Bankenderegulierung: Die Wall Street feiert den Rollback

Nr. 35 –

Einst war sie selbst Finanzanalystin. Nach der Finanzkrise ist Alexis Goldstein zu einer scharfen Bankenkritikerin geworden. Jetzt warnt sie eindringlich vor der Rücknahme der Bankenregulierungen.

Wall-Street-Aussteigerin Alexis Goldstein: «Aus den Fehlern nichts gelernt.» Still: ourfinancialsecurity.org

Alle paar Monate wird Alexis Goldstein ins Fernsehen eingeladen. Ihre Rolle ist dabei immer die gleiche: Goldstein ist die Spielverderberin. Trumps Steuerreform? Davon profitierten vor allem die Reichen, erklärt sie bei CNN. Deregulierungen für die Wall Street? Könnten zum nächsten Crash führen, warnt sie. Je länger Goldstein spricht, desto schneller wird sie. Rast von Satz zu Satz, aber mit brutaler Präzision. Bis die anderen wieder dürfen. Sie schüttelt den Kopf, rollt mit den Augen. Und wenn gar nichts mehr hilft, wenn ihre gewöhnlich männlichen Gegenüber einfach nicht einsehen wollen, dass das Finanzsystem weder gerecht noch nachhaltig ist, dann lächelt Goldstein, wie um zu sagen: «Leute, mir könnt ihr nichts erzählen.»

Sieben Jahre lang arbeitete Goldstein an der Wall Street. Erst als Programmiererin, später als Analytikerin. Für drei verschiedene Banken. «Ich habe reiche Leute noch reicher gemacht», blickt sie zurück. Irgendwann kündigte sie, und als kurz darauf, im Herbst 2011, ein paar Hundert Menschen den Zuccotti Park in Downtown Manhattan besetzten und «Occupy Wall Street» ausriefen, befand sie sich plötzlich auf der anderen Seite: als Protestlerin gegen die Wall Street. Heute arbeitet Goldstein für eine Non-Profit-Organisation, die sich für eine Reform des Bankensektors einsetzt. Goldstein, 37 Jahre alt, hat den Aktivismus zu ihrem Beruf gemacht. Ihr Insiderwissen ist gefragt. Gerade jetzt.

Ziemlich genau zehn Jahre ist es nun her, dass die Finanzkrise ihren ersten Höhepunkt erreichte. Am 15. September 2008 meldete mit Lehman Brothers eine der grössten Investmentbanken der Welt Insolvenz an. Auf die Pleite folgte ein Börsencrash, Millionen Menschen verloren ihren Arbeitsplatz, ihr Haus, ihre Ersparnisse. Und viele US-AmerikanerInnen befürchten, dass sich all das bald wiederholen könnte.

Der Rollback rollt

Seit Donald Trump im Weissen Haus sitzt, sind die Chancen dafür, so mahnen Goldstein und zahlreiche andere ExpertInnen, gestiegen. Das liegt nicht an der erratischen Figur Trump, sondern an der Agenda seiner Regierung. Viele der Regulierungs- und Kontrollmechanismen, die nach dem grossen Crash installiert wurden, werden Schritt für Schritt wieder abgebaut. Der vorläufige Höhepunkt des Rollbacks wurde Ende Mai erreicht, als Trump die sogenannte Crapo Bill unterschrieb. Das vom Republikaner Mike Crapo eingebrachte Gesetz bedeutet insbesondere für mittelgrosse Finanzinstitute grosse Lockerungen. «Diese werden künftig seltener geprüft und zu weniger Transparenz verpflichtet sein», sagt Goldstein. Sogar das Congressional Budget Office, eine unabhängige Behörde des US-Kongresses, erklärte im Frühjahr, dass das Risiko eines erneuten Crashs und einer erneuten staatlichen Rettungsaktion durch die Crapo Bill steige. Eine Ankurbelung der bereits jetzt boomenden Wirtschaft verspricht sich die Regierung mit den Massnahmen. Kleinere Regionalbanken sollen flexibler werden, KonsumentInnen einfacher Kredite bekommen. So weit die BefürworterInnen.

Mit Hoffnung und zugleich Furcht werden nun die Wahlen eines Teils des Parlaments im November erwartet. Sollten die DemokratInnen die Mehrheit im Kongress zurückerobern, könnten die Regeln für Banken wieder verschärft werden. KandidatInnen wie die junge Hoffnungsträgerin Alexandria Ocasio-Cortez aus New York fordern eine strengere Bankenaufsicht. «Es gibt eine ganze Reihe von Politikern, die sich gegen das aktuelle System stemmen. Das macht mir Hoffnung», so Goldstein.

Behalten die RepublikanerInnen jedoch die Oberhand, drohen weitere Deregulierungen. Trump, der im Wahlkampf noch gegen die «Finanzelite» wütete und versprach, die Wall Street «nicht mit Mord davonkommen zu lassen», wird ebendort längst gefeiert.

Unerwartet ist die Diskrepanz zwischen Trumps Wahlkampfrhetorik und seiner Gesetzgebung nicht. «Überrascht zu sein, wäre naiv», sagt Goldstein. Und mit kollektiver Naivität hat sie ja Erfahrungen gemacht.

Eine Lobby gegen die Lobby

Goldstein arbeitet heute als leitende Analystin für Americans for Financial Reform, kurz AFR, einen Dachverband von über 200 Organisationen, der «die Voraussetzungen für ein starkes, stabiles und ethisches Finanzsystem» schaffen möchte, wie auf der Website erklärt wird. «Wir wollen der Wut der Leute eine Stimme verleihen», sagt Goldstein. Zu den Zielen gehört die Vernetzung der unterschiedlichen NGOs und Gruppierungen, die im ganzen Land verteilt sind. Mithilfe von Publikationen und Veranstaltungen soll über die komplexe und oft intransparente Finanzpolitik aufgeklärt werden. AFR ist eine Lobby gegen die Lobby. «Wir stehen im ständigen Kontakt mit dem Kongress», so Goldstein. Gegründet wurde die Organisation im Jahr 2009, als die Wunden der Finanzkrise noch frisch waren. Und als Goldstein selbst noch an der Wall Street arbeitete.

Dass eine wie sie dort überhaupt einmal mitwirkte, erscheint in gewisser Weise befremdlich, so deutlich spricht Alexis Goldstein heute über die «massiven Ungerechtigkeiten, die das Finanzsystem hervorbringt». Aber genau deshalb ist es auch wieder verständlich. Es wirkt so, als würde Goldstein auch etwas gutmachen wollen.

Einst, 2003, als sie Informatik an der Columbia-Universität in New York studierte, kamen Headhunter auf sie zu. Was die Talentjäger erzählten, klang spannend. Gut bezahlt war der Job, um den es ging, auch. Und weil Goldstein, wie die meisten StudentInnen in den USA, enorme Schulden angehäuft hatte, unterschrieb sie kurz darauf einen Vertrag bei Morgan Stanley, einer der grössten Banken der USA.

Mangel an Selbstreflexion

«Ich habe mich eigentlich die meiste Zeit miserabel gefühlt», sagt Goldstein. Zynisch und verbittert sei sie in diesen Jahren geworden. «Das Umfeld hat dazu geführt, dass ich jeden Menschen als Bedrohung wahrgenommen habe», schrieb sie in einem Artikel, den sie 2012 im Magazin «n + 1» veröffentlichte. Der Mangel an Selbstreflexion, das Wetteifern um Überstunden, die Ellbogenmentalität. Sie hätte früher kündigen können, zweifellos. Vielleicht sollen. «Aber das Leben war halt bequem. Ich habe gut verdient, Boni bekommen, bin mit Businessclass gereist, habe in schönen Hotels gewohnt.» Sätze wie aus einem AussteigerInnenfilm.

Im Oktober 2008 verkündete die US-Regierung ein 700 Milliarden US-Dollar schweres Rettungspaket. Mit Steuergeld wurden die Banken gestützt, die «too big to fail» waren, zu gross zum Scheitern. Es waren vor allem die hochmütigen Reaktionen ihrer KollegInnen auf diesen Bail-out, die Goldstein realisieren liessen, wie tiefgreifend die Probleme waren. «In meinem Büro wurde so getan, als würde die Öffentlichkeit das alles schnell vergessen», erinnert sie sich.

Goldstein reagierte, sie kündigte. Und die Politik reagierte auch, zumindest ansatzweise. 2010 unterzeichnete der damalige Präsident Barack Obama ein neues Gesetz zur Stabilisierung des Finanzsektors. Der sogenannte Dodd-Frank Act sollte nicht nur die US-AmerikanerInnen davor schützen, dass mit ihrem Geld in Zukunft wieder Banken gerettet werden, es wurden auch neue Kontrollbehörden gegründet und strengere Vorschriften zur Transparenz und zum Risikomanagement festgelegt. «Genau diese Regulierungen werden nun wieder gelockert», sagt Alexis Goldstein.

Bislang galten alle Banken ab einer Bilanzsumme von 50 Milliarden US-Dollar als Systemically Important Financial Institutions. Für diese global systemrelevanten Banken gelten besondere Regeln der Kontrolle, sie müssen sich auch regelmässiger einem Stresstest durch die Notenbank Federal Reserve unterziehen. Durch die Crapo Bill wurde die Schwelle jetzt auf 250 Milliarden US-Dollar hochgesetzt, womit deutlich weniger Banken streng überprüft werden. «Nehmen wir Countrywide, eine Bank, die zum Zeitpunkt der Finanzkrise eine Bilanz unter 250 Milliarden hatte und trotzdem riesigen Schaden verursacht hat», sagt Goldstein. «Solche Banken werden ab sofort wie kleine Regionalbanken behandelt.» Auch ausländische Finanzinstitutionen wie die Deutsche Bank und die Schweizer Grossbanken profitieren vom neuen Gesetz, weil die Grösse ihrer US-Sitze unter der Schwelle liegt.

Eine weitere Änderung: Um Diskriminierungen bei der Kreditvergabe zu verhindern, mussten Banken die Kontrollbehörden bislang mit Details über die einzelnen KreditnehmerInnen versorgen. «So sollte verhindert werden, dass eine Latinofamilie einen schlechteren Kredit bekommt als eine weisse Familie, obwohl sie über das gleiche Kreditrating verfügt», sagt Goldstein. Diese Vorschrift wurde nun gelockert.

Auch jenseits der Crapo Bill werden die Deregulierungen des Finanzsystems vorangetrieben. Erst vor wenigen Wochen präsentierte die Federal Reserve einen Vorschlag für eine Reform der sogenannten Volcker Rule. Die nach dem ehemaligen Notenbankchef Paul Volcker benannte Regel, die zu den Kernpunkten des Dodd-Frank Act gehörte, untersagt insbesondere kleinen Banken Spekulationsgeschäfte mit KundInneneinlagen. Sollte die Volcker Rule tatsächlich so reformiert werden wie nun vorgeschlagen, hätten diese Banken mehr Freiheit zum Risiko.

Zu den Errungenschaften des Dodd-Frank Act zählte auch die Einrichtung einer neuen Behörde zum Schutz der KonsumentInnen. Das Consumer Financial Protection Bureau (CFPB) wird unter der neuen US-Regierung nun stufenweise demontiert. Eine der wichtigsten Unterbehörden des CFPB, das Büro für junge Konsumenten und Studentinnen, wurde vom neuen Chef und Trump-Vertrauten Mick Mulvaney massiv zurückgestutzt.

«Landminen» im Gesetz

Zu den prominentesten Figuren im Kampf gegen Lockerungen für die Wall Street zählt Senatorin Elizabeth Warren, die als nächste Präsidentschaftskandidatin der DemokratInnen gehandelt wird. Auf die Folgen der Crapo Bill bezogen, sagte Warren neulich: «In den Details dieses Gesetzes liegen Landminen für amerikanische Familien versteckt. Washington hat sich komplett von den wirklichen Problemen der Leute abgekoppelt.» Was es nicht einfacher macht: Neben den 51 RepublikanerInnen stimmten auch 16 ihrer ParteikollegInnen im Senat für die Crapo Bill. Trump bedankte sich bei den «grossartigen Demokraten», die ihn unterstützten. «Viele haben aus den Fehlern nicht gelernt», sagt wiederum Goldstein.

Bei einer Konferenz im Juli mit dem Titel «Regulating Wall Street – 10 Years Later» erinnerte sich Senatorin Warren an die Zeit vor dem Crash 2008. «Es sah so aus, als würde es der Wirtschaft grossartig gehen. Deshalb wurden die Lobbyisten immer übermütiger.»

Und heute? Die Stimmung an der Wall Street sei unverändert, sagt Goldstein. Wenn sie mit ExkollegInnen spricht, hört sie kaum Besorgnis. «Die sind ziemlich selbstbewusst. Aber das waren sie vor 2008 ja auch.»