickten ihre Kinder nicht in die örtlichen Schulen, tränken nicht dasselbe Leitungswasser, atmeten nicht dieselbe Luft. Es ist eine Kriegserklärung an die etablierten DemokratInnen. Die anderen, neuen DemokratInnen, das sind Leute wie Alexandria Ocasia-Cortez. Jünger, linker und mit anderen Biografien. Ocasia-Cortez ist in der Bronx aufgewachsen, ihre Mutter stammt aus Puerto Rico. Bis vor kurzem hat Ocasio-Cortez noch als Kellnerin in einer Tequilabar in Manhattan gearbeitet, um ihre Mutter nach dem Tod ihres Vaters zu unterstützen. An der Universität Boston studierte sie Wirtschaft und Internationale Beziehungen. Danach kehrte sie nach New York zurück, arbeitete als Sozialarbeiterin und Lehrerin. 2016 nahm sie an den Protesten von Indigenen gegen den Bau einer Pipeline in North Dakota teil, bevor sie sich in der Kampagne des linken Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders engagierte.

Sanders als Wegbereiter

Siege von KandidatInnen wie Ocasio-Cortez (oder Jess King in Pennsylvania) sind Spätfolgen von Sanders’ Kampagne. Ihm ging es nicht primär darum, Präsident zu werden, sondern linkere Positionen in die Debatte einzubringen. Damit begeisterte er Millionen junger AmerikanerInnen, viele sammelten in seiner Kampagne Erfahrungen, die sie heute in ihren eigenen Wahlkämpfen einsetzen.

Ocasio-Cortez ist Mitglied der Demokratischen Sozialisten Amerikas, die gerade Tausende Neueintritte verzeichnen. Sie fordert eine öffentliche Krankenversicherung, eine staatliche Jobgarantie, kostenlose Universitäten, und sie will die für ihre Brutalität berüchtigte Einwanderungsbehörde ICE abschaffen. Plötzlich wird in der beliebten vormittäglichen Talkshow «The View» offen und ohne Panik über (demokratischen) Sozialismus geredet. In der Sendung «Meet the Press» wurde Ocasio-Cortez gefragt, wie sie Leute überzeugen wolle, die «Angst vor dem S-Wort» hätten. Ihre ausweichende Antwort zeigt jedoch, dass Sozialismus in den USA noch immer ein Stigma anhaftet. Darum bezeichnen sich Linke in den USA lieber als «progressive PopulistInnen».

In einem Interview mit dem Journalisten Glenn Greenwald empfahl Ocasio-Cortez den DemokratInnen, von Trump zu lernen, wie man WählerInnen mobilisieren könne, die von den etablierten Parteien angewidert seien. Er habe sehr direkt über Bedürfnisse gesprochen, die von beiden Parteien nicht abgedeckt würden. Ihr Wahlsieg erinnert damit an eine andere populistische Welle: Eric Cantor, die republikanische Nummer zwei im Abgeordnetenhaus, verlor 2014 gegen einen Herausforderer aus der rechten Tea Party. Es scheint möglich, dass die Demokratische Partei ebenso von ihren Rändern her erobert wird.

Die Parteileitung mauert

Die Gegenwehr der Parteileitung hat bereits begonnen. Schon im Vorfeld der Wahl konnte Ocasio-Cortez keine Wahlempfehlung demokratischer Abgeordneter gewinnen, normalerweise ein wichtiger Faktor. Nach ihrem Sieg versuchte Fraktionsvorsteherin Nancy Pelosi, das Ergebnis herunterzuspielen. Es gehe bloss um einen nicht repräsentativen Wahlkreis. Es gebe keinen Anlass, die Strategie oder die Positionen der DemokratInnen zu überdenken.

Die grossen Medien waren von Ocasio-Cortez’ Erfolg ebenso überrumpelt wie die etablierten DemokratInnen. Am Wahltag hatten manche Fotoagenturen nicht einmal Bilder von ihr im Angebot. Die «New York Times» titelte: «Who is Alexandria Ocasio-Cortez?» Die Redaktion schien nicht einmal bemerkt zu haben, dass eine Vorwahl lief. Liberale Medien wie auch Mitte-DemokratInnen versuchen nun, das linke wirtschaftliche Programm der Vorwahlsiegerin zu relativieren: Es gehe vielmehr um «diversity». Ocasio-Cortez’ Attraktivität sei vor allem ihrem Migrationshintergrund, ihrer Jugendlichkeit und ihrem Geschlecht geschuldet, sagte der Präsident eines DemokratInnen-nahen Thinktanks gegenüber dem «Guardian».

Alexandria Ocasio-Cortez selbst betont, ihr Programm verbinde Forderungen nach wirtschaftlicher Gerechtigkeit und Identitätspolitik: «Die Idee, man könne Fragen nach Rassismus von Fragen der Wirtschaft trennen, ist Betrug.»