Klima: Kann man um einen Gletscher trauern?

Nr. 36 –

Das Schmelzen der Gletscher verändert die Alpen radikal. Was bedeutet das für jene, die sich mit den Bergen verbunden fühlen? Notizen einer Wanderung mit dem Verein Klimaseniorinnen zum Urner Brunnifirn.

Unaufhörlich rieselt Sand ins Wasser, immer wieder plumpsen Steine: Die Klimaseniorinnen am Brunnifirngletscher im Oberalpstockgebiet.

Auf zum Gletscher! «Au Glacier» steht in mondänem Französisch an einem Nebengebäude des ehrwürdigen Hotels Maderanertal. Ein Pfeil weist talaufwärts. 1864, bei der Eröffnung des Hotels, das allein auf einer Waldlichtung im Urner Seitental steht, mussten die Feriengäste nur eine gute halbe Stunde wandern, um den Hüfifirn zu bestaunen, der vom Clariden weit ins Tal hinunterfloss. Die Gletscherzunge lag auf nicht einmal 1500 Meter über Meer.

Jetzt ist da nur noch ein leerer Kessel. Hellgraue Felswände, weit hinten ein hoher Wasserfall. Ein See liegt im Kessel, verdeckt von einer Felsstufe. Der Hüfifirn hat sich ausser Sichtweite zurückgezogen.

Noch selten war so deutlich zu sehen, was die Schweiz den Gletschern verdankt, wie diesen Sommer. Voralpenflüsse wie die Thur oder die Emme sind seicht, warm und schlammgrün oder sogar ganz ausgetrocknet. Die Gletscherabflüsse dagegen führen wunderbar Wasser. Auch im Maderanertal: Überall tost es. Die Bäche sind voll; wo der Brunnibach mit dem Chärstelenbach zusammenfliesst, stehen sogar Bäume im Wasser. Der Wasserfall am Ausgang des Brunnitals, das von Süden ins Maderanertal mündet, heisst Stäuber, und so sieht er auch aus. Das weisse Gletscherwasser zerstiebt im Fallen zu wilden Gebilden, in denen sich das Sonnenlicht bricht.

Die Betroffenheit überprüfen

An einem Montagmorgen sind zehn Frauen und ein Mann im Maderanertal aufgebrochen. Es ist heiss wie seit Wochen. Neun der Frauen gehören zum Verein Klimaseniorinnen. Die jüngste ist 63 und bloss Unterstützerin, um genau zu sein – Vollmitglieder können erst Frauen ab 64 werden. Begleitet werden die Seniorinnen von einem Ehepaar aus den Niederlanden, das sich bei den dortigen «Grosseltern für das Klima» engagiert.

Die Klimaseniorinnen haben eine Beschwerde bei Doris Leuthards Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) eingereicht, weil die Klimapolitik des Bundes nicht genügt, um die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen. «Gesundheit ist ein Grundrecht», sagt Pia Hollenstein, grüne St. Galler Altnationalrätin und Vorstandsmitglied des Vereins. «Weil der Bund zu wenig tut, ist unsere Gesundheit gefährdet.» Die Klimaseniorinnen berufen sich auf einen Bericht der Weltgesundheitsorganisation, laut dem ältere Frauen besonders stark von höheren Temperaturen betroffen sind – noch mehr als ältere Männer riskieren sie, während Hitzewellen zu sterben. Im Frühling 2017 hat das Uvek entschieden, nicht auf die Beschwerde einzutreten; darauf reichten die Klimaseniorinnen beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde ein. Diese ist noch hängig.

Die Klimaseniorinnen haben auch schon am Weltwirtschaftsforum in Davos eine Kundgebung organisiert, einige sind an die Klimakonferenz in Bonn und in die Arktis gereist, haben sich mit indigenen Frauen getroffen, die gegen die Pipelinefinanzierung der Credit Suisse protestieren, und sich an den Basler «Climate Games» Anfang August mit jungen AktivistInnen ausgetauscht. Nun wollen sie dorthin wandern, wo das Schmelzwasser herkommt: zum Brunnifirn, dem Gletscher zuhinterst im Brunnital an der Grenze zum Kanton Graubünden. Um ihre «Betroffenheit zu überprüfen», wie Pia Hollenstein sagt.

Ein Bagger würde passen

Ans de Haan gehört zu jenen NiederländerInnen, die die Alpen leidenschaftlich lieben. Sie lernt sogar die Namen der Blumen, die hier wachsen, Hunderte Kilometer von ihrem Wohnort entfernt. Überhaupt haben sich viele Klimaseniorinnen mit der Flora beschäftigt. Sie rufen sich Pflanzennamen zu, während sie am Dienstagmorgen das Brunnital hinaufstapfen, das noch tief im Schatten liegt. Immer dem Schmelzwasser entgegen. Das Tal wird karger; Blacken, Alpendost und Farn machen magerem Gras und Moos Platz, dann Felsblöcken, Felsplatten, Schutt und weissem Quarzsand. Hin und wieder tauchen ein paar Schafe zwischen den Steinen auf. Ganz zuhinterst, über den Wasserfällen, ist der Brunnifirn als weisser Strich zu erkennen.

Manuela Fischer ist seit dreissig Jahren Hüttenwartin der Cavardirashütte, die auf 2650 Metern über Meer beim Brunnigletscher liegt. Die Saison dauert nur zehn bis elf Wochen, von Anfang Juli bis Mitte September. «Vor dreissig Jahren war das hier oben noch eine ganz andere Landschaft», sagt Fischer. «Weiss und leuchtend – die Alpenfirne, die man in den Liedern besingt. Der Gletscher blieb bis Mitte August schneebedeckt und aperte nur für wenige Wochen im Spätsommer aus.»

1928, beim Bau der Cavardirashütte, floss der Brunnifirn noch in zwei Richtungen: weit hinunter ins Brunnital und über die Fuorcla da Cavardiras in den Kanton Graubünden. Man erreichte die Hütte über das Eis. Später führte der Weg durch steilen Fels, dem Eisrand nach zum Pass. Inzwischen ist der Eisrand weiter zurückgeschmolzen, zwischen Fels und Gletscher hat sich eine nasse, sandige Rinne geöffnet. Sie hat etwas von einer Baugrube – ein Bagger, der den Sand wegschaufelt, würde hier ganz gut hinpassen. Das zerbrochene Eis an der Rinne sieht aus wie ein gestrandeter Eisberg, Gletscherwasser strömt darunter hervor. Unaufhörlich rieselt Sand ins Wasser, immer wieder plumpsen Steine. Der Gletscher ist graublau – der Schnee ist vollständig geschmolzen – und voller Steine. Noch hängt er mit dem Gletscher am 3328 Meter hohen Oberalpstock zusammen, aber die Verbindung ist dünn geworden. Irgendwann in den nächsten Jahren wird sie schmelzen. In heissen Sommern wie diesem hat der Gletscher kein Akkumulationsgebiet mehr – keine Zone, die über der Schneegrenze liegt, in der sich mehr Eis bildet, als schmilzt. Der Brunnifirn ist verloren.

«Auf mich haben Gletscher immer eine extreme Faszination ausgeübt», sagt Hüttenwartin Manuela Fischer. «Die Eismassen, die Bewegungen, die Töne … vor dreissig Jahren floss der Gletscher noch ein Stück ins Brunnital hinunter. Dort brachen immer wieder riesige Eistürme ab. Später, vor etwa zwanzig Jahren, öffneten sich oben am Brunnipass Spalten, in denen man ganze Eisenbahnzüge hätte versenken können.»

Über den Brunnipass und ein Stück über den Gletscher führt der kürzeste Zustieg zur Cavardirashütte: vom Skigebiet Disentis her. Heute werde er weniger begangen, denn er sei anspruchsvoller geworden, sagt Fischer: «Früher reichte der Gletscher fünf Meter unter den Pass. Heute muss man fünfzig bis hundert Meter absteigen.» Noch viel dramatischer sind die Veränderungen am Oberalpstock, dem beliebtesten Tourenberg bei der Cavardirashütte, der einmal als einfach galt: «Heute kann man ihn ab Mitte August praktisch nicht mehr besteigen. Überall liegt loses Geröll, man löst Steinschläge und kleine Lawinen aus, die die Leute weiter unten gefährden.» Der Berg sei lebensgefährlich geworden, habe ihr ein Bergführer gesagt. «Auch ich selber bin nur knapp an einem schweren Unfall vorbei. Früher ging ich doch nie mit Helm in die Berge.»

Manuela Fischer ist nicht nur Hüttenwartin, sondern auch Grafikerin und Künstlerin. Anfang Juli 2013 hat sie mit HelferInnen ein 250 Meter langes und 6 Meter breites Kunststoffvlies auf dem Brunnifirn befestigt. Nach nur sechs Wochen ragte das zugedeckte Band als zwei Meter hoher Balken aus dem Gletscher. Nach dem kühlen Frühling 2013 lag auf dem Gletscher viel Schnee, und es war auch vor allem Schnee, der schmolz; der Gletscher war nicht zwei Meter dünner geworden. Trotzdem war die Installation eindrücklich – sie zeigte, wie Schnee den Gletscher schützen würde. Doch er schmilzt immer früher.

Mit VerharmloserInnen streiten

Es ist schwer, über das Klima zu sprechen. Gespräche werden schnell banal, unbeholfen oder so deprimierend, dass sie abbrechen. Und alle Beteiligten sind verstrickt, also mitschuldig. Die Klimaseniorinnen versuchen es trotzdem. Einige sind frustriert über den sorglosen Konsum der eigenen Söhne und Töchter. Einige wollen nicht mehr fliegen, ab sofort. Die Kunstmalerin Beatrix Braun, die gerade ein Jahr lang im Wald zeichnet, erzählt von der drückenden Stille an den glühend heissen Sommermorgen, wenn kein Vogel mehr singt. Kopräsidentin Rosmarie Wydler-Wälti hat gerade im «Blick-Talk» mit Klimawandelverharmloser Christian Imark (SVP) gestritten. Und die pensionierte Ingenieurin Gabi Llopart sagt: «Wenn ich mit Bekannten über das Klima rede, heisst es oft, ich missioniere. Dabei erwähne ich bloss die Fakten.»

Kann man um einen Gletscher trauern? Was ist diese Trauer, verglichen mit den lebensbedrohlichen Klimafolgen wie Dürren, Massenaussterben von Tieren und dem steigenden Meeresspiegel? Ein Luxus für Leute, die es sich leisten können, auf Berge zu steigen? Wenn Lebewesen einen Eigenwert haben, unabhängig von ihrem Nutzen für Menschen, wie ist das mit Gletschern? «Ich empfinde den Gletscher als Wesen», sagt Manuela Fischer. «Ich verbringe den Sommer in seiner Begleitung. Er ist keine tote Fläche.»

Am frühen Morgen leuchtet der Brunnifirn hellblau, fast lila. Er scheint den Himmel zu spiegeln. Ob er nun ein Wesen ist oder nicht – er hat definitiv eine Präsenz, eine Ausstrahlung. Es ist eine Freude, vor der Hütte zu stehen und zu ihm hinüberzuschauen. In ein paar Jahrzehnten wird dort nur noch eine Schutthalde sein.

Die Klimaseniorinnen warten auf die Antwort des Bundesverwaltungsgerichts.

Die Wanderung Maderanertal–Cavardirashütte–Sumvitg dauert total 13 bis 14 Stunden. Mit Übernachtungen in der Hinterbalm- und der Cavardirashütte lässt sie sich gut auf drei Tage verteilen. Auch eine Zweitagestour ist möglich, allerdings ist der Aufstieg dann sehr lang.

Zum Thurgau geschrumpft

Die Gletscher der Schweiz bedecken heute noch knapp 1000 Quadratkilometer, das entspricht etwa der Fläche des Kantons Thurgau. Mitte des 19. Jahrhunderts waren es noch 1735 Quadratkilometer, circa die Fläche des Kantons Zürich. Das Eis der Schweizer Gletscher entspricht rund sechzehnmal dem Wasservolumen des Zürichsees. Jedes Jahr schmelzen ein bis zwei Prozent des Volumens.

Im diesjährigen Hitzesommer wird es wohl mehr sein; Bilanz gezogen wird Ende September. «Wir haben zum Jahr 2018 noch keine Zahlen, nur Tendenzen», sagt Matthias Huss vom Schweizerischen Gletschermessnetz der ETH Zürich. «Bis jetzt sieht es trotz sehr starker Schmelze noch nicht ganz so schlimm aus wie 2015 und 2017, was auf den vielen Schnee im letzten Winter zurückzuführen ist.»