«Chris the Swiss»: Der Reporter im Schützengraben

Nr. 36 –

Was suchte der Journalist Christian Würtenberg im Jugoslawienkrieg in einer rechtsextremen Brigade? Anja Kofmel spürt in ihrem fesselnden Dokumentarfilm dem Helden ihrer Kindheit nach.

Ein dokumentarischer Bastard zwischen Archiv und Fantasie: In «Chris the Swiss» wird Zeichentrick dort eingesetzt, wo über Geschehnisse nur gemutmasst werden kann. Still: First Hand Films

Sieht irgendwie völkerverbindend aus, wie die vielen Flaggen an dieser Fassade so einträchtig nebeneinander hängen: Da ist die französische, die spanische, die britische Flagge – und mittendrin das Schweizer Kreuz. Ein Haus des Friedens und der internationalen Solidarität, mitten im Jugoslawienkrieg. Oder?

Nicht wirklich. Dieses Foto aus dem Film «Chris the Swiss» zeigt etwas anderes. Hier hat eine ausländische Brigade, die auf kroatischer Seite kämpft, gerade ein serbisches Wohnhaus eingenommen. Aus der Schweiz mit dabei: der Journalist Christian Würtenberg, der für Radio 24 aus dem Krieg berichtet. Was treibt er da? Ist der junge Reporter nicht damit klargekommen, dass er im Gefecht nur Beobachter sein soll, ist er deshalb unter die Söldner gegangen? Oder hat er bloss seine Vorstellungen von journalistischer Recherche zu weit getrieben: in Uniform an der Front, und sei es im Verbund eines zwielichtigen Kampftrupps?

So richtig schlüssige Antworten auf solche Fragen findet die Regisseurin Anja Kofmel in ihrem beeindruckenden Dokumentarfilm «Chris the Swiss» auch nicht. Und sie hätte ja einigen Grund dazu gehabt, vor unbequemen Antworten zurückzuschrecken: Christian Würtenberg war ihr Cousin, ein Held ihrer Kindheit. Der coole Hund in der Verwandtschaft, den stets ein Geruch von Abenteuer umwehte. «Wenn ich gross bin, will ich genau so sein wie du», sagt ihr kindliches Ich einmal im Film.

Besser nicht. Anja Kofmel ist neun Jahre alt, als ihr Cousin im Jugoslawienkrieg getötet wird. Erwürgt in der Nähe eines Dorfes südlich von Osijek, vermutlich von den eigenen Leuten. Im Januar 1992 war das.

In die Tiefe gegraben

Anja Kofmel hat schon einmal einen Film gemacht über den Cousin, der ihre kindliche Fantasie entfacht hatte: Das war der Animationsfilm «Chrigi» (2009), sieben Minuten kurz, mit dem sie damals ihr Studium in Luzern abgeschlossen hat. Danach grub sie sich noch tiefer in die Geschichte ein. Acht Jahre zog sich die Arbeit an «Chris the Swiss» hin, und wenn der Film uns nun mit mehr Fragen zurücklässt, als er zu klären vermag, so liegt das nicht daran, dass die Regisseurin die Antworten gescheut hätte. Sondern daran, dass manches trotz hartnäckiger Recherche ungeklärt bleibt.

Hat sie nie hinschmeissen wollen? «Immer wieder», sagt sie beim Gespräch, aber ab einem gewissen Punkt sei das keine Option mehr. «Hätte ich vorher gewusst, wie viel Mut das braucht, hätte ich mich wahrscheinlich nicht getraut.»

Das Ringen mit dem Stoff sieht man «Chris the Swiss» immer noch an. Das ist ein ungeheuer dichter, fesselnder Film mit lauter offenen Nahtstellen: ein Dokumentarfilm über die Regisseurin auf ihrer Spurensuche, ein Animationsfilm, wo sie sich die Leerstellen der Geschichte ausmalen muss, dazu Archivmaterial und immer wieder Interviews mit Familie und WeggefährtInnen, die sich an Chris erinnern. Also eine Collage aus Erinnerung und Recherche, aus Wahrheit und Spekulation, ein dokumentarischer Bastard zwischen Archiv und Fantasie. Und das alles vor dem historischen Hintergrund des Jugoslawienkriegs, der ja selber schon kompliziert genug war.

Dramaturgisch ist ein solcher Film der reinste Albtraum, und so beginnt er auch: in Grau und Schwarz, mit einem gezeichneten Albtraum der kleinen Anja, die hinterm Maisfeld ihren verwegenen Cousin beim Rauchen erblickt – und plötzlich tauchen da böse Gestalten auf, monströse Schatten, die ihn jagen. Diese finsteren Motive aus einer kindlichen Traumwelt ziehen sich durch den ganzen Film, aber Kofmel setzt den Zeichentrick vor allem auch spekulativ ein: dort also, wo sie über Geschehnisse nur mutmassen kann, weil es keine Bilder davon gibt oder nicht einmal gesicherte Erkenntnisse. Etwa dann, als Christian Würtenberg in Kroatien dem Mann begegnet, der später vermutlich seinen Tod zu verantworten hat: Eduardo Rózsa-Flores, genannt Chico.

Die Regisseurin zeichnet den mutmasslichen Mörder ihres Cousins so, wie sie ihn sieht: als vierschrötige Kampfmaschine, das Feindbild ihrer Kindheit. Als man den realen Chico später in Archivvideos im Kreis seiner Soldaten sieht, erschrickt man ein zweites Mal: weil man hier auch sein Charisma sieht und begreift, wie jemand einer solchen Figur erliegen kann. Nach dem Krieg wird Chico Rózsa-Flores die Titelrolle in einem preisgekrönten Spielfilm über sein Leben spielen, doch als Anja Kofmel ihn für ihren eigenen Film befragen will, ist es zu spät: Im April 2009 wird er in Bolivien von einer Spezialeinheit der Polizei erschossen. Er soll dort ein Attentat auf Evo Morales geplant haben.

Im Krieg gibts kein Gut oder Böse

Wie Würtenberg war auch Flores als Journalist nach Jugoslawien gekommen, doch der schillernde Bolivianer stürzt sich schon bald selbst in den Krieg. Er befehligt dann eine autonome Splittergruppe der kroatischen Armee: die PIV, eine Brigade für ausländische Kämpfer. Dieser Bande schliesst sich auch Würtenberg an. Was sucht der 26-jährige Schweizer in diesem «Haufen rechtsextremer Krimineller», wie die Kriegsreporterin Heidi Rinke im Film sagt? Glaubt er allen Ernstes, dass das noch als journalistische Recherche durchgeht, für das Buch, das er angeblich schreiben will? Oder ist er nicht doch gekippt?

Aber eine Uniform hat er ja schon als Teenager getragen, auch das lässt der Film nicht unerwähnt. Chris war siebzehn, als er nach Abbruch seiner Lehre der Liebe wegen nach Namibia ging und dort eine militärische Ausbildung in einer südafrikanischen Einheit absolvierte – als Soldat des Apartheidregimes. Frage an die Cousine: So einer war doch immer schon ein verkappter Fascho? «Ja», sagt sie, und im gleichen Atemzug: «Aber ich hab seine Notizen, und ich sehe darin keinen Fascho.»

Aus diesen Notizen hören wir im Film, wie Würtenberg (gesprochen von Joel Basman) mit klarem Blick die Mikropolitik der Macht in einer Brigade erklärt: wie es der Führer eines Trupps schafft, dass noch der schwächste Soldat zum Schlächter wird. Hat er das nur so beobachtet? Oder könnte es sein, dass er damit auch sich selbst meint? Der rechtsextreme französische Söldner aus Würtenbergs Brigade klingt ja auch durchaus reflektiert, wenn er beim Interview in seiner kroatischen Stammbeiz erklärt: «Im Krieg gibt es keine Wahl zwischen Gut und Böse. Nur zwischen Böse und sehr Böse.»

Nicht alles an «Chris the Swiss» besticht in gleichem Mass. Immer wieder sehen wir die Regisseurin selbst auf Forschungsreise: wie sie ihre Zeichnungen studiert oder wie sie nach Paris fährt für ein paar Fragen an Topterrorist Carlos, der ihr weismachen will, ihr Cousin habe für den Schweizer Geheimdienst gearbeitet. Wie sie dann im Zug nach Kroatien sitzt und sich dort auf die Spuren ihres toten Cousins begibt, zusammen mit ihrem kroatischen Koproduzenten Sinisa Juricic. Man sieht ihr an, dass ihr nicht wohl ist vor der Kamera, sie habe sich selber dazu überreden müssen, sagt sie: «Ich mag das als Stilmittel überhaupt nicht. Aber ich merkte, dass ich den Stoff sonst nicht zusammenkriege.»

Der Ungeist des Nationalismus

Kein perfekter Film also. Aber dass er nur mit Mühe überhaupt einen Schweizer Verleiher finden konnte, ist ein Armutszeugnis für die hiesige Verleihbranche. Auch wenn der Krieg vor unserer Haustür, von dem «Chris the Swiss» erzählt, bald dreissig Jahre zurückliegt: Dieser Film kommt genau zur richtigen Zeit. Er spürt den Grenzen der journalistischen Ethik nach, er handelt von religiösen Fronten, die gezogen werden, und vor allem vom Ungeist des Nationalismus, der in Europa wiederkehrt.

Und vielleicht das Unheimlichste daran: Dieser Film handelt von einem jungen Mann, der als Reporter in einen fremden Krieg zog und als Soldat dort endete. Der neutrale Beobachter und der Söldner in Uniform: zwei urschweizerische Figuren, unauflösbar in einer Person verkörpert.

Ab 13. September 2018 im Kino.

«Chris the Swiss» am Animationsfilmfestival Fantoche in Baden: Do, 6. September 2018, 18.30 Uhr, Kino Trafo; So, 9. September, 14.15 Uhr, Kino Trafo (in Anwesenheit der Regisseurin).

Das Animatorium an der Leuengasse 15 in Zürich zeigt bis 29. September 2018 eine Ausstellung zum Film. Öffnungszeiten: Mi–Fr, 14–19 Uhr, Sa, 13–17 Uhr, So, 9. September 2018, 13–15 Uhr.

Chris the Swiss. Regie und Drehbuch: Anja Kofmel. Schweiz/Kroatien/Deutschland/Finnland 2018