Erntearbeiterinnen: Feuer, Schüsse und fünfzig Cent für die Kiste Orangen

Nr. 33 –

Ein Streik und ein Hoffnungsträger, der keiner sein will: In Italiens Süden ernten Illegalisierte unter widrigsten Bedingungen Mandarinen und Orangen. Nach Übergriffen, einem Mord und weiteren Toten ist es jetzt genug.

  • Brannte im Januar nieder: Im alten Camp von San Ferdinando bauen manche Leute Baracken, um sie zu vermieten. Foto: Claudio Morelli, Rosarno
  • Rein kommt nur, wer Papiere hat: Aus «humanitären Gründen» erbautes drittes Zeltdorf von San Ferdinando. Foto: Claudio Morelli, Rosarno
  • Maxwell Dylane: «Das ist eigentlich illegal. Aber die Polizei dort drüben schaut immer nur zu.» Foto: Claudio Morelli, Rosarno
  • Altes Camp: Bei Hitze staubts und stiebts, bei Regen wird der Dreck zu Schlamm. Foto: Claudio Morelli, Rosarno
  • Forscherin Chiara Tommasello: Die Gewaltakte würden als «Fehler» abgetan, eine Aufarbeitung finde nicht statt. Foto: Claudio Morelli, Rosarno
  • Das alte Ghetto wird komplett selbstverwaltet: Es gibt Metzgerei, Bar, Coiffeur und Veloreparatur. Foto: Claudio Morelli, Rosarno
  • Nino Quaranta, Biobauer und Liedermacher: «Innenminister Salvini unterteilt die Menschheit in Freund und Feind.» Foto: Claudio Morelli, Rosarno

Aboubakar Soumahoro sitzt in seinem Büro an der Flughafenstrasse in Rom und schweigt. Auf dem Tisch stapelt sich das Papier, im Regal türmen sich die Akten, und an der Wand hängt eine grüne Flagge: «La Via Campesina». Derzeit wird in Italien heftig über Landarbeit diskutiert. Vergangene Woche starben bei zwei Verkehrsunfällen auf dem Arbeitsweg sechzehn ErntearbeiterInnen, und im Juni wurde der Gewerkschafter und Landarbeiter Soumaila Sacko in Kalabrien erschossen. In beiden Fällen reagierte die Gewerkschaft Unione Sindacale di Base (USB) mit Protesten und Streiks. Und Aboubakar Soumahoro, der bei der USB für Landarbeit verantwortlich ist, stellte sich fast täglich den Medien.

Innert weniger Wochen hat sich Soumahoro von einem weitgehend unbekannten Gewerkschafter zum Hoffnungsträger der italienischen Linken entwickelt. In den Talkshows erklärt er in wenigen Sätzen, inwiefern die italienische Gesetzgebung die Arbeitsausbeutung von MigrantInnen begünstigt und zur Bildung menschenunwürdiger Ghettos führt. Dazu zitiert er Hannah Arendt, Aimé Césaire und nötigenfalls Max Frisch. Doch auf die Frage, weshalb Soumaila Sacko getötet wurde, hat auch Soumahoro keine einfache Antwort.

Sacko kam vor wenigen Jahren aus Mali nach Italien. Ihn trieb die Klimaerwärmung hierhin, die in Mali gerade ganze Landstriche in Wüste verwandelt. Nach seiner Ankunft arbeitete Sacko auf den Orangenplantagen Kalabriens, an der Südspitze des Landes. Wohnhaft war er im Ghetto von San Ferdinando, dem vielleicht grössten Slum Europas. Soumaila Sacko war mit zwei Freunden auf dem Gelände der stillgelegten Ziegelei La Tranquilla unterwegs, sie suchten nach Metallteilen für ihre Hütten, als in der Ferne ein Mann auftauchte und aus rund sechzig Metern auf sie schoss. Sacko starb durch einen Schuss in den Hinterkopf, seine beiden Freunde überlebten. Der Hauptverdächtige, der Neffe des ehemaligen Fabrikbesitzers, sitzt in Untersuchungshaft. Soumaila Sacko liegt begraben im Dorf seiner Familie in Mali.

Vielleicht wäre die Geschichte Soumaila Sackos gar nie bekannt geworden, wäre da nicht die Gewerkschaft USB. Vor wenigen Jahren begann sie damit, die LandarbeiterInnen in Italien zu organisieren, seit zwei Jahren ist sie auch in San Ferdinando präsent. Manchen Gewerkschaften gilt die Landwirtschaft als rotes Tuch: TagelöhnerInnen und saisonale Arbeitskräfte seien kaum organisierbar, heisst es. Und weil LandarbeiterInnen aufgrund ihrer tiefen Löhne kaum Beiträge zahlen können, sei der Bereich ohnehin ein Verlustgeschäft.

Aboubakar Soumahoro lässt sich davon nicht abbringen. Er reist wie ein Getriebener durchs Land und besucht die ArbeiterInnen an ihrem Wohnort. Ist dieser Ort ein Ghetto, geht Soumahoro mit seinen GenossInnen dorthin, stellt Stühle und Zelte auf, verteilt USB-Mützen und leitet Workshops. Und wenn ein Gewerkschafter umgebracht wird, lanciert er eine Crowdfundingkampagne, um die Rückführung des Sarges zu finanzieren, reist nötigenfalls gleich selbst an die Beerdigung nach Mali.

Sein Kampf für die soziale Gerechtigkeit hat Soumahoro bekannt gemacht. Kürzlich prangte sein Gesicht auf dem Titelblatt von «L’Espresso», dem wichtigsten Wochenmagazin im Land, neben demjenigen von Innenminister Matteo Salvini. Aboubakar Soumahoro wird in Italien gerade zum Anführer der Unterdrückten stilisiert. Nun sitzt er in einem gepolsterten Bürostuhl in Rom und kämpft gegen seinen Ruf. «Ich bin nur ein Koordinationsorgan», sagt er. «Wir sind eine Basisgewerkschaft. Wir haben keinen Wortführer.» Die wirkliche Arbeit werde vor Ort erledigt. «Dort, wo sich die sozialen Widersprüche zeigen.»


Nino Quaranta (58) steht in Rosarno am Bahnsteig und wartet auf den einfahrenden Zug. Er stellt sich als «Biobauer und Liedermacher» vor, eine Begrüssung mit Handschlag und Küsschen, dann steigt er in seinen roten Fiat Panda, der zögerlich anspringt. «Kommst du wegen Soumaila?», fragt Quaranta und beginnt zu erzählen, ohne die Antwort abzuwarten. Wie viele Linke in der Region hat er Soumaila Sacko persönlich gekannt. Am ersten Mai waren sie zusammen in Reggio Calabria, um für «Arbeit mit Würde» zu protestieren. Und als es darum ging, die Gedenkkundgebung für Sacko zu organisieren, zog Quaranta im Hintergrund die Fäden. «Aboubakar hat mich aus dem Ghetto von San Ferdinando angerufen. Wir haben abgemacht, dass wir alle interessierten Organisationen zur Demonstration einladen – ausser die Faschisten.» Es gebe nur wenige Leute, erklärt Quaranta nicht ohne Stolz, die in der Region so gut vernetzt seien wie er. Sackos Tod habe viele hier erschüttert. Manche glauben, eine neue Stufe der Gewalt darin zu erkennen, hervorgerufen durch das rassistische Klima im Land. Die neue Regierung treibe einen Keil in die Bevölkerung Italiens: «Salvini unterteilt die Menschheit in Freund und Feind.»

Quaranta fährt los, auf einer holprigen Landstrasse aus der Stadt hinaus. Nach Sizilien befindet sich in der Gegend um Rosarno das zweitgrösste Anbaugebiet für Zitrusfrüchte im Land. Im Winter, während der Erntemonate, werden hier mehrere Tausend ArbeiterInnen beschäftigt, die Mehrheit ohne Arbeitsvertrag. Sie arbeiten zehn bis zwölf Stunden pro Tag und verdienen dafür knapp 25 Euro. Bezahlt werden sie im Akkord, pro Kiste Mandarinen gibt es einen Euro, bei den Orangen sind es fünfzig Cent. Manchmal erfolgt die Arbeit unter physischem Zwang. Aufgrund des tiefen Einkommens sind viele LandarbeiterInnen gezwungen, in Zelten oder Behelfshütten zu wohnen. NGOs sprechen von sklavereiähnlichen Arbeitsbedingungen.

Quarantas Kinnbart, der zu einem eleganten Zopf geflochten ist, wippt im Takt der Schlaglöcher. Auf der Rückbank scheppern die Erntemesser. «Die italienische Landwirtschaft ist in der Krise», sagt er. Seine Eltern hätten ihre Felder noch mit dem Esel bestellt und trotzdem genug verdient, um ihn nach Mailand an die Universität zu schicken. «Heute gehen viele Kleinbetriebe Konkurs, weil der Preisdruck so hoch ist.»

Der Grund dafür liegt in der Marktstruktur. Der Markt mit landwirtschaftlichen Frischprodukten ist nach dem «Sanduhrprinzip» organisiert: An den Enden befinden sich viele KonsumentInnen und viele ProduzentInnen mit wenig Marktmacht, dazwischen stehen ein paar wenige Supermarktketten, die siebzig Prozent des Markts kontrollieren und die Preise drücken. Ausserdem fliesst Geld zur ‘Ndrangheta. Bis heute erwirtschaftet die Verbrecherorganisation bis zu vierzig Prozent ihres Umsatzes in der Landwirtschaft. Sie versucht, überall dabei zu sein, wo es Geld gibt: bei der Verpackung, beim Transport, in der Produktion von Obstkisten.

«Es gibt Leute, die ihre Orangen an den Bäumen verfaulen lassen, weil sich die Ernte für sie nicht lohnt», sagt Quaranta. Die grossen Betriebe sind die einzigen, die überleben. Und so werden sie immer grösser, die Kleinbetriebe verkaufen ihnen ihr Land. «Als Kleinbauer hast du im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: Entweder du beutest deine ArbeiterInnen aus, oder du gibst auf. Und dann gibt es da noch eine dritte Möglichkeit: SOS Rosarno.»


Rosarno, Januar 2010: Ayiva Saibou (26) ist auf dem Nachhauseweg von einer Plantage, als ein Mann aus einem vorbeifahrenden Wagen mehrmals mit einem Luftgewehr auf ihn schiesst. Der Schmerz, der ihm den Unterleib zerreisst, lässt ihn für einen Moment das Bewusstsein verlieren. Später kommt er im Spital zu sich. Als sich die Nachricht über den Angriff unter den ArbeiterInnen verbreitet, formieren sich Hunderte zu einem Protestzug. Die Autos stauen sich, einige demolieren in ihrer Wut Müllcontainer, errichten Barrikaden und traktieren durchfahrende Fahrzeuge mit Stöcken und Steinen. Die Polizei rückt an und versucht, die Situation mit Warnschüssen und Tränengas zu beruhigen. Die Protestierenden ziehen sich zurück, später stossen sie auf eine Gruppe EinwohnerInnen von Rosarno, die sich mittlerweile formiert hat und mit Eisenstangen, Benzinkanistern, teilweise auch mit Pistolen und Jagdgewehren bewaffnet ist. Es kommt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Spät in der Nacht gelingt es der Polizei, die beiden Lager voneinander zu trennen, für einige Stunden beruhigt sich die Lage. In den Tagen darauf machen Gruppen Einheimischer Jagd auf Menschen mit dunkler Hautfarbe. Sie stellen Fallen an Wegen und Strassen auf, schlagen mit Knüppeln und Eisenstangen auf die Menschen ein, schiessen mit Jagdmunition aus Autos. Insgesamt kommt es zu über siebzig Verletzten, Hunderte Personen flüchten aus Angst vor Gewalt in andere Landesteile.


Im Nachgang der Ereignisse von 2010 ist SOS Rosarno gegründet worden. «Wir waren weniger von einer Idee angetrieben als von einer Notwendigkeit», sagt Quaranta, der die Kooperative mitaufgebaut hat. Die Organisation soll die «Schwachen mit den Schwachen verbünden»: KleinbäuerInnen und ArbeiterInnen. Im Moment sind sie rund fünfzehn Personen, mit gleichem Mitspracherecht bei Geschäftsentscheiden. Die Gruppe verkauft ihre Produkte nicht über den freien Markt, sondern an solidarische Konsumvereine. Dadurch wird der Zwischenhandel umgangen, die Preise werden gemeinsam mit den KonsumentInnen festgelegt, und die Kooperative kann den ArbeiterInnen einen höheren Lohn zahlen. Und weil sie nicht nur Zitrusfrüchte anbaut, sondern auch Oliven und Gemüse, gibt es das ganze Jahr über Arbeit.

Am Strassenrand blühen Oleander violett, weiss und rosarot. Am Ende der Strasse steht eine Polizeistreife im Schatten eines alten Fabrikgebäudes, sie steht immer hier, gelangweilt und häufig etwas fehl am Platz, die Fenster heruntergekurbelt. Aus dem Auto lugen zwei Carabinieri, Sonnenbrille, blaues Hemd, ihre Arme hängen zum Fenster heraus. Es ist ein stiller Kampf gegen die Mittagshitze.

Das Polizeiauto ist das einzige Auto auf der Strasse. Draussen fahren die Leute auf alten Velos herum oder gehen geduckt am Strassenrand. Das Ghetto steht in der alten Industriezone von San Ferdinando, die eigentlich auch die neue ist. Vor einigen Jahren hat die Regierung das Gebiet zur «Free Economic Zone» erklärt, hier sollte ein Logistikzentrum entstehen. Der Hafen von Gioia Tauro, der zweitwichtigste Güterumschlagplatz im Mittelmeerraum, ist nur wenige Kilometer entfernt.

Doch anstelle des Logistikzentrums stehen blaue Zelte aufgereiht. Es ist bereits das dritte Zeltdorf, das vom Innenministerium «aus humanitären Gründen» erbaut wurde. Das erste war als «Notfallmassnahme» konzipiert, man wollte die Lage kontrollieren, nachdem Hunderte in der Region wohnhafte LandarbeiterInnen in den Norden des Landes geflüchtet waren. Inzwischen sind sieben Jahre vergangen, doch so ganz unter Kontrolle hat die Regierung die Sache bis heute nicht. Dort, wo früher das erste Zeltdorf stand, befinden sich nun selbstgebaute Hütten, zusammengeschustert aus Holz, Blech und Plastik. Das erste Zeltdorf ist längst verlottert, die undichten Zelte wurden von den BewohnerInnen nach und nach durch die Hütten ersetzt. Bis heute leben Hunderte Menschen hier im «alten Zeltdorf», ohne Strom und fliessendes Wasser. Im neuen Dorf mit den blauen Zelten gibt es nicht genug Platz, und ausserdem kommt da nur rein, wer Papiere hat.


San Ferdinando, 10. Juli 2018: Matteo Salvini auf Stippvisite. Umgeben von BeamtInnen, Dutzenden von PolizistInnen und einer Schar von Kameras und Mikrofonen, marschiert er Richtung Camp. Sein weisses Hemd hat Salvini bis zum Brustbein aufgeknöpft, die Augen gegen die Mittagssonne zu Schlitzen verengt. Der Tross gräbt sich langsam durch die Schaulustigen und Protestierenden am Strassenrand. Einige jubeln Salvini zu, andere halten USB-Fahnen hoch. Eine Gruppe in roten T-Shirts, der auch Nino Quaranta angehört, ruft: «Restiamo umani!» (Bleiben wir menschlich). Salvini beachtet sie nicht, später postet er eine Nahaufnahme der Gruppe auf seinem Facebook-Account. In Hunderten Kommentaren werden die Mitglieder der Gruppe als «Gutmenschen» verhöhnt.


Maxwell Dylane, Camouflagemütze und Kinnbart, empfängt mit einem kumpelhaften Handschlag und prüfendem Blick. Dylane stellt sich als «Gewerkschaftsdelegierter» vor, er war zusammen mit Soumaila Sacko bei der USB aktiv. Dylane wohnt seit letztem Herbst im Camp. Nachdem sein Asylgesuch abgelehnt worden war, kam er zum Arbeiten hierher. Immer morgens um sieben Uhr stellte er sich vorne an den Strassenrand und wartete, bis ihn ein Auto mitnahm und auf eine Plantage brachte. «Für den Transport bezahlst du fünf Euro», erzählt er. «Das ist eigentlich illegal. Aber die Polizei macht nichts. Die Polizisten sitzen immer dort drüben in ihrem Wagen und schauen zu.»

Im Verlauf der Saison gelang es Dylane, sich bei einem Kiwibauern direkt anstellen zu lassen. So musste er keine Transportkosten mehr bezahlen, dafür fuhr er täglich zwei Stunden Velo. Der Kiwibauer bezahlte ihn immer noch pro Kiste und weit unter dem Mindestlohn. Doch wenigstens sei Dylane «anständig» behandelt worden: «Wenn ich eine Pause brauchte, sagte er: ‹Ruh dich aus.› Wenn ich Wasser brauchte, gab er mir Wasser. Es gibt hier Bauern, die behandeln dich wie einen Sklaven. Wenn du sagst: ‹Warum darf der Italiener dort drüben Pause machen und ich nicht?›, sagen sie: ‹Das ist nicht das Gleiche.›»

Jetzt gibt es kaum noch Arbeit. Viele sind weitergezogen, zur Tomatenernte nach Apulien oder ins Piemont. Dylane blieb mit den Verletzten und Müden zurück, weil er für die Erneuerung seiner Papiere einen festen Wohnsitz braucht. Als Saisonarbeiter sollte er in dieser Jahreszeit Ersatzzahlungen erhalten. Doch da er keinen regulären Vertrag hatte, bekommt er nichts. Stattdessen finanziert er sich mit Geld, das ihm Bekannte aus Côte d’Ivoire schicken. Es sind fünf Euro am Tag.


San Ferdinando, 27. Januar 2018: Es ist mitten in der Nacht, doch draussen ist es taghell. Maxwell Dylane wird von seinem Zeltnachbarn geweckt. Er springt auf und stürzt aus dem Zelt. Das alte Ghetto brennt. Reflexartig rennt Dylane rüber zu den Flammen, entreisst dem Feuer Gepäckstücke und Gasflaschen. Für Becky Moses, eine 26-jährige Frau, kommt jede Hilfe zu spät. Sie stirbt in einer Hütte, die sie vor nur drei Tagen bezog. Zwei weitere Frauen erleiden schwere Verbrennungen. Das Feuer, heisst es später, habe sich ausgehend von einem Kohlebecken entwickelt, das die Leute hier zum Waschen, Kochen und Heizen brauchten.


Der festgetretene Lehmboden im alten Camp stiebt bei jedem Schritt. Wenn es regnet, sagt Dylane, entwickelten sich Schlammpfützen. Auf einer weissen Baracke steht in krakeliger Schrift «Christian Church», in der Hütte daneben befindet sich ein Lebensmittelstand, der Händler verkauft Brot, Reis und Süssgetränke. Das alte Ghetto wird von den BewohnerInnen komplett selbstverwaltet: Es gibt eine Metzgerei, eine Bar, einen Coiffeur. Und es gibt Leute, die Baracken bauen, um sie zu vermieten.

«Um die Organisation zu erleichtern, sind wir in Sprachgruppen unterteilt», erklärt Dylane. Wird eine Gewerkschaftsvollversammlung einberufen, geht die Nachricht in mehreren Sprachen per Whatsapp oder Facebook herum, zusätzlich versucht man, spontan Leute zur Teilnahme zu motivieren. Die Versammlungen finden auf dem Vorplatz der Moschee statt, gleich nach dem Abendgebet, denn dann sind die meisten Menschen beisammen. «Es ist schwierig, immer genug Leute für die Sitzungen zu mobilisieren. Bei den Demonstrationen ist es einfacher. Wenn eine Kundgebung ansteht, fahren mehrere Reisecars vor, und die Leute steigen ein.»

Dylane führt auf einem engen Pfad zwischen den Hütten hindurch auf eine Art Innenhof. Er setzt sich auf einen Plastikstuhl und weist dem Besucher den Platz auf einer Matratze zu. Drumherum stehen angeschwärzte Holzgerüste, sie deuten die Form von Hütten an. Es sind die Stangen der Behausungen, die im Winter gebrannt haben. «Wenn wir mit den Behörden verhandeln, versuchen wir, immer von einer Win-win-Situation zu sprechen», sagt Dylane. «Würde das Arbeitsgesetz eingehalten, verdienten wir genug Geld, um Miete und Steuern zu bezahlen. Das wäre auch gut für den Staat. Momentan ist es ja so, dass der Staat für uns Geld ausgeben muss.»

Nach dem Tod von Soumaila Sacko forderte die Gewerkschaft ein Gespräch mit Arbeitsminister Luigi Di Maio. Vor zwei Wochen reiste eine kleine Delegation nach Rom, auch Dylane war dabei. Sie forderte bessere Arbeitskontrollen und einen «interministeriellen Tisch» zum Thema Landarbeit. Di Maio habe «aufmerksam zugehört», sagt Maxwell Dylane. Doch was zähle, seien Taten.

«Manchmal überlege ich mir schon, ob das nicht riskant ist, was wir tun.» Es könnte sein, meint Dylane, dass ihn jemand auf der Strasse erkenne und ihm etwas antue, so wie sie Sacko etwas angetan hätten. «Aber ich sage mir dann immer: Was passieren kann, kann passieren. Es ist einfach wichtig, dass wir die Leute nicht unnötig provozieren.»


Inzwischen ist es Abend geworden. Chiara Tommasello, Anthropologin und Aktivistin, fährt in einem Ford Fiesta durch Reggio Calabria, die inoffizielle Hauptstadt der Region. Aus den Lautsprechern dröhnt Radio Rock, Tommasellos Lieblingssender. Bei vielen der Häuser am Strassenrand ist nicht klar, ob sie fertig gebaut sind. Manche sind unverputzt, in einzelnen Stockwerken fehlen die Fenster. Wer Geld hat, beginnt mit dem Bau einer «Palazzina», vorzugsweise mit mehreren Wohnungen drin, für die Kinder und Enkelkinder. Geht das Geld aus, hört man auf. Unverputzte Häuser kosten keine Steuern.

Tommasello lebte ein paar Jahre in Tarragona und Rom, seit einiger Zeit ist sie zurück in Kalabrien, arbeitet in einem Bed & Breakfast, engagiert sich politisch. Im Frühling unterstützte sie den regionalen Kandidaten von Potere al Popolo, der neuen Linkspartei. Gerade ist sie mit FreundInnen dabei, ein der Mafia entrissenes Bowlingcenter zu einem sozialen Treffpunkt umzubauen. Tommasello verkörpert das typische Profil der Ortslinken: Studium in einer Grossstadt, Arbeit im lokalen Gewerbe, Engagement auf mafiavermintem Terrain.

«Weisst du», sagt Tommasello und zeigt zu den Häusern am Strassenrand, «rund vierzig Prozent dieser Wohnungen stehen leer oder werden kaum genutzt.» Der Grund dafür ist die Emigration: Es gibt kaum eine Region Italiens, aus der so viele Menschen auswandern. Sie ziehen nach Grossbritannien, Deutschland oder in die Schweiz, auf der Suche nach Arbeit. Zurück bleiben die Alten, die Kinder und diejenigen, die irgendwo Arbeit finden. Sie sitzen in ihren mehrgeschossigen Häusern, eine Wohnung wird benutzt, der Rest des Hauses steht leer, bereit für die Familie.

Tommasello parkiert ihren Wagen, steigt aus. Auf der Küstenpromenade streift ein sanfter Wind durch die Palmen. Am Strand betreibt eine Gruppe in neonfarbener Sportbekleidung Poweryoga zu überlauter Musik, von der hier oben auf der Brüstung nur der Bass übrig bleibt. Für Tommasello steht Sackos Tod nicht zuletzt für die mangelnde Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit der Region. In einer Forschungsarbeit hat sie untersucht, wie die Bevölkerung von Rosarno heute über die Ereignisse von 2010 spricht. Ihr Befund: Es gibt kaum einen gefestigten Diskurs darüber, was damals geschah. Bis heute würden die Gewaltakte und Vertreibungen als eine Art «Fehler» gelesen. Um nicht über ihre eigenen Verfehlungen zu sprechen, rückten viele das eigene Stigma in den Vordergrund.

Der Bevölkerung Süditaliens wurde lange nachgesagt, sie sei faul und rückständig. Bevor Salvini mit der Hetze gegen Minderheiten begann, waren seine Lieblingsfeinde die SüditalienerInnen. Auf den Vorwurf, Rosarno sei rassistisch, werde nun mit einem ähnlichen Abwehrreflex reagiert wie auf die Behauptung, Rosarno sei faul. Nachdem die Ereignisse von 2010 europaweit für Schlagzeilen gesorgt hatten, wurden in Rosarno Demonstrationen organisiert, um die «Ehre der Region» zu retten. Mehrere Tausend Personen zogen durch die Stadt und protestierten gegen das schlechte Image.

«Das Bittere ist», sagt Tommasello, «dass bei den vergangenen Parlamentswahlen auch viele hier im Süden Salvinis Lega gewählt haben.» In Kalabrien, wo es die Lega bis vor kurzem gar nicht gab, haben sich Wahlkomitees gebildet, sie nennen sich «Noi con Salvini». Es sei ziemlich offensichtlich, dass die Mafia diese Komitees unterstütze. Es sei kein Zufall, dass Salvini nirgendwo in Kalabrien so viele Stimmen holte wie in Rosarno. «Die Mafia und Teile der lokalen Elite sind historisch mit der Rechten verbandelt.» Bei aufstrebenden Parteien wie der Lega sei es am einfachsten, Einfluss zu nehmen. «Wenn die Mafia Salvini unterstützt», meint Tommasello, «dann bedeutet dies, dass sie die Zukunft des Landes bei Salvini sieht.»

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Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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