Whistleblowing im Sport: Zwischen Heldentum und Hochverrat

Nr. 27 –

Der Weltsport hat zu viel Autonomie. Er kontrolliert sich vor allem selbst. Das macht ihn unantastbar. Whistleblowing ist fast die einzige Möglichkeit, diese Misere aufzubrechen.

(grosse Ansicht der Illustration)

Am 5. Dezember 1969 druckte die «Zeit» einen Text mit düsterer Überschrift und gruseliger Essenz: «Züchten wir Monstren? Die hormonale Muskelmast. (…) Anabole Steroide (…) gehören zum modernen Hochleistungssport wie Trainingsplan und Trikot, wie Spikes und Spesenscheck.» Der Artikel war ein fassungsloser Schrei, ein gespenstisches Arrangement zwischen Anklage und Entsetzen, zwischen Abscheu und Enthüllung, ein moralischer Amoklauf, weil die Erregung über gängige Dopingpraktiken grösser war als die Angst vor dem mächtigen Echo eines entblössten Milieus.

Als Autorin zeichnete Brigitte Berendonk. Sie war aktive Leistungssportlerin, DDR-Meisterin im Vierkampf 1958, Olympionikin für Westdeutschland in den Jahren 1968 und 1972. Zum ersten Mal kamen grausige Berichte aus der inneren Szene des Spitzensports heraus. Der Begriff war damals nicht geläufig. Aber heute würde man Berendonk als Whistleblowerin bezeichnen. Sie blieb die Einzige – bis Julia Stepanowa und ihr Mann Witali Stepanow 45 Jahre später in einer Dokumentation des TV-Senders ARD über staatliche Dopingprogramme im russischen Sport berichteten. Sie war eine russische Mittelstreckenläuferin, er arbeitete bei der russischen Antidopingagentur. Nach dem ARD-Bericht wurden beide mit dem Tod bedroht. Im Unterschied zu Stepanowa hatte Berendonk ein ganzes Sportsystem brüskiert und nicht nur eine Nation.

Ehrenhafte und Heuchler

WhistleblowerInnen geben als dunkle Quellen geheimes Wissen preis. Sie verraten moralisch abscheuliche oder kriminelle Machenschaften, die in diskreten Soziotopen gedeihen, in abgeschotteten Systemen, in denen öffentliche Kontrollen fehlen und zivilrechtliche Gesetze kaum mehr greifen. In diesem konspirativen Klima decken sich die AkteurInnen gegenseitig, weil sie voneinander profitieren. WhistleblowerInnen gehören den geheimen Zirkeln vorerst an. Sie brechen aus, wenn sie das bigotte Umfeld nicht mehr ertragen. Ihre Absicht ist meist ehrenhaft. Dennoch bestraft sie die Zivilgesellschaft mit einem zweifelhaften Ruf. Sie sind HeldInnen und VerräterInnen zugleich. Indem sie Verbrechen offenlegen, denunzieren sie ein Milieu, das sie vorher protegierte.

Von Berendonk über Stepanowa bis heute inszenierten sich manche als WhistleblowerInnen. Die wenigsten verdienen diesen Ruf. Die meisten sind sogenannte KronzeugInnen, in Wahrheit sind sie Heuchlerinnen, Opportunisten, meistens beides. Im Gegensatz zu den WhistleblowerInnen veräussern sie geheimes Wissen erst, wenn ihnen der Unrat bis zum Hals steht. Die Justiz hätschelt sie als nützliche InformantInnen der Anklage. Die Medien verramschen sie als Ware. Die KronzeugInnen selbst erkaufen bei den ErmittlerInnen die Absolution und winseln um Gnade bei den Fans.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Insiderwissen und dergleichen sind zentral im Kampf gegen Wettmanipulation, Doping oder Korruption, gegen all den Schmutz, der den Sport umgibt. Nur darf man hinterfragen, ob InsiderInnen mit zweifelhafter Vita berufen sind, dieses morbide Gebilde von innen her zu läutern. Als der Profiradrennfahrer Tylor Hamilton 2013 seinen einstigen Teamchef Lance Armstrong verpfiff, war er längst selber aufgeflogen. Berufskollege Floyd Landis und Masseurin Emma O’Reilly prügelten noch auf Armstrong ein, als dieser sportlich und gesellschaftlich längst vernichtet war. Trevor Graham trainierte Dutzende von Athleten, die Olympiamedaillen sammelten und Pillen schluckten. Nachdem sich der Leichtathletiktrainer mit seinem Lieferanten zerstritten hatte, informierte er 2003 die Justiz. Die Ermittlungen weiteten sich zur sogenannten Balco-Affäre aus. Balco war ein Unternehmen, das neben Vitaminen und Aminosäuren auch anabole Steroide designte und den Profisport mit THG – Tetrahydrogestrinon – belieferte. Jesús Manzano verkündete aus dem Ruhestand, dass er seine Radsportkarriere mit Blutdoping befeuert habe. Er gab eine Liste von Gleichgesinnten preis. Das anschliessende Verfahren, die «Operación Puerto», deckte ein gigantisches Dopingnetzwerk um den spanischen Gynäkologen Eufemiano Fuentes auf.

Willy Voet, Pfleger beim Radsportteam Festina, Jef D’hont, Masseur bei jedem, der seine Dopingcocktails spritzte, oder Fuentes-Kunde Jörg Jaksche: Die Liste jener, die aufgeflogen waren und reuig in die Offensive gingen, könnte beliebig erweitert werden. In ihren Beichten protzen sie mit Dopinganekdoten und heiterer Sportfolklore und mimen Lauterkeit. Im Fall von Grigori Rodtschenkow, jahrelang Leiter des Dopinglabors in Moskau, war Rache die Motivation. Er war einer der Köpfe des nationalen Dopingbetrugs, der das Internationale Olympische Komitee (IOC) seit einigen Jahren beschäftigt und zu sportpolitischen Kapriolen nötigt. Ende 2015 liessen ihn die politischen Behörden fallen. Was sie nicht erwartet hatten: Rodtschenkow klaute die Datenbank des Moskauer Labors, begab sich ins US-Zeugenschutzprogramm und hausiert seither mit dem belastenden Material beim FBI.

Noch wendiger ist die Funktionärselite. Chuck Blazer war von 1996 bis 2013 Mitglied der Exekutivkommission des Weltfussballverbands (Fifa) und liess sich von allen Seiten schmieren. Als die zentrale Sicherheitsbehörde der Vereinigten Staaten, das FBI, gegen den US-Funktionär ermittelte, schulte sich dieser zum Informanten um. Er bespitzelte seine Freunde aus Wirtschaft, Politik und Sport. Zum Vorschein kam eine Welt von Berufsverbrechern, die Gier und Intrige verinnerlicht und Korruption zum Kavaliersdelikt verniedlicht hatten. Blazers Aussagen führten letztlich zum Sturz der alten Fifa-Garde, insbesondere von Fifa-Vize Jack Warner, Generalsekretär Jérôme Valcke und schliesslich von Präsident Sepp Blatter. Im Dezember 2017 sprach ein Bundesgericht in New York die früheren Funktionäre José Maria Marin und Juan Ángel Napout im ersten Prozess des Fifa-Korruptionsskandals schuldig. Es war die Restmasse des Fifa-Skandals von 2015. Als wichtigster Zeuge der Anklage hatte Alejandro Burzaco, der einstige Chef einer argentinischen Sportmarketingfirma, ausgesagt. Er bekannte sich schuldig und handelte eine milde Strafe aus. Er berichtete, rund dreissig Fussballfunktionäre mit insgesamt 160 Millionen Dollar geschmiert zu haben.

PR-Floskeln aus elitären Zirkeln

Die Frage stellt sich nun, warum sich nichts ändert, wenn das System aus Vetternwirtschaft, Geldwäscherei, Doping und Korruption tausendfach und aktenkundig offenliegt. Warum bewirken Whistleblower, Kronzeuginnen und Enthüllungsberichte nichts? Eine kurze Antwort lautet: Die Entscheidungsgremien sind nicht willens, etwas zu verändern. Die historisch gewachsenen Strukturen werden nicht angetastet. Das hat Gründe. Der moderne Sport hat die letzten hundert Jahre fast schrankenlose Autonomie erhalten, weit entrückt von rechtsstaatlichen Kontrollsystemen. Der Staat hat jede Verantwortung ausgelagert. Er schaut bei der Selbstbereicherung zu und beim verborgenen Dopingnetzwerk weg. Und sportinterne Kontrollsysteme greifen weder präventiv noch reaktiv. Sie funktionieren nach dem Prinzip der Selbstkontrolle.

Als Baron Pierre de Coubertin im Juni 1894 an der Pariser Sorbonne die Idee von modernen Olympischen Spielen verkündete, war seine Absicht ehrenwert. Er wollte Frieden und Verständigung der Völker. «Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper» stand für die künftige Jugend, sportliche Wettkämpfe symbolisierten Fortschritt und fairen Wettbewerb. Die Körper-Geist-Harmonie und der Fairnessglaube wurden konserviert.

Es sind PR-Floskeln aus einer Zeit, als der Sport geringe gesellschaftliche, dafür elitäre Bedeutung hatte. Der real existierende Sportbetrieb hat sich aber ins Gegenteil verkehrt. Der friedliche Wettkampf ist einer «entfesselten Siegerorientierung», einer «Totalisierung des Leistungssports» gewichen, wie der deutsche Soziologe Karl-Heinrich Bette schreibt.

Und andere Player drängten sich aufs Feld. Ab den zwanziger Jahren entdeckte die Wissenschaft den Sport. Sie testete Medikamente bereits an SportathletInnen, als noch Ratten in den Labors starben. Coramin, Pervitin, Dianabol, Diuretika, Epo, Bluttransfusionen: Die Wirksamkeit der Pharmaka wurde optimiert, die Praxis systematisiert, die Mentalität der künstlichen Leistungssteigerung verinnerlicht. Mit beispielhafter Konsequenz zeigte Adolf Hitler 1936 in Berlin, wie eine Masse mit der Inszenierung von Olympischen Spielen gewonnen wird. Er missbrauchte den Sport für seine nationalsozialistische Ideologie. Seither wird die Ausrichtung von Grossevents oder die Zahl von Sporterfolgen als Zeichen nationaler Leistungsfähigkeit verkauft.

Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg sah auch die Wirtschaft im Sport ein attraktives Medium. Sie schielte auf den wachsenden Freizeit-, Lifestyle- und Outdoormarkt. In den sechziger Jahren etablierte sich das Fernsehen als Leit- und Massenmedium. Die Verbände entdeckten das Potenzial bewegter Bilder. Es begann der irrwitzige Wettbewerb um Vermarktungsrechte, später um den Handel mit der Ware Mensch ergänzt. Der Marktwert des brasilianischen Fussballers Neymar beträgt laut transfermarkt.de 180 Millionen Euro, Bildrechte von Olympischen Spielen gelten mehrere Milliarden. Parallel liessen sich die Medien auf den flotten Dreier «Werbung, Sportereignis, Medien» ein. Das machte sie zu Komplizen. Die Grenzen zwischen Journalismus und Dienstleistungs- oder PR-Assistenzbetrieb sind längstens fliessend. In diesem Kontext ist es kaum erstaunlich, dass sich etwa in der Dopingproblematik Politik, Wirtschaft oder Massenmedien geschlossen unzugänglich zeigen. Sie sind im Dilemma und handeln paradox. Die Politik unterstützt den Leistungssport, um die Medaillenchancen bei internationalen Wettbewerben zu erhöhen. Versagen die Protegierten, wird das Geld gekürzt. Sponsoren fixieren Antidopingklauseln in den Verträgen. Mit VerliererInnen wollen sie aber nicht geschäften. Das Entstehen einer Dopingmentalität ist unausweichlich, Doppelmoral und eine «Entkoppelung von Reden und Tun in subversiven Untergrundstrukturen» (Bette) sind die Folge.

Wer über Reformen spricht, muss erst die unbeschränkte Macht der nationalen und internationalen Sportverbände und der ihnen zugewandten Institutionen brechen. Das betrifft besonders die Fifa und das IOC, gemeinnützige Vereine im Sinne von Art. 60 ff. des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs, tatsächlich aber globale, milliardenschwere Wirtschaftsunternehmen. Antidopingagenturen sowie Rechts- und Sanktionsorgane sind interne Konstruktionen, um diese Macht zu festigen.

Etwa das Internationale Sportgericht (TAS) in Lausanne. Es ist ein privates Schiedsgericht. Es wurde 1984 auf Anregung des Internationalen Olympischen Komitees gegründet und tut seither so, als sei es staatlich legitimiert. Tatsächlich besitzen die Urteile aber zivil- und strafrechtlich grundsätzlich keine Wirkung. Sie werden gültig, weil sich staatliche Justizorgane um sportinterne Angelegenheiten, meist sportpolitisch motiviert, foutieren. Das TAS dient vorab zur Kontrolle des Apparats und zur Disziplinierung der SportathletInnen. Letztere müssen eine Vereinbarung unterschreiben, dass sie das TAS als endgültige juristische Instanz akzeptieren. Wer die Unterschrift verweigert, ist von Wettbewerben ausgeschlossen und bekommt Berufsverbot.

Auch Antidopinginstitutionen rütteln nicht an historisch gewachsenen Konstruktionen. Julia Stepanowa ging mit ihrem Entsetzen über russische Dopingpraktiken zur Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada). Die Wada hingegen informierte russische Behörden über Stepanowas Indiskretion. Die Russen antworteten: Alles Lügen! Die Wada unternahm nichts. Erst als Stepanowa via Medien die Öffentlichkeit informierte, begann ein hektischer Wada-Aktivismus.

Zurückhaltend arbeitet auch Antidoping Schweiz. Im Januar 2018 publizierten die ARD und das Onlinemagazin «Republik» über einen Berner Sportarzt, der starke Dopingsubstanzen offeriert und spritzt. Die Stiftung Antidoping Schweiz hatte angeblich «in dieser Angelegenheit über mehrere Jahre hinweg ermittelt» – und doch nichts unternommen. Sie reagierte erst nach Pressepublikationen mit einer Strafanzeige.

Besonders aktiv sind Verbände im Verbund mit Antidopingagenturen indes, um «pentiti» – Reuige – aufzuspüren und zu isolieren. Geködert werden sie mit Strafmilderung und einer garantierten Arbeitsstelle im Profisport. Wie schlecht es einem ergehen kann, weiss Patrik Sinkewitz. Der deutsche Radprofi informierte die Wada als Kronzeuge mehrmals über gängige Dopingpraktiken. Die Infos wurden nicht verwertet. Ins Peloton der Berufskollegen wurde Sinkewitz nie mehr aufgenommen. Als er 2015 abermals über Doping reden wollte, interessierte sich keiner mehr für ihn. Auch Antidoping Schweiz ermutigt junge, unbedarfte SportlerInnen zu Spitzeldiensten. Ein «ambitionierter Schweizer Amateursportler» wurde wegen eines «schwerwiegenden Dopingvergehens zu einer vierjährigen Sperre verurteilt», ist auf der Website nachzulesen. Die Disziplinarkammer reduzierte die Strafe auf «knapp zwei Jahre», weil der Amateur einen Sportkollegen denunziert hatte. Das tönt nach Antidopingkampf, aber Hinterleute und Strukturen werden dabei nicht angetastet.

Bei dieser laschen Berufsethik von Antidopinggremien bleiben Diskurse um Reformen Scheindebatten; das gilt selbst für die seit Jahren geführte Rede über eine Legalisierung von Pharmaka im Profisport. Sie gehört zum gängigen Repertoire von Stammtisch- und Symposiumsgesprächen. Die Argumente werden nur noch rezykliert: Nirgends werde so rigoros kontrolliert wie im Sport; Kontroll- und Sanktionsapparate hätten nichts bewirken können, Doping sei deshalb zu legalisieren. In dieser Logik müssten wir auch Betrug und Korruption bewilligen. Denn trotz Überwachen und Bestrafen existieren auch diese Genres weiter. Doping ist Betrug und Korruption. Und zudem Forschung am lebenden Menschenmaterial.

Als Folge der bis anhin grössten Kommunikationskatastrophe konstruierte der Weltsport 1999 die Wada und nationale Antidopingagenturen. Willy Voet war unmittelbar vor der Tour de France 1998 mit einem Arsenal von Spritzen und Pillen im Kofferraum – unter anderem 400 Ampullen Epo – von der Polizei gestoppt worden. Richter Patrick Keil behandelte die Angelegenheit als normales Drogendelikt und weitete die Untersuchung auf die Fussball-WM 1998 in Frankreich aus. Er legte ein riesiges Dopingnetzwerk im Radsport und im Profifussball offen. Das geschah unter grosser Anteilname der Medien. Aber er fand keine Unterstützung bei den Behörden. Im Grunde ermittelte er gegen seine höchsten politischen Vorgesetzten. Keil verlor danach alles: Arbeit, Familie, Freiheit, und er versank in Schulden und Alkohol.

Dreissig Jahre zuvor war während der Tour de France 1967 eine ähnlich schicksalhafte Katastrophe passiert. Der britische Radrennfahrer Tom Simpson kippte am 13. Juli im Aufstieg zum Mont Ventoux vom Rad und verstarb am Berg. Die Obduktion ergab Herzstillstand und einen Cocktail von Aufputschmitteln im Blut. Millionen Menschen sahen Simpsons Tod live im TV. Die Wirkung dieser Bilder war nicht mehr steuerbar. Ab diesem Zeitpunkt begannen internationale Sportbehörden, offizielle, aber wenig durchschaubare Dopingkontrollen aufzubauen.

Der Fall Pantani

Transparenz war nicht vorgesehen. Kontrollen sollten nur die schlimmsten Exzesse steuern. 1999 wurde etwa Marco Pantani präventiv vom Giro d’Italia ausgeschlossen, um zu verhindern, dass sein mit Drogen vollgepumpter Organismus wie einst der von Simpson zusammenbräche. Ansonsten ignorierten die Behörden die Antidopingregeln schon früh, wie ein Text in der NZZ vom September 2013 über «Die Schweiz und ihre dunkle Dopingvergangenheit» zeigt. Am Ende des Texts steht: «Die Geschichte hat jedoch gezeigt, dass die Verbände heillos überfordert sind, sich selber zu kontrollieren.» Darauf schrieb Rolf Ehrsam dem Autor: «Die Sportverbände waren nicht heillos überfordert – man wollte einfach nicht!!!» Ehrsam muss es wissen. Er war von 1984 bis 2005 Leiter des Instituts für Sport und Sportwissenschaften der Universität Basel (ISSW) und – mit Unterbrüchen – von 1975 bis 1985 Mitglied der Medizinischen Kommission des Schweizerischen Landesverbands für Sport.

Die frühe Praxis des Nichtwollens zeigte 1992 auch die Recherche im «Sport» über das Dopinglabor in Lausanne. Positive Proben gelangten erst ans Nationale Olympische Komitee, dann über die Verbände an die Klubs, wo die betreffenden AthletInnen, offiziell verletzt, krankgeschrieben wurden. Der Text fand Eingang in den Schlussbericht der Doping-Untersuchungskommission (DUK). Die DUK war 1992 eine «informelle Arbeitsgruppe ‹Sport Schweiz›». Sie sollte primär das Dopingtreiben um den Schweizer Kugelstosser Werner Günthör aufarbeiten, das das Nachrichtenmagazin «Spiegel» publik gemacht hatte. DUK-Sekretär war Matthias Kamber. Er verantwortete als Biochemiker bis 1992 die Dopingkontrollen in Magglingen, konnte aber bei Günthör offiziell nie einen verdächtigen Befund festhalten. Seit 2007 ist Kamber Direktor von Antidoping Schweiz. Dieser Tage ging er in Pension. Die DUK verfasste einen Schlussbericht und gab im Mai 1993 «Empfehlungen» ab, wie «derartige Vorkommnisse zukünftig vermieden werden» könnten. Damit waren nicht Dopingpraktiken, sondern deren Publikation gemeint. Es sollte vermieden werden, dass Dopingpraktiken öffentlich werden.

Ähnlich geschmeidig arbeiten auch die internen Rechtsorgane der Weltsportverbände, etwa die Ethikkommissionen. Ihre Aufgabe ist offenbar, ein Mindestmass an solider Geschäftsführung zu suggerieren. Ist dieses Blendwerk nicht mehr vermittelbar, wird mit grossem PR-Aufwand eine externe Person mandatiert. 2012 untersuchte der US-amerikanische Jurist Michael J. Garcia im Auftrag der Fifa und als Vorsitzender der Untersuchungskammer der Ethikkommission diverse Korruptionsvorwürfe gegen Fifa-Funktionäre im Zusammenhang mit der Vergabe der Fussball-WM nach Russland 2018 und nach Katar 2022. Der Starjurist sollte den Anschein eines ernsthaften Bemühens um Reformen geben. Das hatte zuvor mit dem Schweizer Strafrechtsprofessor Mark Pieth bestens funktioniert. Der verfasste mit dem tadellosen Ruf des Korruptionsexperten ein internes Reformpapier, das in der Schublade verschwand. Dass Garcia Ernst machen würde, war nicht vorgesehen. Als die Fifa im November 2014 entschied, Garcias Schlussbericht nicht zu veröffentlichen, trat dieser von seinem Fifa-Mandat zurück und ging zum FBI. Erst danach reagierten die Schweizer Strafbehörden und verhafteten im Zürcher Hotel Baur au Lac einen Teil der Verbrecherbande.

Die Geschichte von Antidopingstrukturen ist eine Geschichte der Verschleierung von Lug und Betrug und wie diese Verschleierung verfeinert wurde. Diskussionen um Reformen und Transparenz sind Scheindebatten, wenn die Autonomie des Weltsports nicht angetastet wird. Das erweist sich bisher als ziemlich schwierig. Es bleibt fast nur die Illegalität, um Finessen hinter einer glamourösen Sportwelt aufzudecken.

Das Internetportal «Football Leaks» stellte in den letzten Jahren mehrere suspekte Verträge zwischen Spielern und europäischen Spitzenklubs ins Netz. Das brachte mediale Aufmerksamkeit und eine Menge Ärger. Real Madrid gelang es mithilfe eines spanischen Richters, das Portal zu kriminalisieren. Generaldirektor Julio Senn sei «mutmasslich einem Hackerangriff zum Opfer» gefallen. Dahinter «könnte Football Leaks stehen», ist in der Klageschrift vage formuliert. Die Plattform bestreitet das. Ein Sprecher gibt in einem Interview mit der portugiesischen Sportzeitung «Record» aber zu, «möglicherweise mehrere Gesetze über geistiges Eigentum verletzt» zu haben. Das sei «die einzige Form, der Welt ein bisschen von dem zu zeigen, was den Fussball zurzeit tötet».

Auch die HackerInnengruppe Fancy Bear klaut Daten von globalen Sportverbänden. Anfang März 2017 veröffentlichte sie auf ihrer Website verschiedene geheime Fifa- und Wada-Dokumente. Aus den Daten sei ersichtlich, dass es in den Jahren 2015 und 2016 mehr als 350 positive Fälle im Fussball gegeben habe. Es geht um sportinterne Konstruktionen zum Konsum verbotener Substanzen. Die HackerInnen haben schon Dokumente über Dopingkonsumenten wie Mo Farah, Bradley Wiggins, Chris Froome oder Rafael Nadal ins Netz gestellt. Der deutsche Bundesnachrichtendienst und das Bundesamt für Verfassungsschutz warnten vor Fancy Bear: Es «bestehen Indizien für eine Steuerung durch staatliche Stellen in Russland».

Was knallhart scheint, muss nicht wirken

Die Frage ist, ob bei der Aufdeckung von Miseren der Hintergrund entscheidend ist. Zora Ledergerber hat eine Dissertation zum Thema «Whistleblowing unter dem Aspekt der Korruptionsbekämpfung» geschrieben. Sie vertritt die Ansicht, dass «die Motivation keine Rolle spielen darf». Diese Einschätzung der Juristin und Gründerin der Integrity Line GmbH könnte man noch teilen. Ihre Firma unterstützt Unternehmen und internationale Organisationen bei der Einführung interner Meldesysteme für Hinweise auf Missstände. Einer ihrer Kunden ist der Europäische Fussballverband (Uefa). Spätestens bei diesem Mandanten regen sich Vorbehalte gegenüber dem Geschäftsmodell von Integrity Line. Was mit den Informationen passiere, die sie im Auftrag der Uefa sammle und weitergebe, hätte man wissen wollen. Ledergerber hat auf zwei schriftliche Anfragen nicht reagiert. Deshalb sei hier aus ihrem Interview mit der Zeitschrift «reformiert» vom 31. März 2017 zitiert: «(…) ob Meldungen seriös nachgegangen wird, darauf haben wir keinen Einfluss.» Ledergerber rät WhistleblowerInnen davon ab, an die Medien zu gelangen.

Das sieht Hajo Seppelt anders. Der ARD-Journalist ist einer der Gründer von sportsleaks.com / dopingleaks.com. Auf der Internetplattform können HinweisgeberInnen anonym und sicher Informationen und Dokumente deponieren. Die Daten werden nicht ins Netz gestellt, sondern von einer Gruppe investigativer und unabhängiger JournalistInnen gesichtet, gefiltert und zu Enthüllungsdokumentationen verarbeitet. Die Motivation der HinweisgeberInnen sei nicht immer klar, sagt Seppelt. Die Plattform werde besonders rege aufgesucht, wenn eine neue Dokumentation veröffentlicht worden sei. Ehrlicherweise müsse man aber zugeben, dass auch viele Vermutungen geäussert würden. Und selbst knallhart wirkende Dokumente seien nicht immer nachverfolgbar, so Seppelt.

Trotzdem hat der Weltsport am meisten Angst vor WhistleblowerInnen. Die HinweisgeberInnen und seriöse Medien haben in der Vergangenheit am meisten bewirken können. WhistleblowerInnen sind keine VerräterInnen. Aber sie riskieren immer alles und geniessen keinen Schutz.

Walter Aeschimann ist Historiker und Publizist. Er forscht zum Thema Doping.

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

Förderverein ProWOZ unterstützen