Im Affekt: Der vermessene Mensch

Nr. 28 –

Selbstverständlich respektiere er die Privatsphäre. Aber wir sollten nicht vergessen, dass die Privatsphäre auch Kinderpornografen schütze: «Privatsphäre ist gut für schlechte Menschen.» Und weiter: «Wenn du akzeptierst, dass es keine Privatsphäre gibt, hat das etwas Befreiendes. Es kann dich zu einem besseren Menschen machen.» Und wenn Google deine Selbstmordgedanken kennt, warum soll man dir dann nicht sofort helfen können?

Wir sind in der Fragestunde nach dem Zürcher Vortrag eines Forschers, der als «kommender Star» der Psychologie angekündigt wird. Michal Kosinskis psychometrische Forschung ist von Firmen wie Cambridge Analytica dazu benutzt worden, Menschen über Social Media zu manipulieren: Mittels «Microtargeting» wurden ihnen massgeschneiderte Wahl- und andere Werbung untergejubelt. Davon distanziert sich der Psychologe aus Stanford. Diese Firmen hätten seine Artikel nicht zu Ende gelesen, er warne vor solchen Methoden. Die eigene Forschung verteidigt er wortreich. Und mit ihr ein Menschenbild, das aus einem düsteren Science-Fiction-Roman oder aus dem 19. Jahrhundert mit seinen Schädelvermessungen zu stammen scheint.

An den freien Willen glaubt Kosinski erklärtermassen ebenso wenig wie an einen Rest Magie in unseren Köpfen. Alles irgendwie vernachlässig- oder messbar. Auch die Gesichtszüge, aus denen die Maschine herauslesen könne, ob jemand homo- oder heterosexuell sei, mit einer bis zu 91-prozentigen Trefferquote. Kosinski beteuert, er wisse auch nicht, wie der Algorithmus das mache, aber es funktioniere. Mit nur zehn algorithmisch ausgewerteten Facebook- oder anderen Likes wisse er mehr über einen Menschen als dessen ArbeitskollegInnen, mit 250 Likes mehr als dessen LebenspartnerIn. Leider war niemand geistesgegenwärtig genug, um nachzufragen, wie sich denn dieses Mehr an Wissen überhaupt messen liesse.

Kosinski ist bezeichnenderweise nicht bei den GeisteswissenschaftlerInnen angestellt, sondern an der Stanford Graduate School for Business.