Chemnitz: Gerüchte, Paranoia, Menschenjagd

Nr. 36 –

Am Montag prägten in Chemnitz endlich wieder antirassistische Aktivitäten die Öffentlichkeit. Die hässlichen Bilder aus den Tagen davor werden dennoch haften bleiben. Für viele nicht bloss ein Imageproblem: MigrantInnen und AktivistInnen werden auch dann noch in Chemnitz leben, wenn die trügerische Ruhe dorthin zurückkehrt.

Antifa-Punk aus dem Osten vor 65 000 Menschen: Feine Sahne Fischfilet am Montag am «Wir sind mehr»-Festival in Chemnitz.

«Es schmerzt, das mit ansehen zu müssen», sagt Holger Siegel. Dabei verzieht er das Gesicht, es sieht aus, als würde es ihm tatsächlich wehtun, ganz physisch. Der Fünfzigjährige sitzt in einem Café am Chemnitzer Marktplatz, das französische Küche zu für Chemnitzer Verhältnisse gesalzenen Preisen anbietet, und rührt in seinem Milchkaffee.

Siegel ist gebürtiger Chemnitzer, und er liebe seine Stadt, sagt er. Einerseits. Andererseits sind da all diese Dinge passiert in den letzten Tagen, die ihn das Gesicht verziehen lassen, als hätte er Zahnschmerzen. Tausende rechtsextreme Hooligans und Neonazis, die durch die Strassen der Stadt zogen. Und: nicht wenige anscheinend durchschnittliche ChemnitzerInnen, die sich ihnen anschlossen.

Ausgangspunkt war das Tötungsdelikt am 35-jährigen Familienvater Daniel H. am 2. September. Und das Gerücht, die mutmasslichen Täter aus dem Irak und aus Syrien hätten zuvor eine Frau belästigt. Es folgten Demonstrationen und auf Video dokumentierte Szenen, in denen kleine Gruppen Jagd auf Menschen machten, die ihnen nicht «deutsch» genug aussahen. Am nächsten Tag gelang es den Rechtsextremen, über 6000 Menschen auf die Strasse zu bringen. Die Polizei, mit nicht einmal 600 BeamtInnen vor Ort, hatte die Situation nicht unter Kontrolle, erneut wurden Menschen von den Rechtsextremen gejagt und verletzt.

Die «Mob Protests» von Chemnitz schafften es in den folgenden Tagen bis aufs Titelblatt der «New York Times». Siegel nimmt das mit Galgenhumor: «Jetzt kennt man Chemnitz endlich in der ganzen Welt», sagt er und lacht bitter.

Stille SympathisantInnen

Siegel, der als Maschinenbauingenieur für einen in München beheimateten grossen Konzern arbeitet, hat in seinem Leben ein paar Jahre in Westdeutschland gelebt. Aber er ist nach Chemnitz zurückgekommen, weil er die Stadt mag, oder besser: weil er mag, wie sie sich in den letzten Jahren entwickelt hat. Beruflich ist er viel unterwegs, oft tagelang, und wenn er jeweils heimkommt, geht er spazieren durch die unterschiedlichen Chemnitzer Stadtviertel. «Da sieht man die Stadt ein bisschen wie von aussen», sagt er, «und ich denke dann, dass es hier doch viel Schönes zu entdecken gibt, dass sich viel getan hat in den letzten Jahren.» Neue Kneipen werden eröffnet, leer stehende Häuser mit Kulturprojekten bespielt; es wird gebaut in Chemnitz und umgestaltet.

Aus Siegels Sicht gibt es für diese Entwicklung vor allem einen Grund: Chemnitz, das zwischen 1989 und 2009 fast ein Viertel seiner EinwohnerInnen verlor, wächst seit einigen Jahren wieder. Das liegt auch an der Migration: Der AusländerInnenanteil ist in den letzten Jahren gestiegen, aktuell liegt er bei rund acht Prozent, wobei nur ein sehr kleiner Teil dieser rund 20 000 Personen Flüchtlinge sind. «Das ist sehr positiv für die Stadt», sagt Siegel, «es ist doch toll, wenn in einem Geschäft, das seit Jahren leer steht und verfällt, ein arabisches Restaurant aufmacht, zum Beispiel.»

Das sehen in Chemnitz aber nicht alle so. Seit 2014 sitzt die rechte «Bürgerbewegung Pro Chemnitz» im Stadtrat. Ihr Kopf, Martin Kohlmann, ist schon viel länger politisch aktiv, früher hetzte er als Mitglied der Republikaner gegen MigrantInnen. Und es gibt in Chemnitz bereits seit den neunziger Jahren eine rechtsextreme Hooliganszene, die klein ist, aber gut vernetzt, auch mit Neonazis im Rest von Sachsen und darüber hinaus. «Das Problem besteht seit Jahren, und der Freistaat Sachsen tut viel zu wenig dagegen», sagt Siegel, der von sich selbst sagt, er sei ein «eigentlich unpolitischer Mensch».

Der harte rechtsextreme Kern in Chemnitz, das ist das eine. Das andere, das ist die Frage, wie viele stille SympathisantInnen diese Menschen in Chemnitz haben. Bei den rechtsextremen Demonstrationen in den vergangenen Tagen war immer auch ein guter Teil Menschen dabei, die sehr viel Wert auf die Feststellung legen, «keine Nazis» zu sein. Und die trotzdem weder eingreifen noch gehen, wenn ein Demonstrant neben ihnen den Hitlergruss zeigt.

Gerüchte wie ein Virus

«Wenn man sich in Chemnitz gegen Rechts engagiert, dann wird man von vielen schief angeschaut, das ist einfach so», sagt Marion Köster. Die 33-Jährige studiert an der Technischen Universität Chemnitz, ist dort hochschulpolitisch aktiv. Eigentlich heisst sie anders, in Chemnitz ist sie unter ihrem richtigen Namen für ihr Engagement bekannt, aber da sie damit nicht nur gute Erfahrungen gemacht hat, will sie den lieber nicht in der Zeitung lesen.

Köster erzählt, dass es in Chemnitz viele Gerüchte gibt, Gerüchte, denen viele glaubten und für deren Widerlegung man sehr viel Ausdauer und Hartnäckigkeit brauche. Zum Beispiel das Gerücht, dass der Stadthallenpark wegen der Flüchtlinge zu einem gefährlichen Ort geworden sei, «schlimmer als in Berlin», erzähle man sich. «Es stimmt einfach nicht. Ich zum Beispiel fühle mich nie unsicher, wenn ich abends da durchgehe», sagt Köster. Aber die Gerüchte hielten sich.

Der Stadthallenpark liegt mitten im Zentrum, er ist sehr klein, und er ist meistens ziemlich leer. Er wird am Abend tatsächlich viel von Flüchtlingen aufgesucht, die in Chemnitz zum grossen Teil dezentral in Wohnungen untergebracht sind, davon mehr in der Innenstadt als in den Randbezirken.

Aziz Mohammad Rafi und seine Freunde zum Beispiel treffen sich hier abends oft, immer an derselben Bank. Sie kommen aus Afghanistan, der Jüngste von ihnen ist 17, der Älteste 22 Jahre alt, manche von ihnen haben hier Arbeit, manche deutsche FreundInnen. Sie hängen hier abends zusammen herum, hören Musik und reden, teilen sich Zigaretten, was junge Menschen eben so tun.

«Vor letzter Woche war es in Chemnitz eigentlich ganz cool», sagt Rafi, ein schmächtiger Neunzehnjähriger, der immer Käppi trägt und seit mehr als drei Jahren hier lebt. Darüber gehen die Meinungen in der Gruppe etwas auseinander, manche sagen, sie hätten auch schon vorher Probleme mit Menschen gehabt, die unfreundlich gewesen seien, «nur weil wir Ausländer sind». Einig sind sie sich aber darin, dass es seit letzter Woche, seit Rechtsextreme den Tod von Daniel H. für Mobilisierungen nutzen, gar nicht mehr cool in Chemnitz ist. «Wir haben Angst, alleine auf die Strasse zu gehen», sagt Rafi.

Ein Freund von ihnen wurde am Samstag von vermummten Menschen zusammengeschlagen, sein Gesicht ist noch Tage später geschwollen, die Augen blutunterlaufen. Es war der Tag, an dem sich in Chemnitz AfD und Rechtsextreme zu einer gemeinsamen Demonstration zusammenschlossen, ein Schulterschluss, den es so unverhohlen vorher noch nicht gegeben hatte und der nun für eine neue Debatte über die Verfassungsfeindlichkeit der AfD gesorgt hat.

«Verlierer, Baby»

Montagabend allerdings, da sind Rafi und die anderen wieder besser drauf. Am Montag nämlich, da strömen Tausende Menschen durch die Chemnitzer Innenstadt, darunter Ältere und Familien mit Kindern, aber vor allem viele junge Menschen, oft eher unter zwanzig als unter dreissig.

Die Chemnitzer Band Kraftklub, in jüngster Zeit die berühmtesten Söhne der Stadt, spielt an diesem Abend, umsonst und auf einer grossen Bühne auf einem Parkplatz in der Innenstadt, und mit ihnen eine ganze Reihe anderer, befreundeter Bands wie die Toten Hosen, K. I. Z. oder Feine Sahne Fischfilet. «Wir sind mehr» lautet das Motto des Konzerts, das ein Bündnis Chemnitzer Kulturinstitutionen als Reaktion auf die rechtsextremen Demonstrationen organisiert hat.

Das Publikum füllt die gesamte Innenstadt aus: Mehr als 65 000 Menschen sind gekommen, viele von ausserhalb, aber viele auch aus Chemnitz und der näheren Umgebung.

«Ich komm aus Karl-Marx-Stadt, bin ein Verlierer, Baby», lautet der Refrain des Lieds «Karl-Marx-Stadt» von Kraftklub, das sie auch an diesem Abend spielen. Karl-Marx-Stadt, so hiess Chemnitz zu DDR-Zeiten. Sie machen sich darin ein bisschen lustig über die eigene Stadt, aber auch über die Klischees, die vielen Westdeutschen zu Sachsen nach wie vor als Erstes einfallen. Wenn Kraftklub in Berlin spielen, dann singen Hunderte Fans aus der Hauptstadt diesen Refrain aus voller Kehle mit.

Diesen humorvollen Umgang mit der eigenen Heimat, den wünscht sich Siegel auch für den Rest der Chemnitzer Bevölkerung. Aber das ist nicht so einfach: Schon vor der Wende war die Stadt hinter Dresden und Leipzig immer nur die Nummer drei in Sachsen, und das war auch damals schon nicht viel. Viele ChemnitzerInnen würden auf die Frage, woher sie denn kämen, nur in beschämtem Flüsterton antworten, sagt Siegel. «Und gleichzeitig gibt es immer dieses Gemecker über alles, was hier in der Stadt getan wird. Immer gibt es etwas auszusetzen», sagt er.

Das Gute an der Unruhe

Das Gefühl, auf der VerliererInnenseite zu stehen. Gerüchte über die Ausländer, die alles bezahlt bekämen und dann den Stadtpark unsicher machten. Ein paar gut organisierte Rechte, die ebendiese Gerüchte anheizen und gegen das Verlierergefühl den Nationalstolz setzen. Gelegentlich braucht es nicht so viel mehr, um eine Stimmung wie in Chemnitz entstehen zu lassen, in der am Ende Menschen MigrantInnen jagen und den Hitlergruss machen können – ohne dass jemand einschreiten würde. Die Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) spricht von einem Graben, der sich in den letzten Tagen in Chemnitz aufgetan habe und in dem nun vieles zu verschwinden drohe, was in den letzten Jahren entstanden sei.

Unter Marketinggesichtspunkten sind die jüngsten Ereignisse tatsächlich eine Katastrophe für Chemnitz, das gern Europäische Kulturhauptstadt 2025 geworden wäre. Vielen EinwohnerInnen missfällt es denn auch, dass es in Chemnitz dieser Tage vorbei ist mit der Ruhe. Aber Menschen wie Marion Köster oder die Jungs aus dem Stadthallenpark hatten es schon vorher nicht besonders ruhig hier. So hat es vielleicht sogar sein Gutes, wenn in Chemnitz ausnahmsweise auch die zumeist schweigende Mehrheit mal erfährt, was sich hinter der Ruhe verstecken kann.

Malene Gürgen ist Redaktorin bei der «taz» in Berlin.