Antikommunismus: Um uns und unter uns

Nr. 36 –

Die Ära des Kalten Krieges war in der Schweiz geprägt von einer antikommunistischen Hysterie. Nur in diesem Kontext lässt sich die Geheimarmee P-26 richtig interpretieren.

«Da wir keine Kriegshelden waren, wollten wir nun wenigstens die Helden des Kalten Krieges sein» (Friedrich Dürrenmatt). Foto: Friedel Ammann, Schweizerisches Sozialarchiv, F 5055-Fd-037

Im Juni 1948, im Übergang zwischen Nachkriegszeit und Kaltem Krieg, äusserte der Literaturprofessor Karl Schmid in einer viel beachteten Rede Zweifel, die in den kommenden zwei Jahrzehnten kaum mehr zu hören waren. Anlässlich einer Feier zum 100. Geburtstag des Bundesstaats an der ETH Zürich sagte er zur behaupteten Neutralität der Schweiz im Zweiten Weltkrieg: «Dass wir der Welt und Europa und den Völkern um uns herum damit mehr nützten, als wenn wir den Krieg gesucht hätten, davon ist die Mehrzahl von uns überzeugt. Ob diese geschichtliche Rechtfertigung auch eine Rechtfertigung unserer Gewissen ist, ob die politisch richtige Haltung auch die sittlich höchste ist – diese Frage bleibt sicher offen. Dass wir mit dieser klugen und äusserlich vielleicht einzig richtigen Haltung auch materiell am besten gefahren sind – das muss uns anständigerweise immer wieder misstrauisch machen.»

Die Rede erscheint auch als Distanzierung von eigenen Aussagen vor dem Zweiten Weltkrieg. Im Januar 1939 hatte der Schiller-Kenner Schmid an einer FDP-Veranstaltung über «unseren Tell» gesagt: «Uns ist es wichtiger, dass er von den Bergen herniedersteigt mit genagelten Sohlen, als dass er die Sprache der Menschenrechte spricht.» Es war nicht zuletzt diese Priorisierung nationaler Identität und nationaler Interessen gegenüber universellen Werten gewesen, die zur verhängnisvollen Flüchtlingspolitik und rücksichtslosen Geschäftemacherei geführt hatte. Liberale Bürgerliche wie Schmid hatten deswegen ein schlechtes Gewissen. Aber bevor sich dieses läutern konnte, bot der Kalte Krieg die Chance, es im Geist des Antikommunismus zu betäuben.

Kriegsgewinner? Kriegsgewinnler!

Ein differenzierter Denker wie Karl Schmid brauchte dazu ein besonders starkes Betäubungsmittel. Er fand es in der Vorstellung des «totalen Kriegs», in dem sich «alle, auch die Neutralen» befänden. Was dies bedeutete, erklärte er in einer Schrift, die 1960 ein grosses Echo fand: «Der totale Krieg verlangt ein totales militärisches Denken. Total ist es, indem es keine der aussermilitärischen Fronten auslässt, weder die wirtschaftliche noch die psychologische.» Letztere war umso wichtiger, als die «Entscheidung von Moskau aus auf der psychologischen Front gesucht» werde. Deshalb bedürfe die «Nation der Aufrüttelung aus der Narkose», damit sie «trotz so langer Gewöhnung an den Frieden dennoch lieber im Krieg unterginge als in Sklaverei verdürbe». Das Seelische, zu dem das Gewissen gehört, kommt auch im Titel der Schrift vor: «Psychologische Aspekte des totalen Kriegs».

Einer, der am beharrlichsten auf den unbewussten Zusammenhang zwischen schwachem Verhalten im Zweiten Weltkrieg und starkem Gehabe im Kalten Krieg aufmerksam machte, war Friedrich Dürrenmatt. Unter dem Titel «Zur Dramaturgie der Schweiz» schrieb er 1968: «Unser übertriebener Antikommunismus (…) ist emotional.» Er erklärte das damit, dass wir «unsere politische Gerissenheit mit einer moralischen Einbusse bezahlen» mussten. «Wir standen in der heldischen Welt der Kriegsgewinner plötzlich als Kriegsgewinnler da.» Der Dramatiker schloss: «Da wir keine Kriegshelden waren, wollten wir nun wenigstens die Helden des Kalten Krieges sein.»

Auch deshalb war, wie der Historiker Thomas Buomberger in seinem Buch «Die Schweiz im Kalten Krieg» (2017) beobachtet, «der Antikommunismus dort am stärksten, wo die kommunistische Bedrohung am geringsten war».

Die Zivilpropaganda

Die Speerspitze des helvetischen Antikommunismus bildeten allerdings nicht Bürgerliche wie Karl Schmid, die ein schlechtes Gewissen hatten, sondern jene mit einer besonders üblen Vergangenheit. Zu diesen gehörte der katholisch-konservative Ludwig von Moos, der in den dreissiger Jahren als Mitarbeiter und Redaktor des «Obwaldner Volksfreunds» zahlreiche judenfeindliche und den rechtsextremen Frontisten freundlich gesinnte Beiträge veröffentlicht hatte. Als späterer Bundesrat und Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements trieb er das Zivilverteidigungsbuch voran.

Dieser «Ratgeber», vom Bundesrat Ende 1969 in einer Auflage von 2,6 Millionen in alle Haushalte verteilt, ging einen wichtigen Schritt über Karl Schmids «totalen Krieg» hinaus, indem er den inneren mit dem äusseren Feind gleichsetzte. Im Kapitel «Die zweite Form des Krieges» werden streikende Gewerkschafter, «ausländische Arbeitskräfte», Förderer des «sozialen Wohnbaus» auf Kosten der «Wehrausgaben» sowie pazifistische Geistliche gleichermassen als Fünfte Kolonne des Ostens denunziert. Um die Gefährlichkeit der Linken, insbesondere der friedensbewegten, zu unterstreichen, wird betont, wie gegenwärtig diese zweite Form des Krieges sei: «Solches geschieht täglich um uns und unter uns.»

Das Zivilverteidigungsbuch provozierte einen riesigen Wirbel. Weil die Präsidenten des Schweizer Schriftstellervereins an dessen Produktion beteiligt gewesen waren, kam es zum Austritt von Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt sowie anderer literarischer Grössen. Ein Teil der KritikerInnen gründete kurz darauf die Gruppe Olten.

P-26 als Fortsetzung

Während die Vergangenheit des verantwortlichen Bundespräsidenten von Moos öffentlich thematisiert wurde, ging die des Hauptautors Albert Bachmann unter. Der feurige Antikommunist war, wie Thomas Buomberger schreibt, einst ein «glühender Stalinist» gewesen. Nach dem Krieg hatte er die Mitglieder der PdA-nahen Freien Jugend geschult und als Kader auch in Moskau geweilt. Doch 1948 konvertierte Bachmann vom linken zum rechten Totalitarismus. 1958 bezeugte er seine neue Gesinnung mit dem antidemokratischen «Soldatenbuch», das an alle Armeeangehörigen verteilt wurde. Kurz darauf beförderte man ihn zum Obersten.

1976 wurde Albert Bachmann Chef des «Spezialdienstes». Seine Aufgabe war es, eine geheime «Widerstandsorganisation» aufzubauen. Daraus entstand später die P-26. Dass Bachmann als geistiger Vater die P-26 im Sinne des Zivilverteidigungsbuchs geprägt hat, zeigen ihre gegen die Linke gerichteten Szenarien «innerer Umsturz» sowie «Unterwanderung und/oder dergleichen». Solche Begriffe kommen bereits im Machwerk von 1969 vor und werden in den Siebzigern und Achtzigern gegen die Neue Linke verwendet.

In der schweigenden Kalten-Kriegs-Mehrheit, die noch 1977 und 1984 die Einführung eines Zivildienstes ablehnte, hat eine solche Sprache sehr wohl verfangen. Zwischen 1970 und 1990 wurden über 10 000 Militärdienstverweigerer eingesperrt, viele Linke erhielten ein Berufsverbot. Dürrenmatt hat im Erscheinungsjahr des Zivilverteidigungsbuchs die Repression gegen Andersdenkende auf folgende Kurzformel gebracht: «Die Taktik der Geistigen Landesverteidigung besteht darin, die Freiheit des Schweizers der Unabhängigkeit der Schweiz zu opfern.»

Nirgends ein Angriffsplan

In seinem jüngst publizierten Buch über «Widerstandsvorbereitungen» kritisiert der Historiker Titus J. Meier zu Recht, die Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK EMD) habe die Rolle Bachmanns für die P-26 unterschätzt. Allerdings blendet der Autor den demokratie- und linkenfeindlichen Gehalt von dessen Zivilverteidigungsbuch völlig aus. Wer die P-26 verharmlost, verharmlost auch das Zivilverteidigungsbuch – und umgekehrt.

Die Menschenrechtsverletzungen an Militärdienstverweigerern in den siebziger und achtziger Jahren waren umso skandalöser, als wir heute wissen, dass es keinen einzigen Angriffsplan des Warschauer Paktes auf die Schweiz gegeben hat.

In ihrem 672-seitigen Buch «Alle roten Pfeile kamen aus Osten – zu Recht?» schreiben die beiden Militärhistoriker Hans Rudolf Fuhrer und Matthias Wild: «Erstaunlich ist, dass die in der Bevölkerung latent vorhandene drohende Kriegsgefahr und die ständige Bedrohung durch den aggressiven und waffenstarrenden Osten vom Nachrichtendienst nicht geteilt worden ist.» Der Warschauer Pakt war tatsächlich aggressiv und waffenstarrend, aber nicht gegen Länder ausserhalb des eigenen Machtbereichs, sondern gegen die BürgerInnen und Völker innerhalb desselben. Ein einziges Mal nur überschritt die Sowjetunion Ende 1979 mit der Invasion Afghanistans ihren Machtbereich in kriegerischer Absicht.

Der Kommunismus war keine Gefahr für die Freiheit der Schweiz. Aber der Antikommunismus war eine Gefahr für die Freiheit der Schweizerinnen und Schweizer.

Josef Lang ist Historiker und war von 2003 bis 2011 Mitglied der grünen Fraktion im Nationalrat. Das Soldatenbuch erhielt er in der Rekrutenschule persönlich ausgehändigt.