Pop: Musikarchäologie in Anatolien

Nr. 34 –

Über der Steinberggasse geht gerade die Sonne unter, da strahlt es von der Bühne her. Dort stehen Altin Gün, ihre gemusterten Hemden und golden glitzernden Tücher streuen siebziger Jahre in die Augen, und spielen ihre funkgesteuerten Folksongs. Hypnotisch wirken nicht nur die knackigen Breakbeats und die repetitiven Bassgrooves, sondern auch die hinreissenden Melodien aus der Tradition des türkischen Folk. Ob gesungen oder auf der Gitarre oder dem Saiteninstrument Saz gezupft: Wenn man den vielen kleinen Schlaufen folgt, kommt man ins Taumeln.

Wer das Konzert an den Winterthurer Musikfestwochen verpasst hat, kann sich das immer noch auf dem im Frühjahr erschienenen Debütalbum «On» anhören. Bei all dem lockeren Spielwitz vergisst man leicht, dass Altin Gün eine Konzeptband sind. Als er ein Konzert in Istanbul spielte, wurde der niederländische Bassist Jasper Verhulst angefixt von der türkischen Rockmusik. Er tat sich mit ein paar Musikern aus Amsterdam zusammen, über Facebook lernte er die Sängerin Merve Dasdemir und den Sazspieler und Sänger Erdinc Ecevit Yildiz kennen.

Die goldene Ära der türkischen Rockmusik begann Anfang der siebziger Jahre mit der Vermischung von westlicher Gitarrenmusik und lokaler Folktradition – bis der Putsch von 1980 das abrupt ausbremste. Seit einigen Jahren wird die Musik aus dieser Ära wiederentdeckt, etwa auf dem Youtube-Kanal «Anatolian Rock Revival Project», und neu interpretiert.

Auch Altin Gün sind eigentlich nur musikalische ArchäologInnen: Das Album «On» basiert grösstenteils auf Kompositionen des Folksängers Neset Ertas, dessen Stücke in der Türkei den Status von zeitlosen Standards haben. Doch Altin Gün spielen diese nicht einfach nach, sondern drehen sie mit zeitgenössischer Grooveversessenheit ins Psychedelische. Das erinnert an das, was die texanische Gruppe Khruangbin mit thailändischem Funk aus den sechziger Jahren macht. Das ist nicht so sehr retro als vielmehr: lebendige Tradition.

Altin Gün: On. Bongo Joe /Irascible. 2018