71. Filmfestival Locarno: Rendezvous mit einer Mumie

Nr. 32 –

Einbruch an der Kinokasse, Aufbruch im Streaminggeschäft: Was ist nur mit der Filmkunst los? Am Festival in Locarno ist nichts zu spüren von einer Kinokrise. Oder doch?

Kino als Ausdauerübung: Pilar Gamboa, Elisa Carricajo, Laura Paredes und Valeria Correa in Mariano Llinás’ Film «La Flor».

O nein, die Bilder bluten! Was ist passiert? Eben noch präsentierte uns eine computerisierte Stimme im Hotelzimmer die Attraktionen eines thailändischen Strandorts, doch jetzt ist die virtuelle Touristenführerin namens Kanya erschöpft eingeschlafen. Der monotone Singsang der Computerstimme ist also verstummt, aber auf der Leinwand machen sich die Bilder selbstständig: Kanya träumt. Und was folgt, sind die verrücktesten zwei Minuten, die dieses Jahr in Locarno zu erleben waren.

Wir sind hier in der Sektion «Signs of Life», wo jeweils die versponnensten Geister des Festivals versammelt sind. Solche wie eben der thailändische Künstler Tulapop Saenjaroen mit seinem halbstündigen Experimentalfilm «A Room with a Coconut View», einer aberwitzigen Reflexion über den touristischen Blick im Zeitalter digitaler Dienstleistungen. Und mittendrin erwischen wir eben die künstliche Intelligenz namens Kanya beim Träumen. Die Alltagsreste ihrer Präsentation schiessen wild durcheinander in einem absurd übersteuerten Pixelsturm, alles zerfliesst, nichts passt zusammen. Die visuellen Versatzstücke laufen Amok, der Effekt: totale Überreizung der Sinne. Eine Kernschmelze des gesamten Bildspeichers: Sieht so die Zukunft des Kinos aus?

Ingenieure der Zukunft

Nein, die Zukunft des Kinos liegt offenbar in einem Selbstgespräch unter Männern. «Where Is the Future of Cinema?» lautete der Titel eines Panels in Locarno, die Frage war also nicht, wer oder was die Zukunft verkörpert, sondern wo sie stattfindet. Zur Beantwortung dieser Frage hatte das Festival einige Ingenieure der Zukunft eingeladen: Vertreter von digitalen Filmplattformen wie Mubi oder Festival Scope, sechs Männer plus Moderator, keine einzige Frau.

In der Herrenrunde gings dann zunächst um Designfragen. Wir wissen ja, wie man Kinos baut und mehr oder weniger apart einrichtet, wir wissen, wie ein Festival auszusehen hätte, das von den Filmen und ihrem Publikum lebt und nicht nur für die Sponsoren (wobei man diesen Balanceakt auch in Locarno längst nicht überall souverän hinkriegt). Aber wie gestaltet man eine Streamingplattform so, dass sie der gezeigten Filmkunst wirklich würdig ist? Das sei eine echte Herausforderung, meinte Bobby Allen von Mubi. Bei manchen Plattformen komme man sich vor wie bei Walmart, andere erinnerten eher an den lokalen Weinhändler um die Ecke.

In einem Punkt waren sich die Herren des Streamings einig: Auf der grossen Leinwand, gemeinsam in einem dunklen Kinosaal sei immer noch das beste Umfeld, um einen Film zu sehen – nicht das mobile Display, allein mit den Stöpseln im Ohr. Bleibt die Frage, ob das Publikum das auch so sieht. 18,2 Prozent, das ist die Zahl des Grauens, die in diesem Sommer in der Schweizer Kinobranche die Runde machte. Sie beziffert den Rückgang der Kinoeintritte im ersten Halbjahr 2018 gegenüber dem gleichen Zeitraum im Vorjahr. Ursachen für den Absturz gibt es viele: zu viele Kinostarts, zu wenig wirklich herausragende Filme, zu schönes Wetter, und dann noch der Sommer mit zu viel Fussball am Fernsehen. Und vermutlich eben auch: die Verlagerung zum Streaming ins Wohnzimmer als bequeme Alternative zum Kinobesuch.

An einem Festival wie Locarno spürt man von dieser Krise nichts. Das klassische Kino kämpft gegen die Leere, Festivals melden regelmässig Publikumsrekorde. Dabei spielen ja bis auf den Fussball alle genannten Störfaktoren in Locarno genauso: zu viele Filme, zu wenig wirklich herausragende Werke, zu schönes Wetter. Aber wie sagte der kluge US-Produzent Ted Hope («The Ice Storm»), der heute die Kinoproduktion bei Amazon Studios leitet und in Locarno für seine Verdienste um den unabhängigen Film geehrt wurde? Kino bestehe eben nicht nur aus Bild und Ton, sondern auch, und das gehe oft vergessen: aus konservierter Zeit. Und wo findet man heute den Raum, um sich dieser Zeitkunst bedingungslos auszusetzen, wenn nicht in der Blase eines Festivals, losgelöst von den Ablenkungsroutinen des Alltags?

Die Zeit aushebeln

Die andere Sache ist, ob man die eigene Zeit, die man investiert, dann auch belohnt sieht. Selten genug, dass ein Film ein völlig eigenes Zeitgefühl entfaltet, schwerelos statt bleiern. So bei der chilenischen Regisseurin Dominga Sotomayor, die mit ihrem Spielfilm «Tarde para morir joven» in eine Andenkommune eintaucht, die nach dem Ende der Diktatur ein freieres Leben abseits in bewaldeten Hügeln probt. Das ist aber nicht, wie man vielleicht meinen könnte, auf den Kollaps einer fragilen Utopie angelegt, sondern auf den inneren Tumult der Adoleszenz. Am Ende brennt der Wald, und die jugendliche Sofía muss einen Brand im Herzen löschen – kleiner metaphorischer Überschuss in einem Film, der das in seiner traumwandlerischen Sinnlichkeit eigentlich gar nicht nötig hätte.

Sich bedingungslos dem Kino ausliefern und die Zeit aushebeln: Was das im Extremfall heisst, versucht der scheidende Direktor Carlo Chatrian in seiner letzten Ausgabe so stark auszureizen wie noch keiner in der Geschichte des Festivals. Im Wettbewerb läuft «La Flor» des Argentiniers Mariano Llinás, der mit rund vierzehn Stunden allein so viel Laufzeit beansprucht wie neun Filme zusammen. Exorbitante Länge als Aufmerksamkeitstrigger: Das ist dann vielleicht doch ein Krisensymptom.

«La Flor», so erklärt der Regisseur selber im Prolog an einem Rastplatz im Nirgendwo, versammelt sechs voneinander unabhängige Episoden, die teils als Hommage an ein Genre der Filmgeschichte angelegt sind. Klingt nach schierer Hybris und nach einem Film ohne Bezug zu einer Welt ausserhalb des Kinos. Vor allem aber ist das Ganze auch ein monumentales Schaufenster für die vier Darstellerinnen, die in jeder Episode in anderen Rollen auftauchen: Elisa Carricajo, Pilar Gamboa, Valeria Correa und Laura Paredes.

Aber ist dieser Marathon nun ein Film, ist es eine Serie oder irgendetwas dazwischen? Regisseur und Festivalleitung wollten sich offenbar selbst nicht so recht entscheiden. In Locarno kann man nur zwischen zwei Kompromissvorstellungen wählen: Man kann von «La Flor» jetzt acht Tage lang jeden Morgen einen Akt schauen oder das Ganze verteilt auf drei Tage, in drei längeren Teilstücken, die zwischen drei und fünf Stunden dauern. Der Regisseur, erklärt Chatrian auf Anfrage, habe die Vorführung in drei Teilen konzipiert. Warum aber diese drei Teile nicht an einem einzigen Tag zeigen? Wenn schon Binge-Watching, dann bitte richtig!

Und der Film selbst, einmal abgesehen von solchen praktischen Erwägungen? Nach knapp der Hälfte von «La Flor» ist man noch nicht viel schlauer. Der zweite Akt zum Beispiel ist ein intensives Kammerspiel fast nur aus Nahaufnahmen, über ein heillos zerstrittenes Schlagerpärchen, das getrennt ein letztes Duett aufnehmen soll. Aber mit einem Musical, wie vom Regisseur beabsichtigt, hat das nun wirklich nichts zu tun. Und der abstruse Subplot um einen Geheimbund, der aus dem Gift von Skorpionen ein Elixier für ewige Jugend gewinnen will, kippt immer wieder ins reinste Schultheater.

Glühende Augen in der Nacht

Das passiert auch im dritten Akt, einem Spionagethriller zwischen Feld, Wald und Niemandsland. Das Genre ist hier dermassen auf die elementarsten Chiffren reduziert, dass man der Plotmechanik beim Leerlauf zuschauen kann. Ungeniert trashig war schon der erste Akt von «La Flor», wo ein abgelegenes Forschungsinstitut kurz vor Ostern eine ominöse Fracht geliefert bekommt: eine Mumie, deren Augen nachts zu glühen anfangen. Wer in ihren Bann gerät, hat erst ungeheuer Durst und verwandelt sich dann in eine rasende Bestie.

Danach tritt man aus dem klimatisierten Kino wieder hinaus in die Gluthitze, man blinzelt verstohlen hinüber zu seinen Mitmenschen mit ihren Wasserflaschen und denkt: Wenn ungeheurer Durst die Vorstufe zur Bestie wäre, sähe es hier in Locarno längst aus wie in «World War Z».

Die Mumie trafen wir tags darauf erneut, und zwar im Dialog zwischen dem Philosophen Peter Sloterdijk und dem rumänischen Filmemacher Andrei Ujica, die in Locarno ihre Karlsruher Küchengespräche vor Publikum weiterführten. Schon wieder eine reine Herrenrunde, aber das hatte diesmal sogar seine gewisse Logik, denn die beiden unterhielten sich nicht über die Zukunft, sondern über die Vergangenheit des Kinos. Ihr Denken war viel älter als sie selbst, und nicht alles daran war so gestrig wie Ujicas These, dass das Kino doch eigentlich gar keine neue Kunst, sondern nur ein neues literarisches Genre sei.

Kino sei mumifizierte Zeit, sagte Ujica zu Beginn, eine Mumie der Veränderung. Der Gedanke ist auch nicht neu, er stammt vom Filmtheoretiker André Bazin, und er ist so bestechend wie eh und je. Denn plötzlich stand es einem klar vor Augen, was so falsch ist an der periodisch wiederkehrenden Litanei vom Tod des Kinos: Wenn das Kino eine Mumie ist, kann es gar nicht sterben, weil es ja immer schon tot war. Und die Augen, die leuchten, sind unsere eigenen.

Das Filmfestival Locarno dauert noch bis Samstag, 11. August 2018.